Gerade im Kontrast entfaltet der Doppelabend seine Kraft. Zwei Stücke, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch denselben Kern berühren: die Suche nach dem, was uns im Innersten bewegt. Das schreiende Verlangen nach Kontrolle, das verzweifelte Sehnen nach Freiheit. Aber was passiert bei einer Kollision der Wahrnehmungen? Es bleibt am Ende ein Kampf zwischen Sein und Schein. Eine verzweifelte Lage, so zwischen Stuhl und Bank zu fallen – oder wie im ersten Stück Vanishing Point - an einem Tisch sich hin- und hergerissen zu fühlen. Während in Rachelle Anaïs Scotts Choreografie Wahrnehmungsräume in poetischer Verhüllung immer wieder neu formiert werden, versuchen die Tänzer:innen in Time of my life mit ungebändigter Energie die Unmittelbarkeit des Moments zu feiern und sich von Konventionen und sozialen Zwängen frei zu tanzen – und das mit geballten Fäusten.
Mixed Crisis
In beiden Stücken wird in einem Spannungsfeld gekämpft, bis entweder alles verglüht oder sich alle – auch wenn schon längst am Boden – sich dem hingeben, was uns alle am Ende bleibt: dem Puls. Das Stück Vanishing Point ist eine Neukreation im Rahmen des Laufbahnförderprogramms NEXT STEPS des Migros-Kulturfestivals Steps und wird im kommenden Frühjahr auf Schweizer Tournee gehen.
Was beide Stücke verbindet, ist das Kreieren vielschichtiger, vibrierender Bilder und Atmosphären durch minimalistische Stilmittel. Dadurch sind die Tänzer:innen in Räumen voller Ambivalenzen auf sich selbst zurückgeworfen. Die Kompanie präsentierte sich auf einem Niveau von solcher Präzision und künstlerischen Qualität, dass das Publikum restlos gefesselt blieb – bis zur tobenden Standing Ovation am Schluss. Beide Stücke entlassen die Zuschauenden aber nicht mit klaren Antworten, sondern entführen sie in das Offene. Umso überraschender und unerwartet ist der vereinnahmte Effekt des Abends, der unter dem Titel Swiss Mix fast schon verharmlost wird – oder verschleiert?
Dem Wahnsinn nahe
Was teils aufgrund der Nähe zur Bühne selbst, aber auch der eindringlichen Präsenz der Tänzer:innen zuzuschreiben ist, ist, dass weder die erste noch die zweite Choreografie eine distanzierte Betrachtung zulässt. Beide Choreografien nehmen das Publikum auf einen Trip: Das Publikum lacht, erkennt sich selbst wieder, spürt den Rausch und die Intimität. Vanishing Point fordert die schwer fassbaren Grenzen zwischen Traum und Realität von Anfang an heraus, nicht zuletzt durch die kontemplativ-ätherische Musik (Davidson Jaconello) als auch durch das flackernd-hypnotische Farbenspiel (Lukas Marian), die eine Art Schwebezustand kreieren.
Verstärkt wird dies durch die Bewegungen der (maskierten) Tänzer:innen, die zwischen trancehafter Versenkung und eruptivem Kämpfen, zwischen flüsternder Zartheit und repetitivem Ringen, changieren. Es ist eine Sprache der Körper, die zerrissen und zugleich fließend wirkt, die sich überlagert, wiederholt, wie Wellen der Erinnerung und des Vergessens. Und auch wenn der oszillierende Kampf den Körper immer wieder auf die Knie zwingt, so sind die Umarmungen wie flüchtige Momente der Harmonie.
“That’s the way we like it!”
Während in der ersten Hälfte des Doppelabends eine träumerische Zwischenwelt dominiert, wird das Publikum nach der Pause bereits von den Tänzer:innen auf der Bühne erwartet und schonungslos mit der Realität konfrontiert: im offenen Bühnenraum, bunt-poppig gekleidet (Mikaela Kelly) stehen die Tänzer:innen wie angewurzelt zusammen, bis ein Metronom den Takt setzt, der sich in ein strammes Schrittgeräusch und dann zu einem kräftigen Techno-Beat verschärft (Basile Rosselet).
Anfangs noch marionettenhaft uniform, beginnen die einzelnen Individuen langsam auszubrechen. Und die Hemmungen fallen schnell und mit den Kleidern zu Boden. Kiyan Khoshoie entwirft ein rhythmisch-erfrischendes Tableau menschlicher Allüren zwischen Authentizität und wilden Moves, zwischen Hingabe und Unsicherheit. Eine rauschhafte Entäußerung, die zwischen Party und Befreiungsritual pulsiert und die durch das Singen oder Schreien berühmter Songzeilen der Tänzer:innen eine weitere, immanente und zugleich ironische Dimension aufmacht.
Beide Stücke sind in sich selbst anspruchsvoll. Doch ohne das Herzblut und den spürbaren Zusammenhalt der Tänzer:innen der Kompagnie wäre es kaum möglich, das Publikum so in die Spannungsfelder zu involvieren. Ein Doppelabend, der eindrucksvoll zeigt, wie Tanz Räume öffnen und Grenzen verschieben kann.
Swiss Mix: 26. September, 20 Uhr, LOK St.Gallen. Weitere Vorstellungen bis 6. November.