Heroinabgabe bewährt sich

Die Stadt St.Gallen war bei der Abgabe von sauberem Spritzenbesteck eine Pionierin in der Schweiz. Bei der staatlichen Heroinabgabe musste sie Zürich den Vortritt lassen, tut dies mittlerweile aber auch schon seit 30 Jahren. Saiten war am Jubiläumsanlass.

Die heroingestützte Medizinisch-Soziale Hilfsstelle (MSH 1) an der Rosenbergstrasse in St.Gallen. (Bilder: pd)

Vie­len St.Gal­ler:in­nen dürf­ten die Bil­der vom Bie­nen­hüs­li, vom Waag­haus oder vom Schel­len­acker noch in Er­in­ne­rung sein: Das Elend der of­fe­nen Dro­gen­sze­ne An­fang der 90er-Jah­re, als He­ro­in­sucht und HIV um sich grif­fen. Die Stif­tung Sucht­hil­fe war noch nicht ge­grün­det, die «Gas­sen­ar­bei­ter:in­nen» und die Po­li­zei hat­ten aber schon al­le Hän­de voll zu tun, und in der Öf­fent­lich­keit tob­te ein emo­tio­na­ler Streit, wie ihn et­wa Pe­ter Stahl­ber­ger in sei­ner eben er­schie­ne­nen Stadt­ge­schich­te re­ka­pi­tu­liert. Da­bei ging es letzt­lich um die Fra­ge, was an ers­ter Stel­le ste­hen müs­se: ei­ne mög­lichst ef­fek­ti­ve Be­en­di­gung des Elends im Sin­ne der Sucht­be­trof­fe­nen oder die Wah­rung des öf­fent­li­chen Si­cher­heits­ge­fühls der Be­völ­ke­rung? Bei­des ge­recht­fer­tig­te An­lie­gen.

Die ideo­lo­gisch auf­ge­la­de­ne De­bat­te ver­lief ent­lang der Bruch­li­nie zwi­schen So­zi­al­ar­beit und Re­pres­si­on. Ent­spre­chend fan­den sich in Le­ser­brief­spal­ten und po­li­ti­schen Vor­stös­sen For­de­run­gen, die sich oft dia­me­tral ent­ge­gen­stan­den und hin­ter de­nen oft rea­li­täts­fer­ne Men­schen­bil­der stan­den, im bes­ten Fall vom nai­ven Glau­ben an ein All­heil­mit­tel ge­gen Sucht­er­kran­kun­gen, im schlimms­ten Fall bis hin zur of­fen vor­ge­tra­ge­nen Men­schen­ver­ach­tung.

30 Jah­re ist es nun her, dass die Me­di­zi­nisch-So­zia­le Hilfs­stel­le (MSH 1) mit 40 Plät­zen zur he­ro­in­ge­stütz­ten Be­hand­lung im Rah­men ei­nes Bun­des­pro­gramms in St.Gal­len er­öff­net wur­de. Die­ses Ju­bi­lä­um be­ging die Stif­tung Sucht­hil­fe mit ei­ner nicht öf­fent­li­chen Ver­an­stal­tung im Kirch­ge­mein­de­haus St.Man­gen. Der Ein­la­dung folg­ten rund 60 Per­so­nen, vor al­lem aus dem So­zi­al- und Sucht­hil­fe­be­reich, aber auch aus der Po­li­tik und von der Po­li­zei. 

So­zi­al­hil­fe und Ord­nungs­kräf­te span­nen zu­sam­men

Den ers­ten Teil des Rück­blicks be­strei­tet ein be­schwing­ter Chris­ti­an Crot­togi­ni, ehe­ma­li­ger lang­jäh­ri­ger Prä­si­dent der Stif­tung Sucht­hil­fe und «Ur­ge­stein» sei­nes Me­tiers. Da­mals, En­de der 80er-, An­fang der 90er-Jah­re, sei­en er und sei­ne Mit­strei­ter:in­nen dem Elend re­la­tiv hilf­los ge­gen­über­ge­stan­den, man ha­be zu Zei­ten des Bie­nen­hüs­li rund 2000 bis 2500 sau­be­re Sprit­zen pro Tag ab­ge­ge­ben. Viel mehr ha­be man nicht tun, so et­was wie ei­ne me­di­zi­nisch-so­zia­le Be­ra­tung nicht an­bie­ten kön­nen. St.Gal­len war bei der Sprit­zen­ab­ga­be schweiz­weit ei­ne Pio­nie­rin.

Es sei­en die Ak­ti­vist:in­nen der da­ma­li­gen Ge­ne­ra­ti­on ge­we­sen, die in ih­rer Sturm-und-Drang-Pha­se aus­pro­biert und – in­spi­riert von dä­ni­schen und hol­län­di­schen Städ­ten – nach neu­en We­gen in der Dro­gen­hil­fe ab­seits von Weg­wei­sun­gen, Ver­haf­tun­gen und Zwangs­ent­zug ge­sucht hät­ten, sagt Crot­togi­ni. Dass das pe­ni­ble Ein­hal­ten von Ge­setz und Richt­li­ni­en da­bei als läs­tig und hin­der­lich emp­fun­den wur­de: ge­schenkt. Wer auf sämt­li­che Re­geln ge­pocht ha­be, ha­be als Pe­dant ge­gol­ten. Der Grund­satz­kon­flikt aus der öf­fent­li­chen De­bat­te zwi­schen so­zia­lem Für­sor­ge­ge­dan­ken und po­li­zei­li­cher Re­pres­si­ons­ar­beit spie­gel­te sich auch in der Gas­sen­ar­beit wi­der.

Suchthilfe-Leiterin Regine Rust überreicht «Urgestein» Christian Crottogini einen der berühmten Panettones jenes Bäckers im Linsebühlquartier, der mittlerweile seinen Frieden geschlossen hat mit der Gassenküche in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Doch ir­gend­wann setz­te sich ein neu­er, kom­pro­miss­be­rei­ter Prag­ma­tis­mus durch. Das sei un­be­dingt nö­tig, aber über­haupt nicht leicht ge­we­sen, mein­te Crot­togi­ni rück­bli­ckend. Auch er ha­be sei­nen «Kampf­ver­ein» ge­gen Po­li­zei­re­pres­si­on auf­ge­ben und sich von ge­wis­sen Ide­al­vor­stel­lun­gen lö­sen müs­sen. Nur auf Men­schen­lie­be und Für­sor­ge zu set­zen funk­tio­nier­te eben­so we­nig wie ein­zig auf das Ord­nungs­prin­zip ab­zu­stüt­zen. Es war die Ge­burts­stun­de des Vier-Säu­len-Prin­zips, nach dem die St.Gal­ler Sucht­hil­fe mit ih­ren Part­ner:in­nen bis heu­te ar­bei­tet: Prä­ven­ti­on, Not­hil­fe, The­ra­pie und Re­pres­si­on.

«Dass der Staat mir mein Do­pe gibt …»

Als man 1995 die MSH 1 eta­blier­te, war al­les durch­struk­tu­riert und nicht mehr so spon­tan wie bei den Not­hil­fe­pro­gram­men et­wa im Bie­nen­hüs­li, der Gas­sen­kü­che, dem Waag­haus oder dem Schel­len­acker. Ord­nungs­kräf­te und Gas­sen­ar­beit hat­ten sich die Hän­de ge­reicht.

Ei­ne Ko­ope­ra­ti­on, an die sich auch die Sucht­be­trof­fe­nen zu­erst ge­wöh­nen muss­ten, wie Be­ni, Jahr­gang 1969 und fast seit Be­ginn Teil des St.Gal­ler He­ro­in­ab­ga­be­pro­gramms, am Ju­bi­lä­ums­an­lass im Ge­spräch mit der heu­ti­gen Lei­te­rin der Stif­tung Sucht­hil­fe, Re­gi­ne Rust, er­ör­tert. Dass er sein Do­pe fort­an vom Staat er­hal­ten soll­te, mit dem er auf­grund sei­ner bis­he­ri­gen Be­schaf­fungs­me­tho­den so oft in Kon­flikt ge­ra­ten war («Ja, ich ha­be viel an­ge­stellt»), woll­te ihm an­fangs nicht so recht ein­leuch­ten.

Auf die Fra­ge, was ihm MSH 1 ge­bracht ha­be, ant­wor­tet er, dass ihm das Pro­gramm nebst sau­be­rem Be­steck und gu­ter Stoff­qua­li­tät vor al­lem auch ein ge­re­gel­tes Le­ben in Wür­de er­mög­li­che. In ent­waff­nen­der Ehr­lich­keit und Of­fen­heit be­rich­te­te er von sei­nem Fa­mi­li­en­le­ben, sei­nen Ab­stür­zen, sei­nen Be­zie­hun­gen, den rich­ti­gen und den fal­schen. Es wur­de zwar längst nicht ein­fach al­les gut mit MSH 1, Be­ni ist nicht «ge­heilt» von sei­ner Sucht oder «ge­sun­det» von all sei­nen kör­per­li­chen und see­li­schen Be­gleit­erschei­nung sei­ner Sucht­er­kran­kung, blieb nicht kon­flikt­frei, aber er ha­be sein Le­ben dank des Ab­ga­be­pro­gramms sehr gut in den Griff be­kom­men und sei heu­te in sei­nem so­zia­len Um­feld sehr gut auf­ge­ho­ben. Zwar wür­de er sehr ger­ne ar­bei­ten, er sei über­haupt kein fau­ler Mensch, wie Men­schen wie ihm auch heu­te noch so oft pau­schal vor­wer­fen wür­den («ja, vor al­lem aus der SVP-Ecke»). Aber sein ge­sund­heit­li­cher Zu­stand las­se ei­ne ge­re­gel­te Ar­beit nicht zu, er be­zieht ei­ne IV-Ren­te, von der er ei­ni­ger­mas­sen über die Run­den kom­me.

Be­ni ist si­cher­lich so et­was wie ein Mus­ter­bei­spiel da­für, was ei­ne me­di­zi­nisch-so­zi­al-ba­sier­te Be­hand­lung al­les be­wir­ken kann. Ein An­ge­bot, das, ob­wohl vor 30 Jah­ren eta­bliert, für vie­le sei­ner Be­kann­ten zu spät kam. Vie­le ha­ben die gros­se He­ro­in­wel­le in den 80ern und 90ern nicht über­lebt.

Auf Re­gi­ne Rusts Fra­ge, was er sich für die Zu­kunft wün­sche – et­wa von der im Saal an­we­sen­den Po­li­tik –, ant­wor­te­te Be­ni ei­ni­ger­mas­sen be­schei­den: Dass das He­ro­in­pro­gramm wei­ter­ge­führt wer­de, weil es not­wen­dig sei, und dass Men­schen mit Sucht­er­kran­kung in der öf­fent­li­chen De­bat­te nicht mehr stig­ma­ti­siert wer­den. Und er sprach auch ei­ne War­nung aus: Der Staat sol­le sich da­vor hü­ten, auch für Crack oder Ko­ka­in ein Ab­ga­be­pro­gramm ein­zu­rich­ten.

Dro­gen im Al­ter, Ju­gend­süch­te und an­de­re Her­aus­for­de­run­gen

Ei­nen Blick auf die Her­aus­for­de­run­gen der Zu­kunft warf dann die ak­tu­el­le Prä­si­den­tin der Stif­tung Sucht­hil­fe, Ma­rie-The­res Tho­mann-Seiz. Für sie wie für ih­re Vor­red­ner:in­nen war klar: Ei­ne mo­der­ne Sucht­hil­fe muss sich wei­ter­ent­wi­ckeln. Denn auch Süch­te und Kon­sum­me­tho­den ver­än­der­ten sich. Der He­ro­in­kon­sum neh­me zwar ins­ge­samt ab, aber die Teil­neh­men­den des MSH-1-Pro­gramms wür­den äl­ter, was neue Her­aus­for­de­run­gen im All­tag der Be­trof­fe­nen und in der Be­treu­ung mit sich brin­ge.

Beni, langjähriger Teilnehmer des MSH-1-Programms, im Interview mit Regine Rust.

Stadträtin Sonja Lüthi überbringt Grussworte der Stadt zum 30-Jahrjubiläum von MSH 1.

Auch bis­lang we­ni­ger im Fo­kus ste­hen­de Sucht­for­men be­schäf­ti­gen die Stif­tung zu­neh­mend, et­wa die Spiel-, Game- oder an­der­wei­ti­ge Bild­schirm­sucht. Und von der gros­sen Crack-Schwem­me sei man vor­erst ver­schont ge­blie­ben, aber der Kon­sum von Ko­ka­in und ko­ka­in­ba­sier­ten Sub­stan­zen neh­me zu. Es könn­te sich wie­der ver­stärkt ei­ne of­fe­ne Sze­ne her­aus­bil­den in St.Gal­len, wie es be­reits in an­de­ren Schwei­zer Städ­ten ge­sche­hen ist.

Braucht es nach der MSH 1 (He­ro­in ge­stützt) und der MSH 2 (Me­tha­don und an­de­re Sub­sti­tu­te) bald ei­ne MSH 3? Ge­nügt das Vier-Säu­len-Prin­zip noch den heu­ti­gen An­for­de­run­gen? Und ist das An­ge­bot für min­der­jäh­ri­ge Sucht­be­trof­fe­ne mit ih­ren spe­zi­fi­schen Be­dürf­nis­sen aus­rei­chend? Auch sol­che Fra­gen dürf­ten die Stif­tung Sucht­hil­fe in nächs­ter Zu­kunft um­trei­ben. Kommt hin­zu, dass die öf­fent­li­che Hand und da­mit ein wich­ti­ger Geld­ge­ber durch wie­der­keh­ren­de Spar­übun­gen lau­fend zu­rück­ge­bun­den wird – mit kon­kre­ten und teils ein­schnei­den­den Aus­wir­kun­gen auf die Ar­beit der ver­schie­de­nen Fach­stel­len.

Das sind nicht nur ro­si­ge Aus­sich­ten in Zei­ten, in de­nen das The­ma Sucht­be­hand­lung und Si­cher­heits­emp­fin­den wie­der ver­mehrt in den öf­fent­li­chen Fo­kus rü­cken und In­ves­ti­tio­nen in die Zu­kunft an­ge­zeigt wä­ren. Denn, wie Chris­ti­an Crot­togi­ni und auch Stadt­rä­tin Son­ja Lü­thi in ih­ren Vo­ten be­tont ha­ben: Die so­zia­len und me­di­zi­ni­schen Fol­ge­kos­ten ei­ner un­ter­las­se­nen Sucht­hil­fe­po­li­tik wä­ren weit­aus hö­her.

stif­tung-sucht­hil­fe.ch freut sich über Zu­wen­dun­gen.

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