, 3. März 2015
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Zäher Fortschritt in einer rauhen Welt

Von Träumen, die an der Realität zerschellen, erzählt der Dok-Film Life in Progress. Er begleitet drei südafrikanische Teenager ins Erwachsenenleben. Schauplatz ist ein Township – ein rauher Ort, an dem die Jugend schnell vorbei ist. Diesen Mittwoch ist Premiere im Kinok.

«You didn’t care, you just shoot. Those were the days.» So lakonisch und brutal zugleich blickt der Südafrikaner Jerry auf die blutigen Wirren zurück, die Anfang der 90er-Jahre das Ende der Apartheid begleiteten. Heute ist Jerry Tanzlehrer in Katlehong, einem Township bei Johannesburg – und die Apartheid Geschichte. Doch noch immer prägt wirtschaftliche Ungleichheit Südafrika und läuft der Alltag weitgehend nach Hautfarben getrennt ab.

Hier spürt die Zürcher Filmemacherin Irene Loebell mit Life in Progress dem Leben von drei Teenagern in Katlehong nach, was in der Sotho-Sprache Progress bedeutet. Ein zweideutiger Filmtitel also: Denn das Leben des Mädchens Seipati und der beiden Jungs Venter und Tshidiso verläuft eher in Brüchen, Fortschritte müssen sich die Teenager hart erarbeiten.

Der Trailer zum Film:

Junge Mütter, keine Väter

Epizentrum der Geschichte ist Jerrys Tanzschule Taxido mitten im Township, eine Art soziale Institution, die die Kids von der Strasse holt. Hier trainieren Seipati, Venter und Tshidiso und geben sich ihren Träumen hin, vielleicht eine Tanzkarriere zu machen. «Viele Jugendliche, die ich getroffen habe, haben unglaublich riesige Hoffnungen in die Zukunft – und sie lernen früh, damit zu leben, dass diese Hoffnungen immer wieder zerplatzen», sagt Irene Loebell. Das Township mit seinen prekären Lebensbedingungen sei ein Ort, «an dem die Menschen schnell alt werden».

Über sechs Jahre ist Loebell immer wieder nach Katlehong gereist, wo eine halbe Million Menschen leben, und hat dabei «sicher über hundert Familien näher kennengelernt». Diesen ausführlichen Recherchen ist es wohl auch zu verdanken, dass Loebell mit ihrer Kamera sehr nahe ins Leben ihrer Akteure treten und diese auch in intimen Momenten dokumentieren darf: Etwa wenn Venter seinen Vater, den er seit über zehn Jahren nicht gesehen hat, besucht – und ihn mit seinem Schmerz konfrontiert.

Fast alle Familien im Township sind auf die eine oder andere Art zerrissen. So fehlen Venter, Seipati und Tsidisho ihre Väter: Diese arbeiten weit weg, sind gestorben oder wollen einfach nichts von ihren Kindern wissen. Das Hadern mit der Vaterlosigkeit zieht sich als roter Faden durch den Film.

Nach und nach erfährt man in kaleidoskopischen Filmschnipseln, die sich langsam zu einem grösseren Bild zusammenfügen, was die Jugendlichen sonst noch umtreibt: Venter will für ein besseres Leben an die Uni, Tsidisho beschleicht als Frauenheld irgendwann die Angst vor Aids – und Seipati wird ungewollt schwanger. Schnell wird klar: Auch dieses Kind wird wohl ohne Vater aufwachsen, denn von ihm ist weder die Rede noch ist er zu sehen. Und schon ist Seipati, die man zu Beginn als strahlendes, tanzendes Mädchen kennenlernt, eine resignierte Frau mit Baby auf dem Arm.

Freiheit auf dem Papier

Loebell porträtiert im Film die erste Generation Südafrikas, die in staatlich garantierter Freiheit aufwächst. Über die Apartheid wird im Film kaum geredet. «Im Township zählt vor allem das Hier und Jetzt, der tägliche Kampf ums Überleben. Die Apartheid ist für die Jugendlichen weit weg, sie kennen sie nur aus der Schule», sagt Loebell.

Dennoch sind die Nachwirkungen der Rassentrennung in den Bildern zu spüren: Weisse gibt es im Township nicht. Man sieht sie nur kurz im Publikum, als die Tanzgruppe einmal in einem schickeren Viertel von Johannesburg auftritt. Ein Umstand, der Loebell wohl auch Türen geöffnet hat: «Ich bin die erste weisse Person, die diese Jugendlichen näher kennengelernt haben, die sich für sie interessiert und mit ihnen Gespräche führt. Das hat ihre Neugier geweckt.»

Und dieser Dialog geht weiter: Venter und Tsidisho werden für die Filmpremieren in mehreren Schweizer Städten anreisen, sich dort an Diskussionen beteiligen und bei Schulvorstellungen Tanzworkshops abhalten. Für die beiden jungen Männer, die ausser in ihrem Heimatland bisher nur in der südafrikanischen Enklave Lesotho waren, ein riesiger Schritt – und für Zuschauer und Schüler die Chance, Fragen zu stellen, die beim Schauen des Films unweigerlich aufgeworfen werden: Etwa, wo die Protagonisten des Films, der mit einem Hoffnungsschimmer endet, jetzt im Leben stehen.

Titelbild: Seipati (links) beim Training: Vom strahlenden Mädchen zur resignierten Frau. (Bild: pd)

Premiere: Mittwoch, 4. März, 20 Uhr, Kinok St.Gallen, in Anwesenheit der Regisseurin Irene Loebell, der Protagonisten sowie dem Historiker Hans Fässler.

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