Kein Ruhm, wenige Aufführungen, kleiner Applaus. Olga Diener komponierte über Jahrzehnte hinweg in der Abgeschiedenheit der Welt und wurde nach ihrem Tod völlig vergessen. Die 1890 in St.Gallen geborene Komponistin schrieb Klavierstücke, Violinsonaten, Liederzyklen, Streichquartette – insgesamt 76 Werke umfasst ihr Nachlass. Diener lebte im Schatten der Musikgeschichte, Komponistinnen hatten es damals schwer, überhaupt wahr- und ernstgenommen zu werden.
Die Musikgeschichte war bis ins 20. Jahrhundert ein männlich geprägtes Narrativ. Clara Schumann, Fanny Hensel, Alma Mahler oder Louise Farrenc – sie alle komponierten, kämpften, schrieben gegen das Verstummen an. Viele von ihnen hatten das musikalische Talent, den Bildungshintergrund und die nötige Kreativität. Dennoch blieben sie in ihrer Zeit «Ausnahmen», bestenfalls Musen für männliche Künstler und Komponisten, aber selten wurden sie selbst als gleichberechtigte Künstlerinnen anerkannt. Den Ruhm, der ihren männlichen Kollegen zukam, kannte keine von ihnen.
Im Glashaus gefangen
Ein berühmtes Beispiel ist Clara Schumann, die gefeierte Pianistin und Ehefrau von Robert Schumann. Ihre eigenen Kompositionen gerieten nach ihrem Tod fast vollständig in Vergessenheit. Erst recht Alma Mahler. Die Ehefrau von Gustav Mahler musste auf dessen Wunsch hin aufhören zu komponieren, andernfalls würde er sie nicht heiraten, so seine Bedingung. Auch die St.Gallerin Olga Diener stand in dieser langen Reihe künstlerisch begabter Frauen, die in keine der für Frauen vorgesehenen musikalischen und gesellschaftlichen Schubladen passten.
Diener, die Ende des 19. Jahrhunderts zur Welt kam, wurde bereits früh musikalisch gefördert. Im Alter von zwölf Jahren wurde sie in St.Gallen vom Pianisten Paul Müller und dessen Frau Olga Müller, einer Violinistin, unterrichtet. In den folgenden Jahren lebte, studierte und komponierte Diener in London und Paris. Ab 1911 nahm sie Kompositionsunterricht bei Ernst Lévy in Basel.
Olga Diener komponierte nicht nur, sondern schrieb auch Gedichte, die 1925 erstmals in einer Sammlung zeitgenössischer Schweizer Frauenlyrik erschienen sind. Obwohl ihr nie der verdiente Ruhm zukam, den sie verdient hätte, wurde sie sogar von einflussreichen Männern gelobt. Teilweise zumindest. Der Winterthurer Dichter und Mäzen Hans Reinhart nannte sie damals eine «schweizerische Traum-Dichterin» und bezeichnete ihre Texte als «etwas vom Besten, was wir zu bieten haben».
Selbst Hermann Hesse lobte die Sprachmelodie ihrer Verse, kritisierte jedoch, sie sei «wie in einem Glashaus eingeschlossen» und dass «sie und ihre Gedichte stets von der Welt getrennt» seien und sich ihre «Geheimsprache der Allgemeinsprache nicht genug annähern» könne.
Dieses Bild trifft es: Dieners Kunst ist introvertiert, transparent und kann auch als Rückzug von der Welt verstanden werden. Gewissermassen als eigener «Rückzugsort» diente ihr Altnau im Thurgau, wo sie ab 1933 für ein Jahrzehnt lebte und arbeitete.
Vergessen und Wiederentdeckung
Bis zu ihrem Tod 1963 in St.Gallen blieb Dieners Werk nahezu vollständig unbeachtet. Erst vor wenigen Jahren begann eine stille Wiederentdeckung: Die Thurgauer Pianistin Simone Keller initiierte 2022 das Projekt «Hidden Heartache», mit dem sie mehrere Werke von Diener interpretierte und als Album veröffentlichte. Ihre eigene Art und Weise, sich musikalisch auszudrücken, folge zwar gewissen gängigen kompositorischen Regeln, sei aber dennoch eine ganz eigenständige Sprache, umschreibt Keller Dieners Œuvre.
Olga Diener sei jedoch nur auf den ersten Blick «geheim». Mit «Hidden Heartache» hat Simone Keller sie mehr als 60 Jahre nach ihrem Tod gewissermassen aus dem «eingeschlossenen Glashaus» herausgeholt und ihr Schaffen einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Sie hat dafür unzählige handgeschriebene Manuskripte aus Archiven gesichtet und die Noten wieder zum Tönen gebracht.
Zusammen mit Nathalie Hubler, Erzählerin und Mitbegründerin des Theater 111, bietet Simone Keller im Rahmen der Reihe «Olga Diener revisited» am 6. Juni in St.Gallen dem Publikum die nächste Gelegenheit, die vergessene Komponistin zu entdecken. Initiativen wie «Olga Diener revisited» sind Teil eines grösseren kulturhistorischen Korrektivs: Denn in den Archiven, Schubladen und Nachlässen schlummern unzählige Werke von Komponistinnen, deren Beiträge zur Musikgeschichte bisher nie ernsthaft gewürdigt wurden.
Die Zeit für Olga Diener ist nicht vorbei. Ihr «zweites Leben» beginnt gerade erst.
«Olga Diener revisited»: 6. Juni, 19 Uhr, Festsaal Stadthaus St.Gallen.
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