Saiten: Nach 44 Jahren und über 4000 Auftritten mit Hanna bist du auf Abschiedstournee. Wie läufts?
Gardi Hutter: Es ist der Wahnsinn: Die Leute lachen, weinen, reagieren mit Standing Ovations, strahlenden Gesichtern und vielen positiven Rückmeldungen und vollen Sälen. Gleichzeitig ist es eine anstrengende Tour, sie ist umfassender geworden als geplant. Ich spiele zu viel, weshalb ich auf den Stümpen bin. Dennoch geben mir meine Auftritte viel Energie. Deshalb frage ich mich manchmal: Will ich wirklich damit aufhören?
Willst du?
Ich habe das Gefühl, mein Publikum will es nicht. Es ist auch ein Risiko, mit etwas aufzuhören, das funktioniert – das ist gegen alle Regeln. Aber ich fühle kreative Notwendigkeit, Gewicht abzuwerfen und Material loszuwerden. Ich will nicht mehr mit der roten Nase auftreten. Was ich keinesfalls aufgeben will, ist das lustige Theater. Bei meinem Programm sollen alle reinkommen. Ich will nochmals etwas Neues versuchen und wenn es gar nicht klappt, gibt es halt ein Hanna-Comeback.
Warum wollen die Leute Hanna nicht loslassen?
Die Leute gehen als Hanna an die Fasnacht und sie ist das Objekt zahlreicher Masterarbeiten oder Aufsätze. Ich denke, dass ich mit ihrer Figur etwas Altes aufgegriffen habe. Da ich in Altstätten aufgewachsen bin, waren die dortige Fasnacht und die katholische Messe für meine Stücke grundlegend. In der Messe versucht man einen guten Menschen zu formen, an der Fasnacht lässt man alles Wilde raus. Ein Clown verkörpert das alles, er verbindet das Sakrale mit dem Profanen, das Archaische, das Politische, das menschliche Dasein, die Gier, die Unfähigkeit – alles Attribute, die existenziell zum menschlichen Dasein dazugehören. Der Clown stammt aus der uralten Tradition, dass sich einmal im Jahr das Tor zu den Toten öffnet, die dann mit uns festen und wieder gehen. Fasnacht, Silvester und Halloween haben bis heute überlebt. Früher war der Tod mehr Teil des Lebens, heute geht man ins Hospiz zum Sterben, das Memento mori wurde ausrationalisiert. Mit Hanna habe ich dem Tod Präsenz gegeben, ich bin über 4000-mal auf der Bühne gestorben, ich habe ziemlich viel Übung im Sterben.
Deshalb nimmst du in deinem nächsten Stück Abschied vom Tod?
Im nächsten Stück interessiert mich die Geburt. Sie steht am anderen Ende und stellt die grundlegende Frage, wie aus Nichts etwas entstehen kann. Auf die wichtigsten Fragen unseres Lebens haben wir nach wie vor keine Antworten. Wir wissen zwar jeden Tag, was wir zu tun haben und was es zu erledigen gilt. Wir beschäftigen uns damit, was uns stört und verbringen unsere Zeit in einem sozialen Netz, das anstrengend ist. Wie in einem Ameisenhaufen wimmeln wir herum. Dabei ist unser Planetli Erde winzig und im Vergleich zu all den Milliarden Planeten um uns herum unwichtig. Und wir sind ständig von irgendwelchen Apparaten abgelenkt. Das Theater ist dabei einer der letzten analogen Orte. Hier ist man im absoluten Jetzt. Und Clownstücke verkörpern dabei die grossen Dramen: Es geht um Katastrophen, ums Scheitern. Im Privaten will niemand ein Clown sein. Ich aber mache mich freiwillig lächerlich. In acht meiner neun Stücke bin ich am Ende tot. Dann geht ein Seufzer durchs Publikum. Zuvor wurde eine Stunde gelacht, was einer inneren Massage gleichkommt. Denn Lachen ist eine kulturelle Erfindung, im Gegensatz zum Weinen, was eine «natürliche» Reaktion ist. Insofern ist über etwas zu lachen die intelligentere Reaktion, als über etwas zu weinen.
Wie weit bist du mit dem neuen Stück?
Ich arbeite seit zwei Jahren daran. Es wird reduzierter. Aktuell bin ich immer mit Techniker:innen und Equipment mit dem Bus unterwegs. Ich liebe es, meine alten Stücke zu spielen – es fühlt sich an, wie mit gut eingelaufenen Bergschuhen zu wandern. Aber ich freue mich auch darauf, in Zukunft mit dem Zug unterwegs zu sein. Am Paula Interfestival diesen Sommer in St.Gallen werde ich in der ersten Woche meine vier alten Stücke zeigen und in der Woche darauf mein neues Programm. Es wird also gleichzeitig Dernière und Hauptprobe.
Wie kommts zur Zusammenarbeit mit dem Paula Interfestival?
Ich habe lange mit dem Theater St.Gallen verhandelt, wo ich oft gespielt habe. Zwar ist der alte Direktor kürzlich gegangen, aber es haben auch unter der neuen Leitung mehrere Gespräche stattgefunden, doch mitten in den Verhandlungen hat meine Agentur einfach keine Antwort mehr erhalten. Am Telefon war niemand verfügbar. Das empfinde ich als respektlos. Natürlich sind sie zu nichts verpflichtet, aber einer einheimischen Künstlerin, die mehrmals das Haus gefüllt hat, nicht zu antworten, fühlt sich für mich schäbig an. Und so wollte ich bei meiner Abschiedstournee St.Gallen auslassen. Dann kam der Anruf vom Paula Interfestival mit der Frage, ob ich bei ihnen spiele, und ich habe mich sehr gefreut. Auch weil am Interfestival viele jüngere Leute im Publikum sitzen, die bei meinen Auftritten im etablierten Theater eher in der Unterzahl sind. Theater ist in Europa nicht «der Ort» für Junge, in Brasilien ist mein Publikum 20 bis 30 Jahre jünger. Wenn die Jüngeren meine Stücke sehen, sind sie überrascht und haben den Plausch. Und auch ich brauche die Auftritte in kleineren Häusern – sie bieten ein Netzwerk, das guttut.
Welche Rolle hat das Rheintal in deinem Werdegang gespielt?
Ich bin in den 1960er-Jahren aufgewachsen, damals war die Welt eine andere. Es war Frauen verboten, Hosen zu tragen, es gab ein Konkubinatsverbot, es gab kein Frauenstimmrecht, alles war streng, rigide und kontrolliert. Diese Welt bot Mädchen keine Möglichkeiten. Deshalb habe ich auch eingewilligt, dass eine Biografie über mich verfasst wird. Die Jungen heute können sich nicht vorstellen, wie das war. Die Bildung für Frauen wurde systematisch eingeschränkt, die einzige Option war Mutter und Hausfrau. Das habe ich noch erlebt, es ist noch kein Jahrhundert her.
Du lebst seit langem im Tessin. Hast du Bezug zur alten Heimat?
Mein Bruder lebt hier, und immer, wenn ich in der Ostschweiz bin, fällt mir auf, dass es hier viele Originale gibt. Früher wurden sie «Spinner» genannt, aber es sind oft faszinierende Personen, die nicht einfach kopieren, sondern tolle Sachen aus dem eigenen Sud kreieren – und sich keinen Deut um die Meinung anderer kümmern. Heute könnte ich auch wieder hier leben.
Welche Rolle spielt der Feminismus in deiner Kunst?
Eine komische Frau auf die Bühne zu stellen, war für mich ein zutiefst feministischer Akt. Denn es gab früher keine weiblichen Clowns. Oder man hat sie nicht gesehen, vielleicht haben Frauen in Männerkleidern Clowns gespielt oder sie wurden in die Psychiatrie gesteckt, weil Frauen nicht komisch sein sollen. Komik ist aggressiv und entlarvend – das passte nicht zu den «weiblichen Tugenden». Frauen weinten still in ihrer Kammer und Männer tranken in der Beiz und stritten. Das Diktat, was weiblich ist und was nicht, hat sich verändert. Ein Journalist hat einst über mich geschrieben, wenn eine Frau auf der Bühne schwitze, sei sie wie ein Tier. Meinen Schweiss fand er «unappetitlich», er hat ihn erschreckt. Manchmal verliessen auch Zuschauer empört den Saal, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Früher habe ich wohl aggressiver gespielt, heute ist mehr die Verliererseite wichtig, wir haben uns alle entspannt. Dennoch halten sich gewisse Frauen- und Männerbilder zäh. Aber ich freue mich über mein autonomes Leben und schätze die Freiheiten, die keine Generation von Frauen vor mir hatte.
Gardi Hutter, 1953, ist in Altstätten aufgewachsen, hat sich an der Schauspiel Akademie Zürich (heute ZHdK) ausgebildet und im Centro di Ricerca per il Teatro Milano ihren eigenen Clownstil entwickelt. Seit 1981 hat sie neun Clown-Theaterstücke produziert und in über 35 Ländern aufgeführt. Die zweifache Mutter hat in der Schweiz und im Ausland über 20 Kunstpreise erhalten. Ausserdem sind von ihr drei Kinderbücher und eine Biografie erschienen.
Gardi Hutters Hanna-Dernièren am Paula Interfestival: 13. August (Die tapfere Hanna), 14. August (So
ein Käse), 15. August (Die Souffleuse), 16. August (Die Schneiderin), jeweils im Saal 1 der Lokremise St.Gallen.