Tanz im Tränengas
Es sollte ein Tanz für mehr städtische Freiräume werden. Stattdessen schoss die Polizei mit Gummischrot. Und der Grossteil der Berichterstattung über die Tanzdemonstration «StandortFUCKtor» vom Samstag in Winterthur schiesst an den Tatsachen vorbei. David Nägeli war vor Ort.

Gewiss taugt das Scheinwerferlicht der Wasserwerfer nicht, um eine Masse von vier- bis fünfhundert Personen einige Stunden gut zu beleuchten. Auch die Wasserstrahlen oder das Tränengas mögen die Sicht getrübt haben – aber wenn Fritz Lehmann, Kommandant der Stadtpolizei Winterthur, gegenüber SRF bezeugt, er sei «an der Front» gewesen und habe «nie jemanden tanzen gesehen», so kann das nur eine Falschaussage sein, die dem streitbaren Einsatz der Polizei nachträglich die Legitimation liefert (siehe Video).
«Wir hatten gar nie die Chance, einen friedlichen Umzug durchzuführen», beschwert sich ein Teilnehmer. Tatsächlich ist der Bahnhof Winterthur um 21 Uhr an diesem Samstagabend bereits von geschätzt über 200 Polizisten umstellt, zudem von Balkonen oder dem Erotikshop im Bahnhofszentrum aus überwacht. Winterthur will die Veranstaltung offensichtlich im Keim ersticken, obwohl die letzte unbewilligte Tanzdemonstration im Juni in Aarau ohne Zwischenfälle weitgehend friedlich verlief.
Geplant ist ein Umzug mit Tanzmusik, eine Demonstration gegen Nulltoleranz im Nachtleben und gegen übertriebene Profitorientierung in der Stadtplanung – es soll eine Feier werden «laut, ungefragt und bis tief in die Nacht hinein» steht auf dem Flyer. Die Sicherheitsvorsteherin der Stadt, Barbara Günthard-Maier (FDP), ist auch anwesend: «Lange Zeit hörte ich keinen einzigen Takt Musik», sagt sie am Sonntag. Das mag daran liegen, dass es die Abriegelung des Bahnhofsareals verhindert, die Wagen mit den Turntables und der Band zu den Tanzwilligen zu schaffen.
Über Umwege finden die Demonstranten dann an der Archbar vorbei zur unteren Vogelsangstrasse, wo innert weniger Minuten auf einem Wagen eine Punk-Band zu spielen beginnt, während auf dem anderen ein DJ seine Platten vorbereitet. Entgegen der Aussage von Kommandant Lehmann schütteln bereits viele der Anwesenden das Tanzbein, Getränke werden untereinander geteilt – von der «erschreckenden Gewaltbereitschaft», die in den umgeschriebenen Polizeimeldungen in 20-Minuten oder Tages-Anzeiger geschildert wird, ist noch kaum etwas zu merken.
«Wir tanzten, solange wir konnten»
Nach einem Knall, dessen Ursprung kaum klar zugeordnet werden kann, greift die Polizei hart ein. Die ersten Strahlen des Wasserwerfers prallen direkt auf die Technik des DJ-Wagens – Erinnerungen an den Polizisten, der in Basel bei einer Kunstaktion Plattenspieler auf den Betonboden schmetterte, werden wach. «Der Einsatz der Polizei war übertrieben hart, ungerechtfertigt und provozierend», meint ein friedlich gebliebener Teilnehmer. «Es gab maximal fünfzehn Gewalttätige», schätzt er. «Deswegen gleich mit Wasserwerfern und Gummischrot in die Menge zu schiessen, ist unverhältnismässig.» Obwohl ein minimer Teil der Demonstranten mit Flaschen und Feuerwerk die Polizei attackiert, sind viele Zaungäste der gleichen Meinung.
Selbst als rund 300 Leute zwischen dem Salzhaus und dem Theater am Gleis eingekesselt werden, ist die Tanzstimmung noch nicht verflogen – obwohl in regelmässigen Abständen mit Gummischrot und Wasserwerfer in die Gasse gefeuert wird. Dabei treffen Gummigeschosse, manchmal auf Augenhöhe, auch friedliche, tanzende, teils noch nicht volljährige Teilnehmer. Nachdem Band und DJ am Weiterspielen gehindert worden sind, bleibt noch ein Leiterwagen, von dem aus ein Lautsprecher die Veranstaltung beschallt, wenn nicht gerade Schrot und Wasser durch die Luft fliegen. «Wir tanzten, solange wir konnten», sagt ein Teilnehmer. «Das heisst: In den Momenten, in denen die Polizei nicht auf uns schoss.»
Gewalt und Gegengewalt
Als die Polizei in der Gasse Tränengas einsetzt, erwischt dieses auch viele Anwesende auf der Erhöhung nebenan. Auf die Frage, wie sie die Veranstaltung verlassen könnten, gibt die Polizei die Antwort: Man wisse es nicht, man solle abwarten. «Ich habe erst gegen Ende zum ersten Mal gehört, dass wir den Kessel friedlich verlassen konnten – ich hatte ja immer Musik um die Ohren», meint ein Anwesender. Ein anderer will von einem Polizisten Auskunft über seine Dienstnummer und seinen Namen. Dieser verweigert die Information – vorschriftswidrig nach den Polizeigesetzen des Kantons und der Stadt.
In Aarau war die Polizei klar deeskalierend vorgegangen und hatte Prestigebauten und Geschäfte vor Gewalttaten geschützt, statt auch friedliche Teilnehmer durch Waffeneinsatz zu gefährden. Verglichen damit klingt die Aussage der Sicherheitsvorsteherin Günthard-Maier zynisch, die Polizei sei «mit Augenmass» vorgegangen. Sie bestätigt nur, was die Demonstranten anprangern wollten, die meisten Medien aber mit «mehr Freiräume» unklar umschrieben: keine Toleranz für Gegenkultur, eskalierende Sicherheitspolitik im öffentlichen Raum und eine Stadtplanung, die nur toleriert, was leise und unsichtbar von sich geht.