Vielen St.Galler:innen dürften die Bilder vom Bienenhüsli, vom Waaghaus oder vom Schellenacker noch in Erinnerung sein: Das Elend der offenen Drogenszene Anfang der 90er-Jahre, als Heroinsucht und HIV um sich griffen. Die Stiftung Suchthilfe war noch nicht gegründet, die «Gassenarbeiter:innen» und die Polizei hatten aber schon alle Hände voll zu tun, und in der Öffentlichkeit tobte ein emotionaler Streit, wie ihn etwa Peter Stahlberger in seiner eben erschienenen Stadtgeschichte rekapituliert. Dabei ging es letztlich um die Frage, was an erster Stelle stehen müsse: eine möglichst effektive Beendigung des Elends im Sinne der Suchtbetroffenen oder die Wahrung des öffentlichen Sicherheitsgefühls der Bevölkerung? Beides gerechtfertigte Anliegen.
Die ideologisch aufgeladene Debatte verlief entlang der Bruchlinie zwischen Sozialarbeit und Repression. Entsprechend fanden sich in Leserbriefspalten und politischen Vorstössen Forderungen, die sich oft diametral entgegenstanden und hinter denen oft realitätsferne Menschenbilder standen, im besten Fall vom naiven Glauben an ein Allheilmittel gegen Suchterkrankungen, im schlimmsten Fall bis hin zur offen vorgetragenen Menschenverachtung.
30 Jahre ist es nun her, dass die Medizinisch-Soziale Hilfsstelle (MSH 1) mit 40 Plätzen zur heroingestützten Behandlung im Rahmen eines Bundesprogramms in St.Gallen eröffnet wurde. Dieses Jubiläum beging die Stiftung Suchthilfe mit einer nicht öffentlichen Veranstaltung im Kirchgemeindehaus St.Mangen. Der Einladung folgten rund 60 Personen, vor allem aus dem Sozial- und Suchthilfebereich, aber auch aus der Politik und von der Polizei.
Sozialhilfe und Ordnungskräfte spannen zusammen
Den ersten Teil des Rückblicks bestreitet ein beschwingter Christian Crottogini, ehemaliger langjähriger Präsident der Stiftung Suchthilfe und «Urgestein» seines Metiers. Damals, Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre, seien er und seine Mitstreiter:innen dem Elend relativ hilflos gegenübergestanden, man habe zu Zeiten des Bienenhüsli rund 2000 bis 2500 saubere Spritzen pro Tag abgegeben. Viel mehr habe man nicht tun, so etwas wie eine medizinisch-soziale Beratung nicht anbieten können. St.Gallen war bei der Spritzenabgabe schweizweit eine Pionierin.
Es seien die Aktivist:innen der damaligen Generation gewesen, die in ihrer Sturm-und-Drang-Phase ausprobiert und – inspiriert von dänischen und holländischen Städten – nach neuen Wegen in der Drogenhilfe abseits von Wegweisungen, Verhaftungen und Zwangsentzug gesucht hätten, sagt Crottogini. Dass das penible Einhalten von Gesetz und Richtlinien dabei als lästig und hinderlich empfunden wurde: geschenkt. Wer auf sämtliche Regeln gepocht habe, habe als Pedant gegolten. Der Grundsatzkonflikt aus der öffentlichen Debatte zwischen sozialem Fürsorgegedanken und polizeilicher Repressionsarbeit spiegelte sich auch in der Gassenarbeit wider.
Suchthilfe-Leiterin Regine Rust überreicht «Urgestein» Christian Crottogini einen der berühmten Panettones jenes Bäckers im Linsebühlquartier, der mittlerweile seinen Frieden geschlossen hat mit der Gassenküche in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.
Doch irgendwann setzte sich ein neuer, kompromissbereiter Pragmatismus durch. Das sei unbedingt nötig, aber überhaupt nicht leicht gewesen, meinte Crottogini rückblickend. Auch er habe seinen «Kampfverein» gegen Polizeirepression aufgeben und sich von gewissen Idealvorstellungen lösen müssen. Nur auf Menschenliebe und Fürsorge zu setzen funktionierte ebenso wenig wie einzig auf das Ordnungsprinzip abzustützen. Es war die Geburtsstunde des Vier-Säulen-Prinzips, nach dem die St.Galler Suchthilfe mit ihren Partner:innen bis heute arbeitet: Prävention, Nothilfe, Therapie und Repression.
«Dass der Staat mir mein Dope gibt …»
Als man 1995 die MSH 1 etablierte, war alles durchstrukturiert und nicht mehr so spontan wie bei den Nothilfeprogrammen etwa im Bienenhüsli, der Gassenküche, dem Waaghaus oder dem Schellenacker. Ordnungskräfte und Gassenarbeit hatten sich die Hände gereicht.
Eine Kooperation, an die sich auch die Suchtbetroffenen zuerst gewöhnen mussten, wie Beni, Jahrgang 1969 und fast seit Beginn Teil des St.Galler Heroinabgabeprogramms, am Jubiläumsanlass im Gespräch mit der heutigen Leiterin der Stiftung Suchthilfe, Regine Rust, erörtert. Dass er sein Dope fortan vom Staat erhalten sollte, mit dem er aufgrund seiner bisherigen Beschaffungsmethoden so oft in Konflikt geraten war («Ja, ich habe viel angestellt»), wollte ihm anfangs nicht so recht einleuchten.
Auf die Frage, was ihm MSH 1 gebracht habe, antwortet er, dass ihm das Programm nebst sauberem Besteck und guter Stoffqualität vor allem auch ein geregeltes Leben in Würde ermögliche. In entwaffnender Ehrlichkeit und Offenheit berichtete er von seinem Familienleben, seinen Abstürzen, seinen Beziehungen, den richtigen und den falschen. Es wurde zwar längst nicht einfach alles gut mit MSH 1, Beni ist nicht «geheilt» von seiner Sucht oder «gesundet» von all seinen körperlichen und seelischen Begleiterscheinung seiner Suchterkrankung, blieb nicht konfliktfrei, aber er habe sein Leben dank des Abgabeprogramms sehr gut in den Griff bekommen und sei heute in seinem sozialen Umfeld sehr gut aufgehoben. Zwar würde er sehr gerne arbeiten, er sei überhaupt kein fauler Mensch, wie Menschen wie ihm auch heute noch so oft pauschal vorwerfen würden («ja, vor allem aus der SVP-Ecke»). Aber sein gesundheitlicher Zustand lasse eine geregelte Arbeit nicht zu, er bezieht eine IV-Rente, von der er einigermassen über die Runden komme.
Beni ist sicherlich so etwas wie ein Musterbeispiel dafür, was eine medizinisch-sozial-basierte Behandlung alles bewirken kann. Ein Angebot, das, obwohl vor 30 Jahren etabliert, für viele seiner Bekannten zu spät kam. Viele haben die grosse Heroinwelle in den 80ern und 90ern nicht überlebt.
Auf Regine Rusts Frage, was er sich für die Zukunft wünsche – etwa von der im Saal anwesenden Politik –, antwortete Beni einigermassen bescheiden: Dass das Heroinprogramm weitergeführt werde, weil es notwendig sei, und dass Menschen mit Suchterkrankung in der öffentlichen Debatte nicht mehr stigmatisiert werden. Und er sprach auch eine Warnung aus: Der Staat solle sich davor hüten, auch für Crack oder Kokain ein Abgabeprogramm einzurichten.
Drogen im Alter, Jugendsüchte und andere Herausforderungen
Einen Blick auf die Herausforderungen der Zukunft warf dann die aktuelle Präsidentin der Stiftung Suchthilfe, Marie-Theres Thomann-Seiz. Für sie wie für ihre Vorredner:innen war klar: Eine moderne Suchthilfe muss sich weiterentwickeln. Denn auch Süchte und Konsummethoden veränderten sich. Der Heroinkonsum nehme zwar insgesamt ab, aber die Teilnehmenden des MSH-1-Programms würden älter, was neue Herausforderungen im Alltag der Betroffenen und in der Betreuung mit sich bringe.
Beni, langjähriger Teilnehmer des MSH-1-Programms, im Interview mit Regine Rust.
Stadträtin Sonja Lüthi überbringt Grussworte der Stadt zum 30-Jahrjubiläum von MSH 1.
Auch bislang weniger im Fokus stehende Suchtformen beschäftigen die Stiftung zunehmend, etwa die Spiel-, Game- oder anderweitige Bildschirmsucht. Und von der grossen Crack-Schwemme sei man vorerst verschont geblieben, aber der Konsum von Kokain und kokainbasierten Substanzen nehme zu. Es könnte sich wieder verstärkt eine offene Szene herausbilden in St.Gallen, wie es bereits in anderen Schweizer Städten geschehen ist.
Braucht es nach der MSH 1 (Heroin gestützt) und der MSH 2 (Methadon und andere Substitute) bald eine MSH 3? Genügt das Vier-Säulen-Prinzip noch den heutigen Anforderungen? Und ist das Angebot für minderjährige Suchtbetroffene mit ihren spezifischen Bedürfnissen ausreichend? Auch solche Fragen dürften die Stiftung Suchthilfe in nächster Zukunft umtreiben. Kommt hinzu, dass die öffentliche Hand und damit ein wichtiger Geldgeber durch wiederkehrende Sparübungen laufend zurückgebunden wird – mit konkreten und teils einschneidenden Auswirkungen auf die Arbeit der verschiedenen Fachstellen.
Das sind nicht nur rosige Aussichten in Zeiten, in denen das Thema Suchtbehandlung und Sicherheitsempfinden wieder vermehrt in den öffentlichen Fokus rücken und Investitionen in die Zukunft angezeigt wären. Denn, wie Christian Crottogini und auch Stadträtin Sonja Lüthi in ihren Voten betont haben: Die sozialen und medizinischen Folgekosten einer unterlassenen Suchthilfepolitik wären weitaus höher.
stiftung-suchthilfe.ch freut sich über Zuwendungen.