Aufbruch ins Wunderland

Der Thurgauer Musiker Rémy Sax hat ein Soloprojekt gestartet und veröffentlicht eine neue EP: Schloss ist eine tanzbare Helden:innenreise irgendwo zwischen Retronostalgie und Fantasieabenteuer.

Der Thurgauer Musiker Rémy Sax (Bild: Jana Kohler)

Ré­my Sax hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren zu ei­nem wah­ren Pfei­ler des Thur­gau­er Kul­tur­le­bens ent­wi­ckelt: Ob als Mu­si­ker in zahl­rei­chen Band-Pro­jek­ten wie Car­ve Up, Vor­stand des (in­zwi­schen ein­ge­stell­ten) Frau­en­fel­der Au­geil-La­bels, Ju­ni­or­chef der zau­ber­haf­ten Buch­hand­lung Sax­books, im Um­feld des Kaff oder als Grün­dungs­mit­glied des neu­en Kul­tur­bot­schaft Ver­eins – Ré­my ist da! Im­mer. 

Mu­tig, aber sel­ten über­mü­tig. Be­din­gungs­los ex­pe­ri­men­tell, aber eben (und viel­leicht kommt das mit der Er­fah­rung) auch kon­se­quent kon­se­quent. So kei­ne-hal­ben-Sa­chen-mäs­sig. Im Zen­trum die­ser Ne­bel­schwa­den und Dunst­krei­se bleibt aber die Mu­sik. In ihr ste­cken seit je­her Ré­mys Herz und Blut. So er­scheint es fol­ge­rich­tig, dass er nun sei­ne ge­sam­te En­er­gie in ei­nem So­lo­pro­jekt bün­del­te – gar nicht so ein­fach für ei­nen Team­play­er:«In un­se­ren Band­pro­jek­ten ver­su­chen wir, al­len Mu­si­ker:in­nen viel Platz zu ge­ben, um ih­re Ideen ein­zu­brin­gen, und be­schäf­ti­gen uns auch mit Fra­gen der Ge­mein­schaft. Bei mei­nem So­lo­pro­jekt hin­ge­gen tref­fe ich die Ent­schei­dun­gen, vom Song­wri­ting über den Mix bis zum Al­bum­co­ver. Das ist viel Frei­heit, die sich ko­mi­scher­wei­se auch mehr nach Ar­beit an­fühlt. Es braucht schon Über­zeu­gung, Stun­den lang al­lein im Stu­dio zu sit­zen, aber es ist auch sehr be­loh­nend.»

Mit­tel­al­ter-Rol­len­spiel und Re­tro-Charme

Sechs Stü­cke lang ist die­se So­lo­schei­be mit dem Ti­tel Schloss, die auch als Tape er­scheint. Als Vor­bo­te jag­te Ré­my den trei­ben­den Track Cold Feet in­klu­si­ve kon­ge­nia­lem Vi­deo von Ja­na Koh­ler in den di­gi­ta­len Or­bit. Auf der au­dio­vi­su­el­len Ebe­ne er­zäh­len Ré­my und Ja­na da­bei ei­ne Art ver­träumt-ver­trau­tes Mit­tel­al­ter-Rol­len­spiel, das sich mit un­ge­heu­ren Re­tro-Charme an den Früh­zeit-In­ter­net-Sound schmiegt, den Ré­my zu­vor sei­nen Ge­rä­ten mit der traum­wand­le­ri­schen Si­cher­heit ei­nes Zir­kus­domp­teurs ent­lock­te. 

Und die­ser An­satz kommt nicht von un­ge­fähr, wie der Mu­si­ker er­klärt: «Die ers­ten De­mos für Schloss sind für ei­nen Vi­deo­spiel-Pro­to­ty­pen von Mi­cha­el Staub ent­stan­den. Mich hat da­bei die Fra­ge in­ter­es­siert: Wie­so ist es für uns so wich­tig, Din­ge über un­ser ei­ge­nes Le­ben in Fan­ta­sy­ge­schich­ten zu er­fah­ren? Meis­tens ist ein zen­tra­ler Punkt ein Auf­bruch, ei­ne Ver­än­de­rung und ei­ne schier un­über­wind­ba­re Auf­ga­be. Ich bin beim Song­wri­ting al­so ei­nem Ab­lauf, ei­ner Ge­schich­te ge­folgt.» 

Wun­der­land lässt grüs­sen

Das Al­bum er­scheint uns als ver­träum­te Hel­den:in­nen­rei­se, als Ab­tau­chen in ei­ne an­de­re Welt, die un­ter der un­se­ren liegt. Der Sound als weis­ses Ka­nin­chen, das uns in sei­nen nicht en­den wol­len­den Bau lockt und dort zum Tanz auf­for­dert. «Ich neh­me mir mit je­dem neu­en Re­lease vor, die Leu­te zum Tan­zen zu brin­gen. Ir­gend­wie klappt das aber nie so rich­tig. I guess, es ist auch ok, sich Schloss ganz ent­spannt zu Hau­se auf dem So­fa, trau­rig un­ter der Du­sche oder in ei­ner schlaf­lo­sen Nacht zu ge­ben», ant­wor­tet Ré­my auf die Fra­ge, was denn nun der Ide­al­zu­stand sei, um sei­ne Mu­sik zu kon­su­mie­ren. 

Ins­ge­samt ver­öf­fent­licht Ré­my Sax mit Schloss ein un­ge­heu­er ver­dich­te­tes Stück Mu­sik. Die EP ist ex­trem kom­pakt, nur zwei Songs kna­cken die Drei-Mi­nu­ten-Mar­ke, was da­zu führt, dass man die Samm­lung bei­na­he von selbst als zu­sam­men­hän­gen­des Ge­samt­werk kon­su­miert. Nur um da­bei, an­ge­sta­chelt von die­sem Sound, der sich so spie­le­risch zwi­schen Re­tro­no­st­al­gie und fu­tu­ris­ti­schen Ge­dan­ken­spie­len ma­ni­fes­tiert, die un­ter­schied­li­chen Stim­mun­gen von The Par­ty (dem her­aus­ra­gen­den Ope­ner, der uns an die bes­ten Bei­rut-Zei­ten er­in­nert) bis zum an­schlies­sen­den Play It Safe Now (dem gröss­ten, bei­na­he or­ches­tra­len Stück des Werks) in sich auf­zu­sau­gen. 

Tanz­bein zuckt auf dem Weg zum Müll­ei­mer

Und ob­wohl Ré­my den Ent­ste­hungs­pro­zess ein­gangs als Ar­beit be­schrie­ben hat­te, fühlt sich das Pro­dukt wie ein fluf­fi­ges Lo­fi-Bäl­le­bad aus Samples, ver­rutsch­ten Riffs und syn­the­ti­schen Klang­tep­pi­chen an. Und wir den­ken an die Sound­track-Ar­beit von Trent Rez­nor (Ni­ne Inch Nails) und John­ny Green­wood (Ra­dio­head), die seit vie­len Jah­ren im krea­ti­ven Pro­zess bei­na­he süch­tig nach vi­su­el­len Im­pul­sen wir­ken. Auch Ré­my nutzt die Kol­la­bo­ra­ti­on ger­ne als Kick­star­ter: «Ich ar­bei­te im­mer wie­der mit vi­su­el­len Künst­ler:in­nen zu­sam­men. Durch die­se Kol­la­bo­ra­tio­nen öff­nen sich im bes­ten Fall neue Wel­ten und Bil­der, die ich dann dank­ba­rer­wei­se in Mu­sik ver­wan­deln darf.» Bei den ers­ten De­mos für das Spiel von Mi­cha­el ha­be er schnell das Ge­fühl ge­habt: «Das ist et­was Be­son­de­res, da­mit möch­te ich auch in mei­ner ei­ge­nen Kunst wei­ter­ma­chen.» 

Da­durch ist Ré­my ein un­ge­wöhn­li­cher Zug ge­lun­gen: Schloss er­scheint hier als los­ge­lös­tes Mu­sik­pro­jekt und ver­schro­be­ner, zu­tiefst lie­be­vol­ler Sound­track oh­ne di­rek­te Ver­knüp­fung. Wir dür­fen die­se Songs neh­men und sie wie Fil­ter über un­se­re ei­ge­nen Le­ben le­gen, um uns selbst wie Link auf der nächs­ten Prin­zes­sin-Zel­da-Be­frei­ungs­ak­ti­on zu füh­len. Und mit Schloss auf den Oh­ren fühlt sich selbst der Weg zum Müll­ei­mer oder Kühl­schrank wie ei­ne ma­gi­sche Quest an, die EP ist die idea­le Un­ter­ma­lung, um das ei­ge­ne Le­ben ein we­nig ins Ab­sur­de zu dre­hen. 

Und yes, manch­mal zuckt da­bei das Tanz­bein un­kon­trol­liert aus. Ganz wie es sich der Künst­ler ge­wünscht hat.

Ré­my Sax: Schloss (La­bel Ra­pace); er­scheint am 12. Sep­tem­ber di­gi­tal und auf Tape. 
Live: 12. Sep­tem­ber, 21 Uhr, Kaff, Frau­en­feld (Plat­ten­tau­fe, Sup­port: Cha­cho und Bin­go Hall Ri­ver Boys); 4. Ok­to­ber, 21 Uhr, Gas­werk, Win­ter­thur (mit to­ber, wei­te­re Kon­zer­te: das Kinn, An­nie Aries, Blan­ce Bi­au).
sai­ten.ch/ka­len­der

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