Stadtgeschichte: Kleine Schritte statt grosse Würfe

Der Historiker und Journalist Peter Stahlberger legt die erste umfassende St. Galler Stadtgeschichte für die Nachkriegszeit vor. Ein gut sortiertes Überblickswerk, nach dessen Lektüre man weiss: Kaum etwas beschäftigte St.Gallen während der letzten 80 Jahre so sehr wie das Auto und dessen Platzbedarf.

Die Achslen-Hochhäuser, 1971–1974 erstellt, stehen sinnbildlich für den Bauboom der 60er- und 70er-Jahre als Reaktion auf die Wohnungsnot in den ersten Nachkriegsjahren. (Bild: pd/Denkmalpflege der Stadt St.Gallen)

Es braucht ei­ni­ges an Er­fah­rung, Wis­sen und Durch­hal­te­wil­len, um ein Pro­jekt die­ser Grös­sen­ord­nung zu stem­men. Um­so mehr, wenn man nicht im Auf­trag der Öf­fent­lich­keit – in die­sem Fall ei­ner spar­pa­ket­be­las­te­ten Stadt – han­delt und den An­sprü­chen ge­nü­gen will, die ein ge­stan­de­ner His­to­ri­ker und ehe­ma­li­ger NZZ-Jour­na­list vom For­mat ei­nes Pe­ter Stahl­ber­ger (1945) an sich selbst stellt.

Un­ter die­sen Prä­mis­sen kann so et­was ei­gent­lich nur als ge­reif­tes «Al­ters­werk» ge­lin­gen. Dar­in un­ter­schei­det sich der Au­tor we­nig von Ernst Eh­ren­zel­ler, der 1988 im Al­ter von 70 Jah­ren die bis­lang «gül­ti­ge», um­fas­sends­te, stel­len­wei­se na­tür­lich über­hol­te Ge­schich­te der Stadt St.Gal­len pu­bli­zier­te, die bei Gal­lus be­ginnt und in der Nach­kriegs­zeit en­det. 

Stahl­ber­gers so­eben bei der Ver­lags­ge­nos­sen­schaft er­schie­ne­nes, gut 400 Sei­ten star­kes und reich be­bil­der­tes Buch Die Stadt St.Gal­len seit dem Zwei­ten Welt­krieg setzt nun da an, wo Eh­ren­zel­ler auf­ge­hört hat. Es gibt bei letz­te­rem zwar das Ka­pi­tel St.Gal­len seit 1945, doch be­schränkt er sich dar­in – na­tür­lich auch aus Platz­grün­den, aber auch auf­grund ei­ni­ger me­tho­di­scher blin­der Fle­cken – auf die gröbs­ten Zü­ge der Bau-, In­fra­struk­tur-, Ver­wal­tungs- und Po­li­tik­ge­schich­te. Die Stadt­be­völ­ke­rung und de­ren Le­bens­um­stän­de ver­blei­ben in Eh­ren­zel­lers Ana­ly­se weit­ge­hend im Hin­ter­grund.

Befreite aus dem Konzentrationslager Theresienstadt Anfang Februar 1945 im Schulhaus Hadwig. Der Offizier im Hintergrund ist der Arzt und Luftschutz-Hauptmann Hans Richard von Fels. Nachdem er einmal 40 ehemalige Häftlinge ärztlich untersucht und von ihnen Details über den KZ-Alltag erfahren hatte, konnte er seine Erschütterung in seinem Tagebuch kaum in Worte fassen: Es sei «ein namenloses Elend. (…) Man will und will es nicht begreifen, dass diese Dinge, die man im Geschichtsbuch vom Altertum las, nun wieder Wirklichkeit geworden sind.» (Bild: pd/Stadtarchiv St.Gallen)

Stahl­ber­ger hin­ge­gen geht in sei­ner Ar­beit weit über das holz­schnitt­ar­ti­ge Nach­er­zäh­len der Er­eig­nis­ge­schich­te hin­aus. Ihn in­ter­es­sie­ren die Men­schen und vor al­lem auch die vor­herr­schen­den, wie neu ge­schaf­fe­nen Struk­tu­ren, die de­ren Le­ben bis heu­te be­ein­flus­sen. All­tags­the­men oder flucht-, mi­gra­ti­ons-, frau­en- und an­de­re be­we­gungs­ge­schicht­li­che Aspek­te, die bei Stahl­ber­ger im­mer wie­der auf­schei­nen und teils ver­tieft wer­den – et­wa im be­son­ders le­sens­wer­ten Ka­pi­tel So­zia­ler Wan­del und So­li­da­ri­tät mit Schwä­che­ren – fal­len bei Eh­ren­zel­ler kom­plett un­ter den Tisch.

Die «lan­gen» 1940er

Stahl­ber­gers Stadt­ge­schich­te ist in drei Tei­le ge­glie­dert: Über­gang, Wachs­tum, Her­aus­for­de­run­gen. Im ers­ten Teil geht es um die Über­gangs­pha­se von der kri­sen­haf­ten Kriegs- in die blü­hen­de Nach­kriegs­zeit. Hier räumt der Au­tor auf mit der sich hart­nä­ckig hal­ten­den Vor­stel­lung, der Boom ha­be erst nach 1945 ein­ge­setzt. Er zeigt auf, dass der wirt­schaft­li­che wie der de­mo­gra­fi­sche Auf­schwung be­reits ab 1940/41 ein­setz­te, zu ei­ner Zeit al­so, in der man all­ge­mein noch we­nig Grund hat­te, op­ti­mis­tisch in die nä­he­re Zu­kunft zu bli­cken. Stahl­ber­ger ver­or­tet die Grün­de für den früh ein­set­zen­den Ba­by­boom vor al­lem bei der neu­en, auf Fa­mi­li­en zu­ge­schnit­te­nen So­zi­al­po­li­tik. Es gab Kin­der­zu­la­gen und dank des Wehr­pflich­ter­sat­zes wa­ren Fa­mi­li­en zu­dem bes­ser vor exis­tenz­be­dro­hen­den Ein­kom­mens­aus­fäl­len der Ak­tiv­dienst­lei­den­den ge­schützt als noch zu Zei­ten des Ers­ten Welt­kriegs. Und die all­ge­mei­ne Teue­rung führt auch aus rein öko­no­mi­schen, nicht bloss ro­man­ti­schen Über­le­gun­gen zur ver­mehr­ten Zu­sam­men­le­gung von Haus­hal­ten.

Ame­ri­ka­ni­sche Be­sat­zungs­sol­da­ten auf Ur­laub präg­ten in den ers­ten Nach­kriegs­jah­ren das St. Gal­ler Stras­sen­bild we­sent­lich mit. Dies lös­te, ver­bun­den mit dem er­lö­sen­den, für die Al­li­ier­ten sieg­rei­chen Kriegs­en­de und ka­ta­ly­siert durch ei­nen wie­der­erstar­ken­den An­ti­kom­mu­nis­mus, ei­ne wah­re Ame­ri­ka­be­geis­te­rung aus. Die schi­cken und stets gut par­fü­mier­ten Ame­ri­ka­ner brach­ten nebst Jeans, Jazz, Kau­gum­mi und Kon­do­men auch ei­ne neue Au­to­kul­tur nach Fest­lan­d­eu­ro­pa. St. Gal­ler:in­nen, die es sich leis­ten konn­ten, be­schaff­ten sich nach Mög­lich­keit ei­nen ele­gan­ten «Ami­schlit­ten», der ih­nen ein neu­es Le­bens­ge­fühl der Frei­heit und Un­ab­hän­gig­keit ver­mit­tel­te.

Die Kehr­sei­te zeig­te sich in der rasch zu­neh­men­den Platz­not auf den Stras­sen und dem An­stieg der Un­fall­zah­len, als das Au­to An­fang der 50er im­mer mehr vom Lu­xus- zum All­tags­gut wur­de. Die Stadt­po­li­zei kam bald an den An­schlag, das Per­so­nal muss­te auf­ge­stockt, die Si­gna­li­sie­rung tech­nisch nach­ge­rüs­tet wer­den. Und auch die Pla­nun­gen für das Na­tio­nal­stras­sen­netz – ein The­ma, das die Schweiz und vor al­lem auch die Gal­lus­stadt be­kannt­lich bis heu­te be­schäf­tigt – setz­ten in den 40ern ein.

Die Multergasse 1963 (links) und 1984 (oben) im Vergleich: Strassen und Gassen vom Autoverkehr zu befreien, war einst auch ein von der Standortförderung gewünschtes Mittel zur Altstadtbelebung. (Bilder: pd/Stadtarchiv St.Gallen)

Ge­stärkt durch ers­te Er­fol­ge in der so­ge­nann­ten «An­bau­schlacht» und ei­ne ge­fes­tig­te «geis­ti­ge Lan­des­ver­tei­di­gung», ent­wi­ckel­te sich schon früh in der zu­vor kri­sen­ge­schüt­tel­ten Sti­cke­rei­stadt ein neu­es Selbst­be­wusst­sein. Das drück­te sich et­wa in der Grün­dung der Ol­ma-Mes­se 1943 aus. Oder auch in der von den Metz­ge­rei­en und dem Kauf­män­ni­schen Di­rek­to­ri­um ge­for­der­ten, von der fi­nan­zi­ell un­zu­frie­de­nen Leh­rer­schaft ab­ge­lehn­ten ra­schen Wie­der­ein­füh­rung des Kin­der­fes­tes 1947, nach­dem sich der Fest­wie­sen­bo­den im ers­ten Nach­kriegs­jahr von sei­ner Zwi­schen­nut­zung als Acker­flä­che er­ho­len konn­te.

Knapp ein Vier­tel des Bu­ches von Pe­ter Stahl­ber­ger ist die­ser Über­gangs­pha­se ge­wid­met. Im Ge­spräch mit Sai­ten sagt der Au­tor, dass es ihm wäh­rend der Re­cher­chen die 40er-Jah­re be­son­ders an­ge­tan hät­ten. Ge­ra­de weil hier Kriegs­kri­se und Auf­bruch nicht ein­fach auf­ein­an­der folg­ten, son­dern sich über­lapp­ten. In An­leh­nung an den deut­schen So­zi­al­his­to­ri­ker Ul­rich Weh­ler (Bie­le­fel­der Schu­le) schreibt Stahl­ber­ger im Ein­stieg: «Die Ge­schich­te kennt kei­ne ‹Stun­de null›.» So we­nig wie Deutsch­land nach der Ka­pi­tu­la­ti­on ei­nen kom­plet­ten Neu­an­fang er­leb­te, en­de­te die Kriegs­zeit 1945 in St.Gal­len, was sich et­wa in der vom Bun­des­rat bis 1948 fort­ge­führ­ten Ra­tio­nie­rungs­po­li­tik oder im lo­kal heiss de­bat­tier­ten be­hörd­li­chen Um­gang mit den in der Stadt ver­blie­be­nen An­hän­ger:in­nen des ge­fal­le­nen NS-Re­gimes aus­drück­te.

Bau­boom, Pla­nungs­wut und Kul­turk(r)ämp­fe

Der zwei­te und gleich­zei­tig in­halt­li­che Haupt­teil des Bu­ches be­fasst sich mit den Nach­kriegs­ent­wick­lun­gen bis in die 1990er-Jah­re und teils auch et­was dar­über hin­aus. Ein Fo­kus liegt auf dem in den 50ern ein­set­zen­den Ge­bäu­de- und Stras­sen­bau­boom, der zeit­wei­se in ei­ne aus­ge­wach­se­ne Pla­nungs- und Ab­riss­wut mün­de­te. Viel his­to­ri­sche Bau­sub­stanz wur­de dem Fort­schritt «ge­op­fert». Bes­tes Bei­spiel hier­für: das al­te Stadt­thea­ter am Bohl, das ei­nem Neu­bau wei­chen muss­te, in dem heu­te ei­ne Fast-Food-Ket­te un­ter­ge­bracht ist.

Stahl­ber­ger lie­fert ein­ge­hen­de Be­trach­tun­gen zu ar­chi­tek­to­ni­schen und in­fra­struk­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen wie bei­spiels­wei­se zum Aus­bau der En­er­gie- und Was­ser­ver­sor­gung. Mit der Ein­füh­rung des Ge­büh­ren­sacks nahm St.Gal­len 1975 end­lich wie­der ein­mal bei ir­gend­was ei­ne Pio­nier­rol­le ein. Auch der Ge­sund­heits­ver­sor­gung und den Spi­tä­lern oder dem Bil­dungs­stand­ort (In­sti­tut, HSG, Fla­de) ist je ein Ka­pi­tel ge­wid­met. Da­bei han­delt der Au­tor nicht blos­se Ge­bäu­de- und In­sti­tu­tio­nen­ge­schich­te ab, son­dern kon­tex­tua­li­siert auch die De­bat­ten dar­um.

Gleich meh­re­re Ka­pi­tel wid­men sich dem The­men­kreis Ver­kehr und Mo­bi­li­tät, und der Ein­druck er­här­tet sich, dass in St.Gal­len in den letz­ten 80 Jah­ren über nichts so aus­gie­big und emo­tio­nal de­bat­tiert wur­de wie über Stras­sen und Park­plät­ze. Jour­na­list Ni­klaus Mei­en­berg be­zeich­ne­te die Stadt­be­völ­ke­rung ein­mal als «boh­nen­stroh­dumm», weil sie es zu­ge­las­sen hat­te, dass man mit dem Splü­gen-Au­to­bahn­zu­brin­ger sein al­tes Hei­mat­quar­tier St.Fi­den zer­schnitt. Ähn­lich auf­ge­heizt war die all­ge­mei­ne De­bat­te ver­mut­lich nur ein­mal, als die Stadt in den frü­hen 90er-Jah­ren ei­ne fort­schritt­li­che­re Dro­gen­po­li­tik mit «Fi­xer­st­üb­li» und kon­trol­lier­ter He­ro­in­ab­ga­be an­streb­te, die sie aber nach ver­lo­re­ner Ab­stim­mung nur auf Um­we­gen und mit zeit­li­cher Ver­zö­ge­rung all­mäh­lich um­set­zen konn­te. 

Die For­de­run­gen der ver­gleichs­wei­se eher klei­nen 68er- und 80er-Be­we­gun­gen nach ge­sell­schaft­li­chem Wan­del, Auf­lö­sung star­rer Rol­len­bil­der und mehr kul­tu­rel­len und an­de­ren Frei­räu­men be­wirk­ten zwar enorm viel im Stadt­kul­tur­le­ben, er­hitz­ten letzt­lich aber we­ni­ger Ge­mü­ter als die städ­ti­sche Ver­kehrs- und Dro­gen­po­li­tik. Auch wenn sich all die­se The­men na­tür­lich im­mer wie­der über­schnit­ten. 

Der Verkehrsverein brachte zuhanden der amerikanischen Besatzungssoldaten eine kleine Willkommensbroschüre heraus. Sie kommt ziemlich globimässig daher. (Bild: pd)

Dieser Beitrag im HSG-Student:innenmagazin «Prisma» erhitzte 1976 die konservativen St.Galler Gemüter erheblich. (Bild: pd)

Auch dar­in liegt ein Wert von Pe­ter Stahl­ber­gers Stadt­ge­schich­te: Der Text schafft im­mer wie­der the­ma­ti­sche Quer­be­zü­ge, oh­ne Ab­stri­che im sys­te­ma­ti­schen Auf­bau und ei­ner strin­gen­ten Er­zähl­wei­se zu ma­chen. Ele­gant han­gelt er sich von The­ma zu The­ma und ar­bei­tet sich so pin­sel­strich­ar­tig durch die Jahr­zehn­te bis in die Ge­gen­wart vor.

Gros­ses Ge­schenk an Sankt Spar­pa­ket

An­ders noch als Eh­ren­zel­ler lie­fert Stahl­ber­ger im­mer wie­der Er­klä­rungs­an­sät­ze für ge­wis­se Phä­no­me­ne und er­laubt sich hie und da so­gar das ei­ne oder an­de­re Wert­ur­teil. Et­wa wenn er auf die dop­pel­mo­ra­li­sche St. Gal­ler «Will­kom­mens­kul­tur» hin­weist, die un­ter dem Strich vor al­lem gut aus­ge­bil­de­ten Dis­si­dent:in­nen aus den kom­mu­nis­tisch re­gier­ten So­wjet­län­dern ent­ge­gen­ge­bracht wur­de und we­ni­ger den von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ver­folg­ten Jü­din­nen und Ju­den oder spä­ter den Sai­son­niers aus Süd­eu­ro­pa oder den Kriegs­ge­flüch­te­ten aus dem zer­fal­len­den Ju­go­sla­wi­en. Oder wenn er im Ka­pi­tel über die städ­ti­sche Kul­tur­för­der­po­li­tik die Fra­ge, ob die­se ei­ne rei­ne Er­folgs­ge­schich­te sei, gleich sel­ber be­ant­wor­tet: «Das denn doch nicht.» Er ver­weist hier­bei auf die bis heu­te an­dau­ern­de Raum­su­che der frei­en Tanz-, Thea­ter- und Mu­sik­sze­ne und auf die gän­gi­ge Pra­xis der öf­fent­li­chen Hand, dass es zu­erst im­mer ein Vor­bild aus ei­ner an­de­ren Stadt oder zu­min­dest ei­nen Test­be­trieb braucht, be­vor man ein län­ger­fris­ti­ges En­ga­ge­ment wagt.

Et­was gnä­di­ger zeigt sich Pe­ter Stahl­ber­ger in sei­nem Ge­samt­ur­teil im drit­ten Buch­teil, der die ak­tu­el­len Her­aus­for­de­run­gen der Stadt in ei­ner zu­neh­mend glo­ba­li­sier­ten und di­gi­ta­li­sier­ten Welt be­han­delt, über die Vi­si­ons­lo­sig­keit, die in St.Gal­len manch­mal vor­herrscht. Dass St.Gal­len ge­ne­rell klei­ne Schrit­te den gros­sen Wür­fen vor­zieht, be­zeich­net er als Prag­ma­tis­mus. Hier wir­ken die läh­men­den Sti­cke­reik­ri­sen­jah­re eben nicht nur men­tal bis heu­te nach. Aus fi­nan­zi­el­len Eng­päs­sen konn­te man sich bei al­len kon­junk­tu­rel­len Auf­schwün­gen nach den Bais­sen in den 70ern und 90ern bis heu­te nicht lö­sen. Der in­ner­kan­to­na­le Steu­er­wett­be­werb ver­kom­pli­ziert die La­ge zu­sätz­lich und die De­bat­ten über ei­nen ge­rech­ten Zen­trums­las­ten­aus­gleich dürf­te kaum je ab­schlies­send ge­führt sein.

Der Ent­scheid, den rei­chen An­mer­kungs- und Quel­len­ap­pa­rat an den Schluss des Texts zu stel­len, dient dem Le­se­fluss. Ob­wohl zu den vie­len The­men, die im Buch auf­ge­nom­men wer­den, teils schon ei­ni­ges pu­bli­ziert wur­de, stützt Pe­ter Stahl­ber­ger nicht nur auf be­stehen­de Li­te­ra­tur ab. Er hat auch viel Grund­la­gen­for­schung im Stadt-, im Staats- und in Zei­tungs­ar­chi­ven be­trie­ben und teils Zah­len er­ho­ben, die man so bis­her noch nicht ge­le­sen hat. Eben­so dem Le­se­fluss zu­lie­be ver­zich­tet er aber auf Ta­bel­len­hu­be­rei.

Und eben­so auf po­li­tisch über­kor­rek­te, aber oft um­ständ­li­che Be­griffs­meie­rei. Dass zum Bei­spiel sucht­kran­ke Per­so­nen bei Stahl­ber­ger noch «Dro­gen­ab­hän­gi­ge» heis­sen oder auf die Ver­wen­dung von bi­na­ri­täts­über­win­den­den Plu­ral-Dop­pel­punk­ten oder -Stern­chen ver­zich­tet wur­de, ist schon fast ver­nach­läs­sig­bar. Die zu­sam­men­ge­tra­ge­nen und be­hut­sam aus­ge­wähl­ten wört­li­chen Zi­ta­te von Zeit­zeug:in­nen un­ter­schied­lichs­ter Cou­leur (zum Bei­spiel von Ju­gend­schutz­po­li­zis­tin Hei­di Sei­le, von der Sucht­be­trof­fe­nen Brit­ta Ser­wart oder vom Leh­rer:in­nen­ver­tre­ter Mar­kus Ro­mer) ma­chen die­se Stadt­ge­schich­te über wei­te Stre­cken mensch­lich und nah­bar. Der so­zio­lo­gisch ge­präg­te Zu­griff auf die His­to­rie und das jour­na­lis­ti­sche Ver­ständ­nis für die Ent­wick­lun­gen und Kon­ti­nui­tä­ten in Stadt und Be­völ­ke­rung ta­ten ihr Üb­ri­ges. Per­sön­li­che Er­in­ne­run­gen wa­ren für das Ge­lin­gen die­ser Über­blicks­ar­beit si­cher­lich eben­so dien­lich wie das zehn­jäh­ri­ge Stö­bern in den Ar­chi­ven.

Wie viel per­sön­li­ches En­ga­ge­ment in die­sem Buch steckt, das als Le­se­stück und dank aus­führ­li­chem Re­gis­ter auch als Nach­schla­ge­werk funk­tio­niert, lässt sich nur er­ah­nen. Pe­ter Stahl­ber­ger hat es sich die letz­ten zehn Jah­re er­run­gen. Pas­send da­zu fin­det die Ver­nis­sa­ge nicht im alt­ehr­wür­di­gen Stadt­haus­saal statt, wo der Au­tor schon so man­chen Vor­trag hielt, son­dern im Pa­lace, ei­nem Kul­tur­ort (und auch so et­was wie das Stamm­lo­kal sei­nes Soh­nes Ma­nu­el Stahl­ber­ger), der sich sei­nen Raum und sei­ne Po­si­ti­on im kul­tu­rel­len Stadt­le­ben eben­falls er­rin­gen muss­te. 

Die Stadt hat sich – im Ge­gen­satz zu an­de­ren öf­fent­li­chen und pri­va­ten Kör­per­schaf­ten – an den Ent­ste­hungs­kos­ten zum Buch nur sehr be­schei­den be­tei­ligt. Die Stadt St.Gal­len seit dem Zwei­ten Welt­krieg ist so vor al­lem auch ein Ge­schenk des 80-jäh­ri­gen Au­tors an sei­ne Hei­mat­stadt. Ein gros­ses Ge­schenk, das im Grun­de in je­de gut sor­tier­te St. Gal­ler Pri­vat­bi­blio­thek ge­hört, zu­min­dest aber als Grund­la­gen­werk für zeit­ge­nös­si­sche Stadt­ge­schich­te in je­des Schul­zim­mer.

 

Pe­ter Stahl­ber­ger: Die Stadt St.Gal­len seit dem Zwei­ten Welt­krieg, VGS Ver­lags­ge­nos­sen­schaft, St.Gal­len 2025.

Buch­ver­nis­sa­ge: 4. No­vem­ber, 19 Uhr, Pa­lace, St.Gal­len.
vgs-sg.ch

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