Es braucht einiges an Erfahrung, Wissen und Durchhaltewillen, um ein Projekt dieser Grössenordnung zu stemmen. Umso mehr, wenn man nicht im Auftrag der Öffentlichkeit – in diesem Fall einer sparpaketbelasteten Stadt – handelt und den Ansprüchen genügen will, die ein gestandener Historiker und ehemaliger NZZ-Journalist vom Format eines Peter Stahlberger (1945) an sich selbst stellt.
Unter diesen Prämissen kann so etwas eigentlich nur als gereiftes «Alterswerk» gelingen. Darin unterscheidet sich der Autor wenig von Ernst Ehrenzeller, der 1988 im Alter von 70 Jahren die bislang «gültige», umfassendste, stellenweise natürlich überholte Geschichte der Stadt St.Gallen publizierte, die bei Gallus beginnt und in der Nachkriegszeit endet.
Stahlbergers soeben bei der Verlagsgenossenschaft erschienenes, gut 400 Seiten starkes und reich bebildertes Buch Die Stadt St.Gallen seit dem Zweiten Weltkrieg setzt nun da an, wo Ehrenzeller aufgehört hat. Es gibt bei letzterem zwar das Kapitel St.Gallen seit 1945, doch beschränkt er sich darin – natürlich auch aus Platzgründen, aber auch aufgrund einiger methodischer blinder Flecken – auf die gröbsten Züge der Bau-, Infrastruktur-, Verwaltungs- und Politikgeschichte. Die Stadtbevölkerung und deren Lebensumstände verbleiben in Ehrenzellers Analyse weitgehend im Hintergrund.
Befreite aus dem Konzentrationslager Theresienstadt Anfang Februar 1945 im Schulhaus Hadwig. Der Offizier im Hintergrund ist der Arzt und Luftschutz-Hauptmann Hans Richard von Fels. Nachdem er einmal 40 ehemalige Häftlinge ärztlich untersucht und von ihnen Details über den KZ-Alltag erfahren hatte, konnte er seine Erschütterung in seinem Tagebuch kaum in Worte fassen: Es sei «ein namenloses Elend. (…) Man will und will es nicht begreifen, dass diese Dinge, die man im Geschichtsbuch vom Altertum las, nun wieder Wirklichkeit geworden sind.» (Bild: pd/Stadtarchiv St.Gallen)
Stahlberger hingegen geht in seiner Arbeit weit über das holzschnittartige Nacherzählen der Ereignisgeschichte hinaus. Ihn interessieren die Menschen und vor allem auch die vorherrschenden, wie neu geschaffenen Strukturen, die deren Leben bis heute beeinflussen. Alltagsthemen oder flucht-, migrations-, frauen- und andere bewegungsgeschichtliche Aspekte, die bei Stahlberger immer wieder aufscheinen und teils vertieft werden – etwa im besonders lesenswerten Kapitel Sozialer Wandel und Solidarität mit Schwächeren – fallen bei Ehrenzeller komplett unter den Tisch.
Die «langen» 1940er
Stahlbergers Stadtgeschichte ist in drei Teile gegliedert: Übergang, Wachstum, Herausforderungen. Im ersten Teil geht es um die Übergangsphase von der krisenhaften Kriegs- in die blühende Nachkriegszeit. Hier räumt der Autor auf mit der sich hartnäckig haltenden Vorstellung, der Boom habe erst nach 1945 eingesetzt. Er zeigt auf, dass der wirtschaftliche wie der demografische Aufschwung bereits ab 1940/41 einsetzte, zu einer Zeit also, in der man allgemein noch wenig Grund hatte, optimistisch in die nähere Zukunft zu blicken. Stahlberger verortet die Gründe für den früh einsetzenden Babyboom vor allem bei der neuen, auf Familien zugeschnittenen Sozialpolitik. Es gab Kinderzulagen und dank des Wehrpflichtersatzes waren Familien zudem besser vor existenzbedrohenden Einkommensausfällen der Aktivdienstleidenden geschützt als noch zu Zeiten des Ersten Weltkriegs. Und die allgemeine Teuerung führt auch aus rein ökonomischen, nicht bloss romantischen Überlegungen zur vermehrten Zusammenlegung von Haushalten.
Amerikanische Besatzungssoldaten auf Urlaub prägten in den ersten Nachkriegsjahren das St. Galler Strassenbild wesentlich mit. Dies löste, verbunden mit dem erlösenden, für die Alliierten siegreichen Kriegsende und katalysiert durch einen wiedererstarkenden Antikommunismus, eine wahre Amerikabegeisterung aus. Die schicken und stets gut parfümierten Amerikaner brachten nebst Jeans, Jazz, Kaugummi und Kondomen auch eine neue Autokultur nach Festlandeuropa. St. Galler:innen, die es sich leisten konnten, beschafften sich nach Möglichkeit einen eleganten «Amischlitten», der ihnen ein neues Lebensgefühl der Freiheit und Unabhängigkeit vermittelte.
Die Kehrseite zeigte sich in der rasch zunehmenden Platznot auf den Strassen und dem Anstieg der Unfallzahlen, als das Auto Anfang der 50er immer mehr vom Luxus- zum Alltagsgut wurde. Die Stadtpolizei kam bald an den Anschlag, das Personal musste aufgestockt, die Signalisierung technisch nachgerüstet werden. Und auch die Planungen für das Nationalstrassennetz – ein Thema, das die Schweiz und vor allem auch die Gallusstadt bekanntlich bis heute beschäftigt – setzten in den 40ern ein.
Die Multergasse 1963 (links) und 1984 (oben) im Vergleich: Strassen und Gassen vom Autoverkehr zu befreien, war einst auch ein von der Standortförderung gewünschtes Mittel zur Altstadtbelebung. (Bilder: pd/Stadtarchiv St.Gallen)
Gestärkt durch erste Erfolge in der sogenannten «Anbauschlacht» und eine gefestigte «geistige Landesverteidigung», entwickelte sich schon früh in der zuvor krisengeschüttelten Stickereistadt ein neues Selbstbewusstsein. Das drückte sich etwa in der Gründung der Olma-Messe 1943 aus. Oder auch in der von den Metzgereien und dem Kaufmännischen Direktorium geforderten, von der finanziell unzufriedenen Lehrerschaft abgelehnten raschen Wiedereinführung des Kinderfestes 1947, nachdem sich der Festwiesenboden im ersten Nachkriegsjahr von seiner Zwischennutzung als Ackerfläche erholen konnte.
Knapp ein Viertel des Buches von Peter Stahlberger ist dieser Übergangsphase gewidmet. Im Gespräch mit Saiten sagt der Autor, dass es ihm während der Recherchen die 40er-Jahre besonders angetan hätten. Gerade weil hier Kriegskrise und Aufbruch nicht einfach aufeinander folgten, sondern sich überlappten. In Anlehnung an den deutschen Sozialhistoriker Ulrich Wehler (Bielefelder Schule) schreibt Stahlberger im Einstieg: «Die Geschichte kennt keine ‹Stunde null›.» So wenig wie Deutschland nach der Kapitulation einen kompletten Neuanfang erlebte, endete die Kriegszeit 1945 in St.Gallen, was sich etwa in der vom Bundesrat bis 1948 fortgeführten Rationierungspolitik oder im lokal heiss debattierten behördlichen Umgang mit den in der Stadt verbliebenen Anhänger:innen des gefallenen NS-Regimes ausdrückte.
Bauboom, Planungswut und Kulturk(r)ämpfe
Der zweite und gleichzeitig inhaltliche Hauptteil des Buches befasst sich mit den Nachkriegsentwicklungen bis in die 1990er-Jahre und teils auch etwas darüber hinaus. Ein Fokus liegt auf dem in den 50ern einsetzenden Gebäude- und Strassenbauboom, der zeitweise in eine ausgewachsene Planungs- und Abrisswut mündete. Viel historische Bausubstanz wurde dem Fortschritt «geopfert». Bestes Beispiel hierfür: das alte Stadttheater am Bohl, das einem Neubau weichen musste, in dem heute eine Fast-Food-Kette untergebracht ist.
Stahlberger liefert eingehende Betrachtungen zu architektonischen und infrastrukturellen Veränderungen wie beispielsweise zum Ausbau der Energie- und Wasserversorgung. Mit der Einführung des Gebührensacks nahm St.Gallen 1975 endlich wieder einmal bei irgendwas eine Pionierrolle ein. Auch der Gesundheitsversorgung und den Spitälern oder dem Bildungsstandort (Institut, HSG, Flade) ist je ein Kapitel gewidmet. Dabei handelt der Autor nicht blosse Gebäude- und Institutionengeschichte ab, sondern kontextualisiert auch die Debatten darum.
Gleich mehrere Kapitel widmen sich dem Themenkreis Verkehr und Mobilität, und der Eindruck erhärtet sich, dass in St.Gallen in den letzten 80 Jahren über nichts so ausgiebig und emotional debattiert wurde wie über Strassen und Parkplätze. Journalist Niklaus Meienberg bezeichnete die Stadtbevölkerung einmal als «bohnenstrohdumm», weil sie es zugelassen hatte, dass man mit dem Splügen-Autobahnzubringer sein altes Heimatquartier St.Fiden zerschnitt. Ähnlich aufgeheizt war die allgemeine Debatte vermutlich nur einmal, als die Stadt in den frühen 90er-Jahren eine fortschrittlichere Drogenpolitik mit «Fixerstübli» und kontrollierter Heroinabgabe anstrebte, die sie aber nach verlorener Abstimmung nur auf Umwegen und mit zeitlicher Verzögerung allmählich umsetzen konnte.
Die Forderungen der vergleichsweise eher kleinen 68er- und 80er-Bewegungen nach gesellschaftlichem Wandel, Auflösung starrer Rollenbilder und mehr kulturellen und anderen Freiräumen bewirkten zwar enorm viel im Stadtkulturleben, erhitzten letztlich aber weniger Gemüter als die städtische Verkehrs- und Drogenpolitik. Auch wenn sich all diese Themen natürlich immer wieder überschnitten.
Der Verkehrsverein brachte zuhanden der amerikanischen Besatzungssoldaten eine kleine Willkommensbroschüre heraus. Sie kommt ziemlich globimässig daher. (Bild: pd)
Dieser Beitrag im HSG-Student:innenmagazin «Prisma» erhitzte 1976 die konservativen St.Galler Gemüter erheblich. (Bild: pd)
Auch darin liegt ein Wert von Peter Stahlbergers Stadtgeschichte: Der Text schafft immer wieder thematische Querbezüge, ohne Abstriche im systematischen Aufbau und einer stringenten Erzählweise zu machen. Elegant hangelt er sich von Thema zu Thema und arbeitet sich so pinselstrichartig durch die Jahrzehnte bis in die Gegenwart vor.
Grosses Geschenk an Sankt Sparpaket
Anders noch als Ehrenzeller liefert Stahlberger immer wieder Erklärungsansätze für gewisse Phänomene und erlaubt sich hie und da sogar das eine oder andere Werturteil. Etwa wenn er auf die doppelmoralische St. Galler «Willkommenskultur» hinweist, die unter dem Strich vor allem gut ausgebildeten Dissident:innen aus den kommunistisch regierten Sowjetländern entgegengebracht wurde und weniger den von den Nationalsozialisten verfolgten Jüdinnen und Juden oder später den Saisonniers aus Südeuropa oder den Kriegsgeflüchteten aus dem zerfallenden Jugoslawien. Oder wenn er im Kapitel über die städtische Kulturförderpolitik die Frage, ob diese eine reine Erfolgsgeschichte sei, gleich selber beantwortet: «Das denn doch nicht.» Er verweist hierbei auf die bis heute andauernde Raumsuche der freien Tanz-, Theater- und Musikszene und auf die gängige Praxis der öffentlichen Hand, dass es zuerst immer ein Vorbild aus einer anderen Stadt oder zumindest einen Testbetrieb braucht, bevor man ein längerfristiges Engagement wagt.
Etwas gnädiger zeigt sich Peter Stahlberger in seinem Gesamturteil im dritten Buchteil, der die aktuellen Herausforderungen der Stadt in einer zunehmend globalisierten und digitalisierten Welt behandelt, über die Visionslosigkeit, die in St.Gallen manchmal vorherrscht. Dass St.Gallen generell kleine Schritte den grossen Würfen vorzieht, bezeichnet er als Pragmatismus. Hier wirken die lähmenden Stickereikrisenjahre eben nicht nur mental bis heute nach. Aus finanziellen Engpässen konnte man sich bei allen konjunkturellen Aufschwüngen nach den Baissen in den 70ern und 90ern bis heute nicht lösen. Der innerkantonale Steuerwettbewerb verkompliziert die Lage zusätzlich und die Debatten über einen gerechten Zentrumslastenausgleich dürfte kaum je abschliessend geführt sein.
Der Entscheid, den reichen Anmerkungs- und Quellenapparat an den Schluss des Texts zu stellen, dient dem Lesefluss. Obwohl zu den vielen Themen, die im Buch aufgenommen werden, teils schon einiges publiziert wurde, stützt Peter Stahlberger nicht nur auf bestehende Literatur ab. Er hat auch viel Grundlagenforschung im Stadt-, im Staats- und in Zeitungsarchiven betrieben und teils Zahlen erhoben, die man so bisher noch nicht gelesen hat. Ebenso dem Lesefluss zuliebe verzichtet er aber auf Tabellenhuberei.
Und ebenso auf politisch überkorrekte, aber oft umständliche Begriffsmeierei. Dass zum Beispiel suchtkranke Personen bei Stahlberger noch «Drogenabhängige» heissen oder auf die Verwendung von binaritätsüberwindenden Plural-Doppelpunkten oder -Sternchen verzichtet wurde, ist schon fast vernachlässigbar. Die zusammengetragenen und behutsam ausgewählten wörtlichen Zitate von Zeitzeug:innen unterschiedlichster Couleur (zum Beispiel von Jugendschutzpolizistin Heidi Seile, von der Suchtbetroffenen Britta Serwart oder vom Lehrer:innenvertreter Markus Romer) machen diese Stadtgeschichte über weite Strecken menschlich und nahbar. Der soziologisch geprägte Zugriff auf die Historie und das journalistische Verständnis für die Entwicklungen und Kontinuitäten in Stadt und Bevölkerung taten ihr Übriges. Persönliche Erinnerungen waren für das Gelingen dieser Überblicksarbeit sicherlich ebenso dienlich wie das zehnjährige Stöbern in den Archiven.
Wie viel persönliches Engagement in diesem Buch steckt, das als Lesestück und dank ausführlichem Register auch als Nachschlagewerk funktioniert, lässt sich nur erahnen. Peter Stahlberger hat es sich die letzten zehn Jahre errungen. Passend dazu findet die Vernissage nicht im altehrwürdigen Stadthaussaal statt, wo der Autor schon so manchen Vortrag hielt, sondern im Palace, einem Kulturort (und auch so etwas wie das Stammlokal seines Sohnes Manuel Stahlberger), der sich seinen Raum und seine Position im kulturellen Stadtleben ebenfalls erringen musste.
Die Stadt hat sich – im Gegensatz zu anderen öffentlichen und privaten Körperschaften – an den Entstehungskosten zum Buch nur sehr bescheiden beteiligt. Die Stadt St.Gallen seit dem Zweiten Weltkrieg ist so vor allem auch ein Geschenk des 80-jährigen Autors an seine Heimatstadt. Ein grosses Geschenk, das im Grunde in jede gut sortierte St. Galler Privatbibliothek gehört, zumindest aber als Grundlagenwerk für zeitgenössische Stadtgeschichte in jedes Schulzimmer.
Peter Stahlberger: Die Stadt St.Gallen seit dem Zweiten Weltkrieg, VGS Verlagsgenossenschaft, St.Gallen 2025.
Buchvernissage: 4. November, 19 Uhr, Palace, St.Gallen.
vgs-sg.ch