Im April 1992 starb der promovierte Winterthurer Romanist Johann Theodor «Hans» Kläui im Alter von 86 Jahren. Als seine Tochter den Nachlass sichtete, war sie geschockt. Sie fand stapelweise Zeitungsartikel und Schriften mit rassistischem und antisemitischem Inhalt. Bis dahin wusste sie praktisch nichts von seiner faschistischen Vergangenheit. Für sie war er vor allem ein guter Vater und liebender Grossvater ihrer Kinder gewesen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg war er als ein gefeierter Lokalhistoriker Verfasser von einer kaum überschaubaren Zahl von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln sowie Schriften und Büchern zu lokalhistorischen Themen, über Familien und zur Heraldik. Dafür wurde er, der sich auch für den Naturschutz engagierte, 1964 von der Stadt Winterthur mit dem Kulturpreis ausgezeichnet.
Im Pfarrhaus geboren, zum Faschisten geworden
Hans Kläuis Lebensweg beginnt 1906 im Pfarrhaus der Zürcher Gemeinde Berg am Irchel. Drei Jahre später zieht die Familie nach Flaach ZH. Hier erringt die «Nationale Front» (NF) 1934 einen Stimmenanteil von 16 Prozent, kantonsweit einzig übertroffen von Rafz (25 Prozent) und Laufen (17 Prozent), wo Wolfram Blocher, Vater von Christoph Blocher, als Pfarrer wirkt.
Zu dieser Zeit ist Hans Kläui bereits ein glühender Frontist, zuerst als Mitglied der akademisch geprägten «Neuen Front», dann ab 1933 der NF. Kläui wird NF-Ortsgruppenführer von Flaach und betätigt sich als Journalist bei der frontistischen Presse. Er schreibt ein Kampflied gegen den Bolschewismus und die Juden. Für ihn sind sie und die «Nigger» und «Mulatten» sowie die «minderwertigen Elemente» wie Erbkranke schuld an der völkischen Zersetzung der Substanz der Eidgenossenschaft. In Der Kampf um die Volksgemeinschaft (1934) fasst er die Ziele der NF so zusammen: «Die Nationale Front erstrebt die geistige und politische Erneuerung der schweizerischen Volksgemeinschaft durch nationale und soziale Politik auf schweizerischem Boden. (...) Es ist eine Erneuerung des geistigen Lebens in unserem Volk, die Hand in Hand geht mit einer politischen Neugestaltung unseres Vaterlandes.»
Frontist und «Gauführer» in St.Gallen
1938 kommt Hans Kläui nach St.Gallen, wohnt zuerst an der Vadianstrasse 21 (heute Raiffeisenbank) und später mit seiner Familie an der Gottfried-Keller-Strasse 26. Er wird Ortsgruppenleiter und ist designierter «Gauführer» für St.Gallen. Sein vordringliches Ziel ist es, die Ostschweizer Parteiorganisation der NF wachzurütteln. Er hetzt auch hier gegen die Juden, warnt vor der «Emigrantenschwemme», die St.Gallen zu einem «zweiten Tel Aviv» mache und spielt die Armut der Heimarbeiter:innen im Rheintal gegen die angeblichen Privilegien jüdischer Flüchtlinge aus.
Im Januar 1941 stehen Militärpolizisten vor Kläuis Wohnungstür. Er kommt kurz in Untersuchungshaft und bald darauf verurteilt ihn das Divisionsgericht Luzern wegen staatsgefährlicher, nationalsozialistischer Propaganda in der Armee zu 120 Tagen Haft. Aufgeben will Kläui deswegen nicht. Er publiziert weiterhin in der frontistischen Presse und kandidiert 1942 erfolglos bei den Grossratswahlen auf der Liste der St.Galler «Nationalen Opposition». 1943 zieht Kläui mit seiner Familie nach Oberwinterthur. Er stellt ein Jahr später seine rechtsextreme Publizistik ein, schwört aber seiner Gesinnung nie öffentlich ab. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt der harmlose zweite Teil seines Lebenswegs. Hans Kläuis Leben ist treffend zusammengefasst im Titel eines SRF-Podcasts von 2023: Vom tobenden Faschisten zum angesehenen Lokalhistoriker.
«Lumpensammler» und Nationaler Sozialist
Als Hans Kläui 1938 in St.Gallen mit seinem Einsatz für den Faschismus beginnt, trifft er hier eine recht aktive nazifreundliche Szene an. Einer ihrer Hauptprotagonisten ist der Altstoffhändler Mario Karrer, im Volksmund oft spöttisch «Lumpensammler Karrer» genannt.

Mario Karrer (vorne links im dunklen Hemd, in die Kamera blickend) bei einem Aufmarsch der Nationalen Front am 16.Juni 1935 in Grabs. (Bild: ETH-Archiv für Zeitgeschichte)
1907 in St.Gallen geboren, fühlt sich Karrer bereits Anfang der 1930er-Jahre mit der Frontenbewegung verbunden. 1931 tritt er einer Erneuerungsbewegung im Sinne des nationalen Sozialismus bei. Im darauffolgenden Jahr lässt er in einem Theaterstück den Chor schmettern: «Wer wider Volk / Wer wider Blut / Ist wider uns». Zwei Jahre später wird er Ortsgruppenführer der St.Galler NF. Karrer ist ein Mensch mit hohem Geltungsbedürfnis. Seine streitbare Art führt bald zu Zerwürfnissen mit den Gesinnungsgenossen. Er tritt nach kurzer Zeit aus der NF aus, tritt aber 1935 wieder in sie ein. Doch schon bald kommt es zu einem Machtgerangel und Karrer wird aus der NF ausgeschlossen. Als sich die NF 1939 selbst auflöst, ist Karrer schon bald Mitglied der noch im gleichen Jahr gegründeten «Eidgenössischen Sozialen Arbeiterpartei» (ESAP). Wiederum ein Jahr später schliesst er sich der «Nationalen Bewegung der Schweiz» (NBS) an, der neben anderen St.Gallern auch der alt-Polizeiinspektor Karl Kappeler angehört. In ihrem Parteiprogramm lehnt sich die NBS eng an dasjenige der NSDAP an.
Mit dem Verbot der NBS im November 1940 ist Karrers «Politkarriere» noch nicht zu Ende. Er gründet zwei Jahre später mit der «Nationalen Opposition» (NO) eine eigene Partei. Noch im gleichen Jahr treten er, Hans Kläui und ein weiterer Kandidat bei den Grossratswahlen an. Nach der Verteilung von rund 66’000 Flugblättern erreicht die Partei 3,3 Prozent der abgegebenen Stimmen und erringt damit für Karrer, der zwei Stimmen mehr als Kläui erhält, einen Sitz. Lange kann er sich seines Mandats nicht erfreuen, denn noch im Dezember des gleichen Jahres verbietet der Bundesrat die NO. Im Mai des nachfolgenden Jahres schliesst ihn der Grosse Rat formell aus.
Antisemit, Familienforscher und Unbeirrbarer
Mario Karrer äussert sich wiederholt in heftiger Form antisemitisch, zum Beispiel im frontistischen Hetzblatt «Eiserner Besen», und er steht jahrelang im Briefkontakt mit Institutionen in Deutschland und mit Personen mit Bezug zum Dritten Reich. Seine Denkweise wird im Vorwort zu seiner Sippenchronik Die Karrer von Obrahaimen, die er 1942 bei Zollikofer & Co. (damals Inhaber des «St.Galler Tagblatts») drucken lässt, deutlich. «Der Ruf der Erde und des Waldes», schreibt er, «die Liebe zur Scholle und zu den Tieren, dieser Grundzug der Alemannen, die Bejahung des Blutes und der Rasse sollen in dieser Rekonstruktion einer Sippenchronik zum Ausdruck kommen.»
Karrers Haltung ändert sich bis zu seinem Lebensende (1993) anscheinend nicht, denn noch im Jahre 1984 bezeichnet er sich im Gespräch mit Matthias Küng, Verfasser einer Lizenziatsarbeit über ihn, als «lebenslangen nationalen Sozialisten». Der Versuch eines Nachkommens, Mario Karrers politischen Nachlass zu vernichten, misslingt glücklicherweise. Ein weitgehend vollständiger Kopiensatz bleibt erhalten und findet schliesslich den Weg in das Archiv für Zeitgeschichte der ETH.
Quellen:
Daniel Gut: Neidkopf – Zur Naturgeschichte des Schweizer Frontisten Hans Kläui. Elfundzehn Verlag, Eglisau 2015.
Matthias Küng: Mario Karrer – Ein «Nationaler Sozialist» sucht seinen Weg. Lizenziatsarbeit Universität Bern, 7. August 1984, einsehbar im Staatsarchiv St.Gallen.
SRF: Hans Kläui – Vom tobenden Faschisten zum angesehenen Historiker. «Zeitblende»-Podcast vom 11. November 2023.
Diverse Zeitungsartikel sowie Dokumente im Staatsarchiv St.Gallen und im Archiv für Zeitgeschichte (ETH).