, 28. April 2023
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«Ich hoffte immer auf eine Revolution»

Kaum eine hat die feministische Bewegung in St.Gallen so geprägt wie Alexa Lindner Margadant. Im Interview spricht sie über ihr Verhältnis zur SP, in der sie seit 70 Jahren aktiv ist, über legendäre 1.-Mai-Feste in Flawil und ihre Faszination für die Stenografie. von Matthias Fässler

Alexa Lindner Margadant, 1936, hilft heute im Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte mit bei der Aufnahme neuer Bücher. (Bilder: Sara Spirig)

Saiten: Du hast vor Kurzem dein 70-Jahr-Jubiläum in der SP gefeiert. Wie hast du es so lange in der Partei ausgehalten?

Alexa Lindner: (lacht) Das ist eine gute Frage, denn ich habe mich auch oft geärgert. Aber wenn ich mir die Parteien in der Schweiz anschaue, dann ist die SP für mich wirklich die einzige Möglichkeit. Sie ist die Partei, die darauf schaut, dass es allen gut geht, vor allem den Schwächsten der Gesellschaft. Mir gefällt auch das aktuelle Präsidium, insbesondere ihre Haltung, wenn mal wieder etwas beschlossen wird, wo die Frauen schlechter wegkommen.

Dieses Wohlfühlen in der Partei ist aber nicht selbstverständlich: 1972 wurdest du zur ersten Präsidentin der SP des Kantons St.Gallen gewählt und ein Jahr später abgesägt.

Der Sekretär des Gewerkschaftsbundes mochte mich nicht, weil ich eine völlig andere Herangehensweise hatte, die Partei zu führen. Ich wollte unsere Taktik, unsere Inhalte von Grund auf gemeinsam diskutieren, das war für mich selbstverständlich. Er fand aber, ich sei eine Präsidentin, die nicht wisse, was sie wolle. Als Präsidentin müsse man die Dinge durchsetzen. Das wollte ich aber nicht.

Hattest du damals auch als Frau einen schweren Stand, in einer damals noch sehr männerdominierten Partei?

Das ist möglich, aber ich glaube nicht, dass dies der Hauptkonflikt war. Wir mochten uns einfach nicht. Wobei er mehr gegen mich hatte als ich gegen ihn.

Alexa Lindner Margadant, 1936, wurde in Alt St.Johann geboren. Sie arbeitete als Lehrerin für Maschinenschreiben, Stenografie, Bürotechnik und Informatik. Von 1972 bis 1974 und von 1993 bis 1998 sass sie für die SP im St.Galler Stadtparlament. Darüber hinaus war sie an zahlreichen Buch- und Ausstellungsprojekten, am Kampf für das Frauenstimmrecht, die Mutterschaftsversicherung und das Gleichstellungsgesetz beteiligt. Heute noch hilft sie im Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte mit bei der Aufnahme neuer Bücher.

Du bist der Partei bereits mit 16 beigetreten. Was hat dich dazu bewogen?

Mein Vater war Kantonspolizist und ihm war immer sehr klar, dass er einen politischen Lohn bezieht, nämlich einen sehr kleinen. Ich bin also in einem eher linken Elternhaus aufgewachsen. Ich fand dann eine Stelle als kaufmännische Angestellte in der Kanzlei von Harald Huber, einem damaligen SP-Nationalrat. Auch das hat mich geprägt. Zu Beginn habe ich in der Partei die Protokollführung der kantonalen Geschäftsleitung übernommen, eine Tätigkeit, die oft unterschätzt wird. Nie ist man näher im Innern einer Veranstaltung als beim Protokollführen. Man lernt, Menschen einzuschätzen. Man spürt, wer sich nervt, wer geduldig ist.

Die SP hat 1959, also in deiner Anfangszeit, ein ziemlich reformistisches Parteiprogramm verabschiedet, auch punkto Frauenrechte. Was war das für eine Partei, in die du eingetreten bist?

Mir war als Jugendliche die politische Ausrichtung der Partei noch gar nicht so bewusst. Aber natürlich politisierte ich dann immer am linken Rand der Partei. Ich habe schliesslich auch einen ehemaligen Kommunisten, Bruno Margadant, geheiratet. Mir gefiel das Umfeld der SP-Frauengruppe. Ich mochte vor allem die Arbeiterinnen, die mit Waschen und Putzen ihre Familien ernähren mussten, aber trotzdem immer treu zur Sache standen. Das hat mich sehr beeindruckt.

Du bist Ende der 90er-Jahre freiwillig aus dem Stadtparlament zurückgetreten, auch weil du keine Lust auf «Millimeterarbeit» hattest, wie du einmal sagtest. Du seist lieber an der Basis. Warum reizt dich diese Perspektive mehr?

Diese Millimeterarbeit im Parlament kam mir immer doof und langweilig vor. Wahrscheinlich hoffte ich immer auf eine Revolution. Und diese Revolution sollte eher von der Strasse ausgehen als vom Parlament. Aber natürlich: Die Partei hat mir immer auch viel gegeben, beispielsweise an die 1.-Mai-Feste habe ich die besten Erinnerungen. In Flawil haben wir zwischen 1973 und 1982 riesige Feste veranstaltet, an denen auch viele Italiener:innen teilnahmen. Dieses Gefühl, gemeinsam Die Internationale zu singen oder Avanti Popolo, das war wunderschön, das gab dir wieder Feuer für das ganze Jahr.

Du warst auch sonst immer auf der Strasse anzutreffen, etwa bei politischen Strassentheatern oder anderen kreativen Aktionsformen.

Ja, das hat mir auch immer mehr Spass gemacht, als im Parlament zu diskutieren. Im Parlament konntest du einen Vorstoss noch so gut begründen, und dann wurde er abgelehnt.

Du warst an der Gründung der Frauenbibliothek Wyborada und des Frauenarchivs (heute: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte) beteiligt. Wieso ist das Archivieren, die Erinnerungsarbeit so wichtig?

Sie ist gerade für die feministische Bewegung zentral. Nur so können wir beweisen, was Frauen alles geleistet haben. Und das ist eine ganze Menge! Darum ist es ganz wesentlich, über diese Frauen Bescheid zu wissen. Beispiele für solche Geschichten finden sich etwa im Buch Blütenweiss bis rabenschwarz, an dem ich beteiligt war. Eine meiner liebsten ist jene von Monika Polo-Kaiber. Sie hat mit praktisch null Bildung eine solch klare Haltung erarbeitet. Bei ihr wusste man immer: Auf sie ist Verlass. An den 1.-Mai-Umzügen setzte sie ihren Kindern im Kinderwagen jeweils rote Mützen auf und lief an der Demo mit. Dass Frauen oft nicht vorkamen oder vorkommen, hat natürlich damit zu tun, dass Geschichtsschreibung von den Patriarchen gemacht ist.

Neben dem feministischen Kampf hast du dich der Stenografie verschrieben. Was fasziniert dich daran?

Ich war beruflich darauf angewiesen. Denn es gab noch keine Aufnahmegeräte. Es hiess dann: «Fräulein Lindner, zum Diktat!» und ich habe stenografiert und es nachher an der Schreibmaschine abgetippt. Ich fand danach: Ich habe von der Stenografie gelebt, also muss ich ihr auch etwas zurückgeben. Ich bin heute noch im Stenografenverband aktiv. Ich bereite jeweils die Schön- und Rechtschreibeaufgaben für den «Stenostamm» vor. Und natürlich war mir Sprache immer wichtig. Ich hatte Freude daran, einen Artikel zu schreiben und mir zu überlegen, welcher Ausdruck am besten passt und wie ich verständlich schreiben kann.

Wie wichtig ist geschlechtergerechte Sprache für den Kampf für Gleichberechtigung?

Ich habe schon damals nicht «man», sondern «frau» geschrieben, uns war schon früher wichtig, nicht nur die männliche Form zu verwenden. Aber das Thema ist mir heute nicht mehr vordringlich.

Ein Thema, das dich das ganze Leben begleitet hat, ist die Frage nach Lohngleichheit. Wieso tut sich gerade die Schweiz so schwer mit der Umsetzung der Forderung «gleicher Lohn für gleiche Arbeit»?

Die Antwort ist einfach: Weil die linken Parteien zu schwach sind, diese Forderung umzusetzen. Alt Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat selber davon berichtet, wie sie weniger Lohn erhielt, obwohl sie die gleiche Arbeit wie ein Mann verrichtete. Ökonomische Fragen waren mir immer schon wichtig. Das Beispiel der Credit Suisse zeigt wieder einmal, wie der real existierende Kapitalismus funktioniert. Hier schaut man immer zuerst für sich. Die Manager schauen zuerst, dass es ihnen gut geht, was sonst passiert, ist ihnen Wurst.

Um strukturell tiefe Löhne geht es auch in der Pflege, deren Bedeutung die Coronakrise eindrücklich aufgezeigt hat. Steht die Pflege eigentlich exemplarisch für die strukturelle Ungleichheit zwischen Frauen und Männern?

Ja, natürlich. Auch darum mag ich Barbara Gysi besonders, weil sie dafür sorgt, dass es den Pflegenden besser geht. Ich kenne sie seit Jahren, ich weiss, auf sie ist Verlass. Dass übrigens im Ständeratswahlkampf nur Frauen antraten, war nicht wirklich Grund zur Freude für mich. Ich hielt das von Anfang an für reine Taktik.

Im Speziellen von der SVP?

Ja, die SVP ist eine unmögliche Partei. Auch sie schaut immer zuerst für sich.

Du hast einen Grossteil deines Lebens in St.Gallen verbracht. Hat es dich nie weggezogen?

Nein. Mir passt eigentlich alles an St.Gallen – ausser dem Klima, mir ist es oft zu frostig. Aber ich möchte an keinem anderen Ort leben. Hier kenne ich mich aus. Ich kenne die Leute, die politisieren. Einmal, an einem verregneten, kalten Herbsttag, habe ich eine Frau Flugblätter verteilen sehen. Es war unsere aktuelle Stadtpräsidentin Maria Pappa, übrigens eine ehemalige Schülerin von mir. Das hat mich so gefreut. An ihr schätze ich besonders, dass sie immer zu den Leuten geht, sie bleibt nicht einfach hinter ihrem Schreibtisch sitzen.

Du hast einmal gesagt, du seist früher viel zu brav gewesen. Das kann man sich bei einem so bewegten und mutigen Leben irgendwie gar nicht vorstellen. Wie meintest du den Satz?

In Momenten, in denen ich eine andere Meinung hatte als meine politischen Gegner, habe ich nicht richtig protestiert, sondern habe immer freundlich argumentiert. Ich hätte wohl mehr erreicht, wenn ich ein wenig «bösartiger» gewesen wäre.

Dieser Beitrag erschien im Maiheft von Saiten.

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