Kairo atmet nicht, Kairo ächzt nach Luft. Das spürt man bei jedem Schritt in dieser Stadt, deren Bevölkerung in der gesamten Metropolregion auf über 20 Millionen Menschen geschätzt wird. Genaue Zahlen gibt es nicht: Grosse Teile bestehen aus informellen Siedlungen, sei es in der Nekropolis, dem bewohnten Friedhofsbezirk, oder im Stadtteil Manshiyat Naser, auch «Garbage City» genannt, wo Arbeits- und Wohnräume in einer riesigen Mülldeponie ineinander übergehen. Daneben existiert eine andere, glänzende Seite: die prächtige Nilwasserfront und die nachts zur Höchstform auflaufende Nilinsel Zamalek, von deren Fernsehturm aus man bei Tag und guter Sicht die Pyramiden und dahinter das Tor zur Sahara erspähen kann.
Die multimediale Doppelausstellung im Architekturforum Ostschweiz, organisiert von der Kulturförderung der Stadt St.Gallen, zeigt Ägypten und seine Hauptstadt aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeitabschnitten. Zu sehen gibt es Fotografien von Beat Belser und skulpturale Arbeiten von Carina Kirsch, die beide jeweils eine sechsmonatige Residenz in Kairo absolviert haben, gefördert von der Städtekonferenz Kultur (SKK), die in Kairo ein Atelier unterhält.
Atelier in Kairo schlecht besucht
Wie Kristin Schmidt, Co-Leiterin der städtischen Kulturförderung, in ihrer Eröffnungsrede betonte, verzeichnet die SKK für die Residenzen in Kairo seit Jahren geringe Bewerbungzahlen, im Gegensatz etwa zu Genua, Belgrad oder Buenos Aires, wo das Interesse gross ist. Kairo jedoch scheint für die St.Galler Kunstszene eine Schwelle zu sein. Wer dort arbeiten will, muss bereit sein, sich auf wiederkehrende Reibung einzulassen: auf polizeiliche Kontrollen und zensurbedingte Einschränkungen sowie auf eine Bevölkerung, die aus guten Gründen Zurückhaltung gegenüber Fremden übt.
Beat Belser, der 2019 seine Residenz in Kairo absolvierte, erzählt von Begegnungen, welche die politischen Spannungen im Land, acht Jahre nach der Revolution, spürbar werden lassen: «Überall, wo ich war, wollten die Menschen sich nicht vor der Kamera zeigen – aus Angst, auf den Radar des Regimes zu geraten.»
Die Strassen von Manshiyat Naser. (Bild: Beat Belser, Kairo 2019)
Nach einer kurzen Phase der Entspannung, die auch Carina Kirsch während ihrer Residenz 2024 noch erlebte, ziehen sich die autoritären Strukturen in Ägypten mittlerweile wieder deutlich fest. Human Rights Watch berichtete im September dieses Jahres von einer neuen Welle von Verhaftungen, die sich vor allem gegen Influencer:innen richtet. Die Strafverfolgung durch die ägyptische Sittenpolizei erfolgt teils ohne rechtliche Grundlage. Unter den Inhaftierten befinden sich auch Minderjährige.
Ein Aufenthalt, der fordert und schärft
Das Atelier in Kairo ist kein stiller Rückzugsort, sondern ein Erfahrungsraum. Der Aufenthalt dort fordert und schärft zugleich den Blick für politische Realitäten und für die Fragilität künstlerischer Arbeit in repressiven Systemen. Doch gerade diese Bedingungen machen das Atelier so fruchtbar. Sie zwingen dazu, anders zu sehen, anders zu hören, anders zu gehen. Das Unterwegssein wird zur Recherche, und die Stadt selbst zur Methode. Fotografie und Feldforschung treten dabei nicht selten in Kombination auf.
In den überwiegend sozialdokumentarischen Fotografien von Beat Belser entdeckt man Leerstand und parasitäres Wohnen, aber auch Naturgewalten, etwa im Tal der Könige oder auf dem Berg Moses auf dem Sinai. Ebenso finden sich Spuren des Protests: ein Wandgemälde im öffentlichen Raum, das den wechselnden Debatten ausgesetzt ist und schliesslich ikonoklastisch ausgelöscht wird; ein anderes Mal zeigt sich das ruhige Leben ausserhalb der Stadt, in wüstenhaften Landschaften mit verstreuten Häusern und wenigen Menschen.
Belsers Fotografien sind von einer stillen Empathie getragen. Sie urteilen nicht, sie dokumentieren nicht einmal im klassischen Sinne. Vielmehr lauschen sie dem Alltag, ohne dabei Gesichter zu zeigen – zum Schutz der Portraitierten –, spiegeln sie zugleich die Anonymität der Megametropole wider.
Flanieren als Erkenntnispraxis
In den Arbeiten von Carina Kirsch verbinden sich diese visuellen Überwältigungen jedoch mit einer haptischen, fast körperlichen Erfahrung des Raumes. Ihre künstlerische Praxis entsteht durch die Feldforschung im Flanieren durch die Stadt.
Kirsch besuchte unter anderem das Handwerkerviertel Foustat im Süden Kairos. Ihre Installationen im Architekturforum Ostschweiz übersetzen diese Eindrücke in räumliche Fragmente: schmale, brüchige Tonplatten, deren fragile, raue Oberflächen an die Verletzlichkeit urbaner Existenz erinnern. Eine zweite Installation wirkt wie eine Keimzelle, vielleicht auch wie eine Voliere. Im Inneren kreuzen sich zwei versetzte Neonröhren zu einer verschobenen Form, die an ein entrücktes Kreuz und an die koptisch-christliche Geschichte Kairos erinnern mögen.
Installation Die Zerbrechlichkeit d:einer Fassade von Carina Kirsch (2025). (Bild: pd)
Erst beim genauen Hinsehen entdeckt man im Inneren der Installation zwei nebeneinanderliegende Ohren aus Wachs. Hyperrealistisch und zugleich leblos wirken sie wie ein Sinnbild des Ankommens in der Megametropole: ein Hören, das erst lernen muss, sich auf das ununterbrochene Rauschen Kairos einzulassen.
Städtische Ausstellung mit Werken von Carina Kirsch und Beat Belser: bis 7. Dezember, Architekturforum Ostschweiz, Davidstrasse 40, St.Gallen.