Die Vergessene und Ungehörte

Mehr als 60 Jahre nach ihrem Tod wird die St.Galler Komponistin Olga Diener wiederentdeckt. Eine Veranstaltung Anfang Juni würdigt Musik und Lyrik der Künstlerin.

Undatierte Aufnahme (Bild: pd/Schweizerische Nationalbiblothek)

Kein Ruhm, we­ni­ge Auf­führun­gen, klei­ner Ap­plaus. Ol­ga Die­ner kom­po­nier­te über Jahr­zehn­te hin­weg in der Ab­ge­schie­den­heit der Welt und wur­de nach ih­rem Tod völlig ver­ges­sen. Die 1890 in St.Gal­len ge­bo­re­ne Kom­po­nis­tin schrieb Kla­vier­stücke, Vio­lin­so­na­ten, Lie­der­zy­klen, Streich­quar­tet­te – ins­ge­samt 76 Wer­ke um­fasst ihr Nach­lass. Die­ner leb­te im Schat­ten der Mu­sik­ge­schich­te, Kom­po­nis­tin­nen hat­ten es da­mals schwer, über­haupt wahr- und ernst­ge­nom­men zu wer­den.

Die Mu­sik­ge­schich­te war bis ins 20. Jahr­hun­dert ein männ­lich ge­prägtes Nar­ra­tiv. Cla­ra Schu­mann, Fan­ny Hen­sel, Al­ma Mahler oder Loui­se Far­renc – sie al­le kom­po­nier­ten, kämpf­ten, schrie­ben ge­gen das Ver­stum­men an. Vie­le von ih­nen hat­ten das mu­si­ka­li­sche Ta­lent, den Bil­dungs­hin­ter­grund und die nöti­ge Krea­ti­vi­tät. Den­noch blie­ben sie in ih­rer Zeit «Aus­nah­men», bes­ten­falls Mu­sen für männ­li­che Künst­ler und Kom­po­nis­ten, aber sel­ten wur­den sie selbst als gleich­be­rech­tig­te Künst­le­rin­nen an­er­kannt. Den Ruhm, der ih­ren männ­li­chen Kol­le­gen zu­kam, kann­te kei­ne von ih­nen.

Im Glas­haus ge­fan­gen

Ein be­rühm­tes Bei­spiel ist Cla­ra Schu­mann, die ge­fei­er­te Pia­nis­tin und Ehe­frau von Ro­bert Schu­mann. Ih­re ei­ge­nen Kom­po­si­tio­nen ge­rie­ten nach ih­rem Tod fast volls­tändig in Ver­ges­sen­heit. Erst recht Al­ma Mahler. Die Ehe­frau von Gus­tav Mahler muss­te auf des­sen Wunsch hin auf­hören zu kom­po­nie­ren, an­dern­falls würde er sie nicht hei­ra­ten, so sei­ne Be­din­gung. Auch die St.Gal­le­rin Ol­ga Die­ner stand in die­ser lan­gen Rei­he künst­le­risch be­gab­ter Frau­en, die in kei­ne der für Frau­en vor­ge­se­he­nen mu­si­ka­li­schen und ge­sell­schaft­li­chen Schub­la­den pass­ten.

Die­ner, die En­de des 19. Jahr­hun­derts zur Welt kam, wur­de be­reits früh mu­si­ka­lisch ge­fördert. Im Al­ter von zwölf Jah­ren wur­de sie in St.Gal­len vom Pia­nis­ten Paul Müller und des­sen Frau Ol­ga Müller, ei­ner Vio­li­nis­tin, un­ter­rich­tet. In den fol­gen­den Jah­ren leb­te, stu­dier­te und kom­po­nier­te Die­ner in Lon­don und Pa­ris. Ab 1911 nahm sie Kom­po­si­ti­ons­un­ter­richt bei Ernst Lévy in Ba­sel.

Ol­ga Die­ner kom­po­nier­te nicht nur, son­dern schrieb auch Ge­dich­te, die 1925 erst­mals in ei­ner Samm­lung zeit­ge­nössi­scher Schwei­zer Frau­en­ly­rik er­schie­nen sind. Ob­wohl ihr nie der ver­dien­te Ruhm zu­kam, den sie ver­dient hätte, wur­de sie so­gar von ein­fluss­rei­chen Männern ge­lobt. Teil­wei­se zu­min­dest. Der Win­ter­thu­rer Dich­ter und Mäzen Hans Rein­hart nann­te sie da­mals ei­ne «schwei­ze­ri­sche Traum-Dich­te­rin» und be­zeich­ne­te ih­re Tex­te als «et­was vom Bes­ten, was wir zu bie­ten ha­ben».

Selbst Her­mann Hes­se lob­te die Sprach­me­lo­die ih­rer Ver­se, kri­ti­sier­te je­doch, sie sei «wie in ei­nem Glas­haus ein­ge­schlos­sen» und dass «sie und ih­re Ge­dich­te stets von der Welt ge­trennt» sei­en und sich ih­re «Ge­heim­spra­che der All­ge­mein­spra­che nicht ge­nug an­nähern» könne.

Die­ses Bild trifft es: Die­ners Kunst ist in­tro­ver­tiert, trans­pa­rent und kann auch als Rück­zug von der Welt ver­stan­den wer­den. Ge­wis­ser­mas­sen als ei­ge­ner «Rück­zugs­ort» dien­te ihr Alt­nau im Thur­gau, wo sie ab 1933 für ein Jahr­zehnt leb­te und ar­bei­te­te.

Ver­ges­sen und Wie­der­ent­de­ckung

Bis zu ih­rem Tod 1963 in St.Gal­len blieb Die­ners Werk na­he­zu volls­tändig un­be­ach­tet. Erst vor we­ni­gen Jah­ren be­gann ei­ne stil­le Wie­der­ent­de­ckung: Die Thur­gau­er Pia­nis­tin Si­mo­ne Kel­ler in­iti­ier­te 2022 das Pro­jekt «Hid­den He­arta­che», mit dem sie meh­re­re Wer­ke von Die­ner in­ter­pre­tier­te und als Al­bum veröffent­lich­te. Ih­re ei­ge­ne Art und Wei­se, sich mu­si­ka­lisch aus­zu­drücken, fol­ge zwar ge­wis­sen gängi­gen kom­po­si­to­ri­schen Re­geln, sei aber den­noch ei­ne ganz ei­gen­s­tändi­ge Spra­che, um­schreibt Kel­ler Die­ners Œu­vre.

Ol­ga Die­ner sei je­doch nur auf den ers­ten Blick «ge­heim». Mit «Hid­den He­arta­che» hat Si­mo­ne Kel­ler sie mehr als 60 Jah­re nach ih­rem Tod ge­wis­ser­mas­sen aus dem «ein­ge­schlos­se­nen Glas­haus» her­aus­ge­holt und ihr Schaf­fen ei­nem brei­ten Pu­bli­kum zu­gäng­lich ge­macht. Sie hat da­für un­zähli­ge hand­ge­schrie­be­ne Ma­nu­skrip­te aus Ar­chi­ven ge­sich­tet und die No­ten wie­der zum Tönen ge­bracht.

Zu­sam­men mit Na­tha­lie Hub­ler, Er­zähle­rin und Mit­be­gründe­rin des Thea­ter 111, bie­tet Si­mo­ne Kel­ler im Rah­men der Rei­he «Ol­ga Die­ner re­vi­si­ted» am 6. Ju­ni in St.Gal­len dem Pu­bli­kum die nächs­te Ge­le­gen­heit, die ver­ges­se­ne Kom­po­nis­tin zu ent­de­cken. In­itia­ti­ven wie «Ol­ga Die­ner re­vi­si­ted» sind Teil ei­nes grösse­ren kul­tur­his­to­ri­schen Kor­rek­tivs: Denn in den Ar­chi­ven, Schub­la­den und Nach­lässen schlum­mern un­zähli­ge Wer­ke von Kom­po­nis­tin­nen, de­ren Bei­träge zur Mu­sik­ge­schich­te bis­her nie ernst­haft ge­würdigt wur­den.

Die Zeit für Ol­ga Die­ner ist nicht vor­bei. Ihr «zwei­tes Le­ben» be­ginnt ge­ra­de erst.

«Ol­ga Die­ner re­vi­si­ted»: 6. Ju­ni, 19 Uhr, Fest­saal Stadt­haus St.Gal­len.
kul­tur­ri­chard­butz.ch