Zwischen Schuld und Sehnsucht

In ihrem jüngsten Roman erzählt Ruth Weber die Geschichte einer Frau zwischen Tradition, Krankheit und Aufbegehren – angesiedelt im katholisch geprägten Appenzellerland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein interessanter Roman, dem man manchmal mehr Mut zur Lücke gewünscht hätte.

Viola Poli, 1992, zeigt im Bücherherbst Abdrücke von Wildsalbeiblättern auf mit Bienenwachs getränkten Stoffen sowie Biokunststoffe aus Asche und Holzkohle. Damit möchte sie ökologische Fragen thematisieren und eine Perspektive fernab der menschlichen einnehmen.

«Ist das Le­ben ein Ge­fäng­nis?» Die­se Fra­ge steht im Zen­trum von B. und der Kö­nig. Ruth We­ber er­zählt die Ge­schich­te von Ber­ta, Toch­ter ei­ner erz­ka­tho­li­schen Fa­mi­lie, die schon früh ha­dert: mit den stren­gen, di­stan­zier­ten El­tern und der al­le Le­bens­be­rei­che durch­drin­gen­den Kir­che. Den Feh­ler sucht sie – wie es so oft ge­schieht – bei sich selbst. Sie fühlt sich nicht schön ge­nug, nicht fleis­sig ge­nug, und stets viel zu sün­dig. Un­be­schwert­heit blitzt nur sel­ten auf, zum Bei­spiel beim Ba­den mit der Schwes­ter im See­alp­see, wo Ber­ta sich von Zu­kunfts­fan­ta­sien trei­ben lässt:

«Und auf ein­mal dach­te sie, dass es nur ei­ne Fra­ge der Zeit sei, bis auch sie je­man­den ken­nen­ler­nen wür­de. Ei­nen Mann, der kei­ne ho­hen An­sprü­che ans Le­ben stell­te, ei­ner, der be­schei­den und zu­frie­den wä­re mit sei­ner Ar­beit und ei­ner Fa­mi­lie. (…) Da wä­re nichts als Zu­frie­den­heit in ihr und Mü­dig­keit, die sie abends in ei­nen tie­fen Schlaf fal­len lies­se.

Ber­ta, was träumst du. Die Schwes­ter lach­te.»

Die Bli­cke der Mut­ter und das Au­ge Got­tes

Ja, wo­von träumt sie? Da­von, Leh­re­rin zu wer­den. In die Wei­te zu zie­hen. Frei zu sein. Aber es kommt an­ders. Be­las­tet durch ih­re ei­ge­ne psy­chi­sche Ver­fas­sung und trau­ma­ti­siert von ei­ner Ver­ge­wal­ti­gung, fühlt Ber­ta im­mer­zu die prü­fen­den Bli­cke der Mut­ter und das Au­ge Got­tes, das über sie rich­tet. Kur­ze Mo­men­te des Auf­at­mens gibt es nur we­ni­ge: als Dienst­magd, im Klos­ter und schliess­lich in der An­stalt. Zum Bei­spiel dann, wenn ihr der Zu­gang zu ei­ner Bi­blio­thek er­mög­licht wird. Wenn sie kocht, «ih­ren Gäs­ten ein Lä­cheln auf die Lip­pen zau­bert». Oder in ei­ner Um­ar­mung mit der Gärt­ne­rin, die her­aus­sticht in ei­ner kör­per­lich und emo­tio­nal di­stan­zier­ten Welt, in der es stets um Ge­hor­sam und Hin­ga­be geht – um ei­ne Hin­ga­be, «die ein­fach und über­schau­bar war».

Im­mer öf­ter ver­schiebt sich et­was in Ber­tas Wahr­neh­mung. Der Teu­fel sitzt un­ter dem Tisch, blickt ihr im Spie­gel ent­ge­gen, und ima­gi­nier­te Vö­gel mu­tie­ren zu be­droh­li­chen Spio­nen.

«In­nen und Aus­sen schie­nen sich im­mer mehr auf­zu­lö­sen, schie­nen in der Um­ge­bung zu ver­schwin­den und hin­ter­lies­sen in ihr Ver­wir­rung und Angst. Es kos­te­te sie gros­se An­stren­gung, al­les zu­sam­men­zu­hal­ten, sich selbst zu­sam­men­zu­hal­ten: Da war die Stim­me des Teu­fels, der sie ge­hor­chen muss­te. Der Teu­fel kam oh­ne An­kün­di­gung, plötz­lich war er da, sprach zu ihr und nahm Be­sitz von ihr.»

Ber­ta be­ginnt, sich als Teil ei­ner Drei­fal­tig­keit zu se­hen: Da ist der Teu­fel, da ist das Au­ge Got­tes, und da ist sie, «Teil die­ses Bun­des, Die­ne­rin ei­ner ewi­gen Macht». Ihr Le­ben ist ein stän­di­ges Kip­pen zwi­schen Wahn­vor­stel­lun­gen und der Hoff­nung, dass doch noch al­les gut oder zu­min­dest bes­ser wer­den könn­te. 

Ein span­nen­des Ge­sell­schafts­por­trät

Er­zäh­le­risch folgt man Ber­ta zu Be­ginn in Zeit­sprün­gen: Der Auf­ent­halt in der An­stalt wird an­ge­deu­tet, dann wer­den as­so­zia­tiv Kind­heits- und Ju­gend­er­in­ne­run­gen ent­fal­tet. Beim Le­sen fühlt man sich zu­wei­len ori­en­tie­rungs­los, aber die Er­zähl­wei­se funk­tio­niert: ein viel­schich­ti­ges, fast rau­es Bild von Ber­ta ent­steht. Spä­ter ver­lang­samt sich das Tem­po, dann, als Ber­ta als Magd zu ar­bei­ten be­ginnt und die «Krank­heit» – nie nä­her be­stimmt – Über­hand ge­winnt. Die Ge­schich­te scheint sich fort­an auf ei­ner ein­fa­che­ren, li­nea­ren Er­zähl­wei­se ein­zu­spu­ren. Das ist scha­de, hät­te die Au­torin doch das Hand­werk zu mehr Raf­fi­nes­se. 

Ei­ne wei­te­re Schwie­rig­keit zeigt sich bei der li­te­ra­ri­schen Dar­stel­lung von Ber­tas Krank­heit. Durch Wie­der­ho­lun­gen ver­liert der Text an Schär­fe; ei­ne stär­ke­re Ver­dich­tung hät­te das Er­le­ben noch ein­dring­li­cher wir­ken las­sen.

Span­nend bleibt das Ge­sell­schafts­por­trät: der Um­gang mit­ein­an­der im Klos­ter, in bür­ger­li­chen Häu­sern, in den Dör­fern. Auch der Er­zähl­rah­men weckt In­ter­es­se: Ei­ne Pfle­ge­rin, die nur zu Be­ginn und am En­de er­scheint, be­rich­tet aus der Ich-Per­spek­ti­ve. Ein ge­fun­de­nes Fo­to – ei­nes von Ber­ta, der Schwes­ter des Gross­va­ters der Er­zäh­le­rin – dient als Aus­gangs­punkt. Da­mit öff­net der Ro­man ei­nen Re­fle­xi­ons­raum über Er­in­ne­rung, Über­lie­fe­rung und das Er­zäh­len selbst.

Die Krö­nung von Prinz Charles 

Im Schluss­teil, in der An­stalt, fin­det Ber­ta fern­ab von Teu­fel, Got­tes Au­ge und Karl, dem Nach­bars­jun­gen, dem sie ihr Le­ben lang nach­trau­ert, ei­ne ei­gen­wil­li­ge Form der Trös­tung: Sie ima­gi­niert ei­ne Ver­bin­dung zu Prinz Charles, der in der Ge­gen­wart zum Kö­nig ge­krönt wird und ti­tel­ge­bend ist. Das Schluss­bild ist gro­tesk und tröst­lich zu­gleich; es liest sich wie ein letz­ter Ver­such, das Ge­fäng­nis des Le­bens in ei­ne er­zähl­ba­re Form zu brin­gen.

Ruth We­ber zeich­net mit Ber­ta ei­ne Frau ih­rer Zeit. Ihr un­auf­ge­reg­ter, at­mo­sphä­risch dich­ter Ro­man über­zeugt vor al­lem durch die psy­cho­lo­gi­sche Ein­dring­lich­keit und die Zeich­nung des ge­sell­schaft­li­chen Um­felds. Ein Buch, das be­drückt und be­wegt – ge­tra­gen von At­mo­sphä­re und In­nen­welt, auch wenn es sich er­zäh­le­risch nicht im­mer ganz ent­fal­tet.


Ruth We­ber: B. und der Kö­nig. Or­te Ver­lag, Schwell­brunn 2025.
ort­ever­lag.ch

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