Amsél lädt ein

Online-Flaschenpost aus Tanger über das Festival «Tangier Arts & White Party»

Vom 24. bis zum 27. Ju­li 2025 fand in Tan­ger, Ma­rok­ko, das von der in Zü­rich und Tan­ger le­ben­den Künst­le­rin Amsél ver­an­stal­te­te Fes­ti­val «Tan­gier Arts & White Par­ty» statt, nach 2019 und 2023 die drit­te Aus­ga­be. Ich hat­te heu­er die Eh­re, auf der Pro­gramm­lis­te zu ste­hen, und schau­te vor­bei. 

In der Me­di­na von Tan­ger, in der Nä­he des Ha­fens, nicht weit vom le­gen­dä­ren Ho­tel Con­ti­nen­tal, in dem die Ber­to­luc­ci-Crew über­nach­te­te, als sie Paul Bow­les’ Jahr­hun­der­t­ro­man The Shel­te­ring Sky (1990) ver­film­te, im Fend­ak Dar Dbagh, ei­nem ge­nos­sen­schaft­lich ge­führ­ten Un­ter­neh­men, das re­gio­na­le Pro­duk­te för­dert, be­gann das Hap­pe­ning: Mo­ha­med Mrou­ji an der Oud, Ma­has­si­ne Ro­gers und Anas Na­joui, Ge­sang, stimm­ten die rund 30 Teil­neh­men­den mit an­da­lu­si­schen und ara­bi­schen Lie­dern ein; da­zu wur­den le­cke­re ma­rok­ka­ni­sche Ta­pas ser­viert, und na­tür­lich auch «le cham­pa­gne ma­ro­cain», wie die Be­völ­ke­rung den welt­weit ge­rühm­ten ma­rok­ka­ni­schen «thé à la men­the» mit ei­nem Au­gen­blin­zeln nennt.  

Dann hielt die Ver­an­stal­te­rin Amsél ih­re Er­öff­nungs­re­de: Wäh­rend nach 2019 und vor 2023 die Co­vid-Seu­che das Fes­ti­val ver­hin­dert ha­be, sei ihr im letz­ten Jahr nicht ums Fei­ern zu­mu­te ge­we­sen, die Welt ha­be sich durch das Mor­den im Kon­go, den noch im­mer an­hal­ten­den Ukrai­ne-Krieg und den sich ab­zeich­nen­den Flä­chen­brand im Na­hen Os­ten in ei­ne all­zu men­schen­feind­li­che Rich­tung ent­wi­ckelt, die sie nicht ha­be in Par­ty-Stim­mung kom­men las­sen. Doch heu­er, da sich die glo­ba­len Ver­hält­nis­se eher noch ver­schlim­mert hät­ten und ein Clown die Welt zu re­gie­ren schei­ne, sei sie zum Schluss ge­kom­men: Schau, das ist die Zeit, die wir zur Ver­fü­gung ha­ben, und an­statt sie in Gries­gram und Ohn­macht zu ver­brin­gen, soll­ten wir die Stun­den, die wir ge­mein­sam ha­ben, ge­nies­sen! Al­so ha­be sie, zu­sam­men mit der Künst­le­rin Na­joua El Hit­mi, die Or­ga­ni­sa­ti­on der dies­jäh­ri­gen Aus­ga­be des Tan­gier Arts & White Par­ty Fes­ti­vals in die Hän­de ge­nom­men. Al­le klatsch­ten Bei­fall. Dass aber Na­joua El Hit­mi, mit ih­ren aus­drucks­star­ken Bil­dern ein auf­ge­hen­der Stern am Him­mel der ma­rok­ka­ni­schen Ge­gen­warts­kunst, auf­grund ei­ner schwe­ren Er­kran­kung* nicht mehr am Fes­ti­val teil­neh­men kön­ne, wer­fe ei­nen Schat­ten, doch sei­en die Ta­ge so oder so von ih­rem Geist ge­prägt, nicht nur weil Na­joua El Hit­mi das Pro­gramm mit­ent­wor­fen ha­be, son­dern auch weil die Sams­tags­le­sun­gen in ih­rem Ate­lier, der Za­wia Fac­to­ry, statt­fin­den wür­den. 

Das Pro­gramm des Fes­ti­vals er­wies sich als äus­serst dicht: Wäh­rend nur drei Ta­gen ab­sol­vier­ten die Teil­neh­men­den ei­ne Fo­to­gra­fie-Aus­stel­lung in der Kas­bah, sechs Fil­me im kul­ti­gen Ci­ne­ma Rif am Grand Soc­co, ei­nen Aus­flug ins na­he Rif-Ge­bir­ge zu An­ge­hö­ri­gen der vor­is­la­mi­schen Jba­la-Kul­tur so­wie die be­sag­te Se­rie von sie­ben Le­sun­gen. 

Um nur ei­nen klei­nen Ein­blick in die The­men der letz­te­ren zu ge­ben:

So­nia Gar­cia Sou­briet re­flek­tier­te Án­gel Váz­quez’ Tan­ger-Ro­man Das Hun­de­le­ben der Jua­ni­ta Nar­bo­ni (1976 im spa­ni­schen Ori­gi­nal), ei­nen Schlüs­sel­ro­man für das Bin­nen­le­ben die­ser Stadt; der seit vie­len Jah­ren in Tan­ger le­ben­de Jour­na­list Al­fred Ha­cken­s­ber­ger las, mit viel Lo­kal­ko­lo­rit, über das En­de der My­tho­lo­gi­sie­rung der weis­sen Stadt an der Stras­se von Gi­bral­tar; Sté­pha­nie Gaou, die Lei­te­rin der lo­ka­len In-Buch­hand­lung «Les In­so­li­tes», gab Pro­sa und ei­nen Ein­blick in ih­re Tä­tig­keit zum Bes­ten; Tho­mas Im­bo­den er­hell­te den Sri-Lan­ka-Auf­ent­halt des aus Tan­ger stam­men­den (und dort be­stat­te­ten) Welt­rei­sen­den Ibn Bat­tou­ta (1304–1368/77), dem der Flug­ha­fen von Tan­ger nicht um­sonst sei­nen Na­men ver­dankt: Aé­ro­port Ibn Ba­tou­ta; Re­gi­na Wein­reich, Do­zen­tin von der Vi­su­al Arts School, NYC, er­in­ner­te sich an ih­ren Freund Jür­gen Ploog (1935–2020), den deut­schen Pi­lo­ten und gros­sen Cut-up-Au­tor, für den Tan­ger als In­ter­zo­ne zwi­schen der ori­en­ta­li­schen und der ok­zi­den­ta­li­schen Welt ei­nen ma­gi­schen Ort dar­stell­te; Ri­ta Ne­z­a­mi von der Stony Brook Uni­ver­si­ty, NYC, öff­ne­te die Tru­he ih­rer Re­cher­chen über das Le­ben der ma­rok­ka­ni­schen Frau­en auf den Dä­chern – ein fe­mi­nis­ti­sches An­lie­gen son­der­glei­chen, denn die Dä­cher in der Me­di­na und an­ders­wo wer­den von Män­nern kaum fre­quen­tiert, stel­len al­so ei­nen be­deu­ten­den Frei­raum für die Frau­en dar – das Sprin­gen von Dach zu Dach («ro­of-hop­ping») in­be­grif­fen; und die Schau­spie­le­rin Shel­ley Käst­ner und ich la­sen ei­ne gu­te Hand­voll mei­ner Ge­dich­te auf Deutsch und Eng­lisch, dar­un­ter die­ses: 

Frie­den
10. Ok­to­ber 2023

In Tan­ger brach­ten mich die Mö­wen
Schier um den Ver­stand
Mit­ten in der Nacht se­gel­ten sie
Vom At­lan­tik her
Über die weis­se Stadt
Kräch­zen­de ir­re­gu­lä­re Lich­ter

In Fes weck­ten mich die Spat­zen
Ihr Ge­schrill vor dem Fens­ter
Sprang mir in der Früh ins Ohr
Ih­re eu­pho­ri­sche Be­grüs­sung
Des Mor­gen­lichts

In Mar­ra­kesch wun­der­te ich mich über die Tau­ben 
Sie mach­ten es sich in den Luft­lö­chern
Der ris­si­gen Lehm­mau­ern be­quem, gurr­ten
Schlum­mer­ten im Schat­ten­rot

Nur in Ra­bat lies­sen mich die Vö­gel in Frie­den
& so will ich dir ei­ne Ro­se aus Ra­bat
Schi­cken, ei­ne Ro­se mit Ver­stand

Noch mehr lies­se sich über die ge­zeig­ten Fil­me er­zäh­len: Über Pe­ter Goe­dels wun­der­ba­ren se­mi­fik­tio­na­len Strei­fen Tan­ger – Le­gen­de ei­ner Stadt. Über den in Ma­rok­ko ge­dreh­ten Film Se­ne­ca von Ro­bert Schwent­ke, mit John Mal­ko­vich in der Haupt­rol­le, der ein ein­drück­lich ab­stos­sen­des Bei­spiel vom Tod die­ses Phi­lo­so­phen gibt; Ire­ne von Al­ber­ti und Frie­der Schlaich, die die­sen Film pro­du­ziert hat­ten, führ­ten ein. Oder über Le Pain Nu, die pa­cken­de Ver­fil­mung von Mo­ha­med Chou­kris Au­to­bio­gra­fie Das nack­te Brot, rea­li­siert vom al­ge­ri­schen Re­gis­seur Rach­id Ben­hadj, etc. pp. 

Doch sei ab­schlies­send die­ses High­light nicht ver­ges­sen: Im Gar­ten des Ho­tels Chel­lah fei­er­ten die aus al­ler Welt her­ge­reis­ten Mit­wir­ken­den am Sams­tag die White Night Par­ty, al­le­samt weiss an­ge­zo­gen, ei­ne aus­ge­las­se­ne Schar in­spi­rier­ter Men­schen, die, als der Rap­per Lau­rens Abu Ta­lib und der Drum­mer Ro­bert Mark mit der Band des Ho­tels Chel­lah jamm­ten und die Nacht rock­ten, von den lan­gen Ban­kett­ti­schen auf­spran­gen und un­ter frei­em Him­mel die Tanz­flä­che er­ober­ten... 

So pro­vo­zier­te das Fes­ti­val ei­ne Fül­le von lang nach­hal­len­den Ein­drü­cken, die es zu ver­ar­bei­ten gilt. Soll­te es 2027 zu der vier­ten Aus­ga­be der Tan­gier Arts & White Par­ty kom­men: Ei­ne Teil­nah­me lohnt sich auf je­den Fall enorm.

am­sel.zo­ne

*Am Er­schei­nungs­tag die­ses Ar­ti­kels hat die Re­dak­ti­on die Nach­richt vom Tod der Künst­le­rin Na­joua El Hit­mi (1978–2025) er­reicht.

Florian Vetsch und Shelley Kästner lesen Gedichte. Im Hintergrund Gemälde der jüngst verstorbenen Künstlerin und Mitorganisatorin des Festivals Najoua El Hitmi.

Gemeinsam mit der Hausband des Hotels Chellah heizen Rapper Laurens Abu Talib und Drummer Robert Mark dem Festival-Publikum ein.

Jetzt mitreden:
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Dein Kommentar wird vor dem Publizieren von der Redaktion geprüft.