«Die jüngere Generation ist wieder politischer geworden»

In dieser Spielzeit feiert die Kellerbühne St.Gallen ihr 60-jähriges Bestehen – als eine der ersten Adressen für Kleinkunst in der Ostschweiz. Leiter Matthias Peter spricht über den Weg dahin und den Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen auf das Programm.
Von  David Gadze

Bei ihrer Eröffnung war die Kellerbühne das erste Kleintheater der Ostschweiz. Heute, 60 Jahre später, gibt es diverse solche Institutionen in der Stadt St.Gallen und der Region. Wo hat die Kellerbühne anno 2024 ihren Platz in der Kulturszene?

Matthias Peter: Sie hat immer noch den Platz, den sie damals eingenommen hat: als eine Institution für die alternative Kleinkunst und das Kabarett. Die Künstler:innen dieser Szene kommen gerne zu uns, auch wenn wir mit unseren 138 Plätzen für Gewisse eigentlich zu klein sind. Selbst jene, die andernorts vor mehreren hundert Leuten spielen, treten gerne bei uns auf, auch wenn sie mehrmals spielen müssen, um dieselbe Gage zu bekommen, die sie sonst an einem Abend verdienen. Lorenz Keiser beispielsweise hat einmal gesagt, das direkte Feedback, das er in der Kellerbühne wegen der Nähe zum Publikum und der Konzentration in diesem «Tunnel» bekomme, entschädige ihn mehr als genug dafür.

Diesen Stellenwert hatte die Kellerbühne nicht immer. Je nach Leiter:in gab es in all den Jahren unterschiedliche Ausrichtungen, sowohl was das Programm als auch den Professionalisierungsgrad betrifft.

Ganz am Anfang stand die Idee eines «Jugendtheaterkellers» mit Laientheateraufführungen. Sie war bei Norbert Bischof, dem ersten Leiter, und dessen Nachfolger Fred Kurer jedoch schnell vom Tisch. Ihr Credo: Schlechte Aufführungen verärgern das Publikum. Sie setzten auf ein professionelles Programm. Fred Kurer hat sieben Jahre lang die Grössen des Kabaretts und der Kleinkunst hierhin geholt, auch internationale. Er ist bis heute für mich das Aushängeschild der Kellerbühne. Auf Kurer folgte 1975 Renward Wyss, der schon bei der Gründung der Kellerbühne involviert war. Er griff auf die ursprüngliche Idee zurück. Für ihn war die eigentliche Bestimmung der Kellerbühne, ein Forum für Laientheater zu sein. Ich glaube, das hat auf lange Sicht ihrem Renommee geschadet – und es wirkt bis heute nach.

Woran machen Sie das fest?

Damals haben sich gewisse Kreise von der Kellerbühne abgewandt. Und es ist in Vergessenheit geraten, dass die Kellerbühne in den Anfangszeiten sehr progressiv war. Bereits Norbert Bischof hat sehr mutige Entscheide getroffen. Er hat beispielsweise 1966 und 1967 Alfred Rasser auftreten lassen, als dieser immer noch als «linker Hund» verschrien war und geächtet wurde, weil er 1954 mit einer Gruppe von Politikern und Künstlern nach China gereist war. Deswegen wurde er von vielen Theatern geschnitten – obwohl er dank der HD-Läppli-Filme bei der Bevölkerung längst «rehabilitiert» war.

Was hiess das für Sie, als Sie 2004 die Leitung der Kellerbühne übernahmen?

Ich hatte die Aufgabe, das Programmprofil zu schärfen – auch vor dem Hintergrund, dass mit dem Kugl und dem Palace, das zwei Jahre später eröffnet wurde, zwei neue Kulturhäuser in der Stadt dazukamen. Seither setzen wir auf vier Schienen: Kabarett, Chanson, Literatur und Schauspiel. Und es steht das deutsche Wort im Zentrum. Konzerte von englischsprachigen Künstler:innen zum Beispiel gibt es bei uns nicht, weil das von den Konzerthäusern geleistet wird. Und wir haben das Programm insgesamt professionalisiert. Ich habe ganz bewusst versucht, dort anzuknüpfen, wo Fred Kurer aufgehört hatte. Als ich anfing, traten die aktuellsten Schweizer Künstler:innen rund um St.Gallen auf, aber nicht in der Stadt. Mein Vorgänger war der Meinung, man müsse sie nicht auch noch in die Kellerbühne holen, wenn sie schon überall in der Region auftreten. Ich hingegen fand, dass wir den Spiess umdrehen müssen. Wir sind in der Stadt, im Zentrum der Region, wir müssen sie als Erste auf die Bühne bringen, danach können sie in der Gegend spielen. Das ist mir gelungen, von der ersten Spielzeit an. Und es hat sich ausgezahlt: Innerhalb von zwei Jahren haben sich unsere Publikumszahlen verdoppelt.

Wie sieht es denn heute aus? Viele Kulturbetriebe leiden seit Corona unter einem Publikumsrückgang. Spürt ihn auch die Kellerbühne?

Wir können uns glücklich schätzen, dass wir Corona in den vergangenen beiden Spielzeiten weit hinter uns gelassen haben. Wir verzeichneten schon in der vorletzten Spielzeit 12’000 Eintritte, trotz einer Reduktion der Vorstellungen von knapp 160 auf 135. In der vergangenen Spielzeit waren es über 14’000. Was sich aber zeigt: Die Leute kommen spontaner, sie reservieren nicht so weit im Voraus. Früher waren einige Vorstellungen ausverkauft, kaum hatte der Vorverkauf begonnen. Das passiert jetzt auch bei bekannteren Namen oft nicht mehr.

Die Kellerbühne ist zu einer Zeit des Aufbruchs entstanden. Wo ist dieser Aufbruch – oder eben das Progressive, das Sie vorher erwähnt haben – heute im Programm spürbar, speziell auch im Kabarett, Ihrer wichtigsten Schiene?

Das Kabarett hat sich im Lauf der Jahre sehr verändert. Es gab eine Zwischenphase, in der ich das Gefühl hatte, die beissende, ätzende Politikkritik ist weg. Das Kabarett lehnte sich an die Comedy an. Wir haben aber heute wieder Leute wie Bänz Friedli, der Themen aus einer linken Perspektive aufgreift und tagesaktuell am jeweiligen Spielort in den Grundraster seines Programms einbaut. Als er 2023 hier war, hat er die St.Galler Regierungsratswahlen kommentiert, auf witzige und intelligente Art. Da ist für mich Progression spürbar. Renato Kaiser oder Dominic Deville bringen ebenfalls gesellschaftspolitische Themen auf die Bühne – und Forderungen. Sie wollen dem Publikum etwas weitergeben und machen die Bühne schon fast wieder zu einer moralischen Anstalt.

Viele Menschen empfinden die Herausforderungen des Alltags oder die Unsicherheit wegen der globalen Spannungen als Belastung und sind froh, wenn sie einfach abschalten können. Was bedeutet das für Ihr Programm? Kommt leichtere Unterhaltung in Zeiten wie diesen besser an als «schwere» Stoffe?

Sowohl das ernsthafte Kabarett als auch die leichtfüssigere Comedy finden bei uns ihr Publikum. Grundsätzlich sind wir programmlich Teil einer Szene, und diese Szene verändert sich laufend. Das spiegelt sich auf der Bühne. Neben dem Gewohnten gibt es immer wieder neue spannende Formate. Wir hatten im Frühling die Show Mama Love von Lea Whitcher, einer jungen Schauspielerin, bei uns, die grandios ihr Mutterwerden thematisiert hat. Im September war Leni Plöchl mit einer «transzendentalen Trash-Performance» zu Gast. Und im Frühling gastiert Eugénie Rebetez bei uns mit einem Programm zwischen Theater, Tanz und Performance. Solche neuen Formen finde ich interessant. Sie zeigen, dass die jüngere Generation wieder politischer geworden ist und sich traut, Visionen auf die Bühne zu bringen.

Kabarett ist auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklungen. Deshalb ist es wichtig, dass es eine Plattform hat.

Natürlich. Aber Corona hat diesbezüglich etwas verändert: Bringt man heute ein Protestprogramm auf die Bühne, das beispielsweise das Zitat «Dann steh auf und sag Nein» von Borchert enthält, stellt sich plötzlich die Frage, ob das noch geht. Was wir früher ganz klar als linke Protesttexte verstanden haben, wird heute von Gruppen vereinnahmt, die dem einen neuen Sinn geben. Ich denke an den Egoismus gewisser Gruppierungen, die während Corona nicht sehen wollten, dass es um Rücksichtnahme ging. Das macht es teilweise schwierig, was man auf der Bühne wie thematisiert.

Zum Auftakt in ihr 60-Jahr-Jubiläum präsentiert die Kellerbühne bereits ab September die Reihe «St.Gallen im Spiegel seiner Stadtromane – eine literarische Zeitreise». Mit dieser wirft sie gemäss Ankündigung Schlaglichter auf die Entwicklung der St.Galler Kultur seit 1900. Viktor Hardungs Theaterroman Die Brokatstadt (bereits aufgeführt) erinnert an St.Gallens lange Theatertradition insbesondere um die Umbruchzeit um 1900. Hans Rudolf Hiltys Entwicklungsroman Parsifal (21. und 23. Oktober) thematisiert die 1950er-Jahre und ihre Verquickung von Theaterkultur und Politik. Und Andreas Niedermanns Szeneroman Stern (4. und 6. November) zeichnet ein Bild von St.Gallens alternativkulturellen Aufbrüchen in den 1980er-Jahren und damit auch die Gründung der Grabenhalle, die dieses Jahr ihren 40. Ge- burtstag feiert (siehe Ausgabe Juli/August).

Die grosse Geburtstagsfeier der Kellerbühne folgt dann im Februar. Unter dem Titel «Jubilieren mit Jubilaren und Jahrgänger:innen» treten diverse Legenden aus 60 Jahren Kellerbühne auf: Franz Hohler (Lesung, 5. Februar), Joachim Rittmeyer (Kabarett, 6. Februar), Gardi Hutter (Lesung, 7. Februar), Ursus Wehrli (Kabarett, 8. Februar), Alex Porter (Zauberei, 13. Februar), Nicole Knuth (Kabarett, 14. Februar), Bänz Friedli (Kabarett, 18. Februar), Pedro Lenz (Lesung mit Musik, 20. und 21. Februar), das Cabaret Sälewie, das bei der Gründung der Kellerbühne eine entscheidende Rolle spielte (22. und 23. Februar) sowie Helga Schneider (Comedy, 24. Bis 26. Februar). Am 22. Februar findet auch ein Tag der offenen Tür statt. Ausserdem werden im Februar die Aufführungen der St.Galler Stadtromane wiederholt. Im März, April und Mai präsentieren Matthias Peter und Daniel Pfister ihre Kulturkrimi-Trilogie. Den Stadtromanen und den Kulturkrimis sind im Januar auch öffentliche Vorlesungen der Universität St.Gallen im Raum für Literatur in der Haupt- post gewidmet. Beim Schlussakt im Mai wird die literarische Zeitreise dann mit dem vierten Teil abgeschlossen. (dag)

Reden wir über das Jubiläumsprogramm: Nebst den «St.Galler Zeitreisen» kommen auch Legenden aus allen Dekaden in die Kellerbühne: Franz Hohler, Joachim Rittmeyer, Gardi Hutter, Ursus Wehrli, Alex Porter, Nicole Knuth, Pedro Lenz oder Helga Schneider. Ist es wie beim 60. Geburtstag der Grosseltern – ein Treffen der Generationen?

Mit den Stadtromanen, deren Aufführungen schon im September begonnen haben, wollen wir wichtige kulturelle Entwicklungen in der Stadt St.Gallen in den vergangenen 100 Jahren literarisch aufgreifen. Im Februar ist der eigentliche Jubiläumsmonat, analog zur Eröffnung der Kellerbühne im Februar 1965 – dann wird gefeiert. Die erste Woche ist den «Jubilaren» gewidmet, von denen viele einen runden Geburtstag ihres ersten Auftritts in der Kellerbühne feiern. Man könnte auch sagen: «Feiern mit Urgesteinen». Bei einem solchen Jubiläum gehört es einfach dazu, jene zu würdigen, die die Kellerbühne lange begleitet haben. Auch solche, die wir hier mitaufgebaut haben wie Pedro Lenz. Er ist damals frisch ab der Künstlerbörse bei uns aufgetreten. Es war mir wichtig, diese Leute dabei zu haben.

60 Jahre sind ein stolzes Alter. Ein Theater muss aber zeitlos bleiben – oder besser: mit der Zeit gehen, ohne zu altern. Wie bleibt die Kellerbühne frisch?

Indem sie neuen Künstler:innen eine Plattform gibt. Wir können nicht nur in unserem traditionellen Saft kochen. Es stehen gerade in dieser Jubiläumssaison auffallend viele junge und neue Namen wie Dominik Muheim, Jane Mumford, Lisa Christ und Kilian Ziegler auf dem Programm. In manchen Fällen können wir an ein Renommee aus der Slam-Szene anknüpfen, in andern bedeutet es schlicht Aufbauarbeit. Man beginnt wieder mit 20 Zuschauer:innen, aber das ist Teil unserer Aufgabe. Und mit den grossen Namen gibt es dann auch eine Quersubventionierung.

Ist es heute aufgrund der Angebotsfülle schwieriger, neues Publikum zu gewinnen?

Ich bin sehr stolz darauf, dass wir bei fast allen Vorstellungen ein sehr durchmischtes Publikum haben. Ich kann mir nichts Schöneres wünschen, als dass bei uns von 20 bis 70 Jahren alle Altersklassen im Saal sitzen. Natürlich, die ganz Jungen holen wir nicht ab, dafür ist auch unser Programm nicht gemacht. Deshalb ist für uns zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem Nordklang-Festival wichtig, weil ein ganz anderes Publikum unseren Saal oft zum ersten Mal kennenlernt. Die «Schwellenangst» ist bei einem Keller vielleicht grundsätzlich etwas grösser, als wenn man ebenerdig Zutritt hat. Grundsätzlich habe ich das Gefühl, dass wir auf einem guten Weg sind.

Aber ist das kulturelle Angebot in der Stadt zu gross, vor allem angesichts des Publikumsrückgangs nach Corona? Oder profitiert ihr letztlich auch von dieser Konkurrenz?

Die gleiche Diskussion hatten wir schon vor 20 Jahren, als es um die Eröffnung des Palace ging. Jetzt gibt es Pläne für ein Haus für die freie Szene an der Oststrasse. Dazu kann ich nur sagen: Es ist ein super Raum, der ganz andere Produktionen ermöglichen würde, als es die Kellerbühne mit ihrer fünf mal fünf Meter grossen Bühne tun kann. Dort wären Tanz- oder Performance-Produktionen möglich, für die wir gar keinen Platz hätten – oder die vielleicht auch nicht in unser Programmprofil passen würden. Ich würde es jedenfalls begrüssen, wenn das Haus für die Freien zustande kommen würde. Den Konkurrenzgedanken hatten wir nie, vielleicht dank der Tatsache, dass wir für die Kleinkunstszene die erste Adresse sind.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die Kellerbühne in der Zukunft, auch was die Finanzierung des Betriebs wegen einer Erhöhung der Richtgagen betrifft?

Diesen Forderungen können wir nachkommen. Künstler:innen, die bei uns auftreten, sind prozentual an den Einnahmen beteiligt. Wer den Saal füllt, verdient gut. Wer vor wenig Publikum spielt, erhält eine garantierte Mindestgage. Und wenn ich bei Eigenproduktionen ein kleines Ensemble engagiere, erfüllen wir ganz klar die Richtgagenkriterien der Verbände. Wir stehen, was die Eigenwirtschaftlichkeit betrifft, mit über 75 Prozent gut da. Obwohl wir seit der letzten Subventionsrunde im Stadtparlament unter den vergleichbaren Theatern wahrscheinlich das am schwächsten subventionierte sind.

Es ist auch für Sie ein Jubiläum: Sie sind seit 20 Jahren Leiter der Kellerbühne und sind vor wenigen Tagen 63 Jahre alt geworden. Beschäftigen Sie sich bereits mit Ihrer Nachfolge?

Für die Nachfolgeregelung ist der Vorstand des Vereins Kellerbühne zuständig. Er beschäftigt sich bereits damit. Es ist geplant, die im Sommer 2026 frei werdende Stelle gegen Ende dieses Jahres öffentlich auszuschreiben.

 

Matthias Peter, 1961, ist seit 2004 Leiter der Kellerbühne St.Gallen und wirkt in deren Eigenproduktionen auch als Regisseur oder Schauspieler mit. Ab 1980 arbeitete er am Stadttheater Luzern und war von 1982 bis 1984 Regieassistent und Schauspieler am Stadttheater St.Gallen. Seit 1985 ist er freier Theaterschaffender. Er hat ausserdem mehrere Bücher veröffentlicht. Zum 50-Jahr-Jubiläum der Kellerbühne erschien 2014 seine Chronik der Kellerbühne, Applaus und Zugaben, im Appenzeller Verlag.