, 28. Oktober 2016
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In der Modehölle

Limited Editions, T-Shirts von Popstars und Ausverkaufstage wie der Black Friday – und andrerseits giftige Chemikalien und Menschen, die wie Sklaven schuften: Die Ausstellung «Fast Fashion» im Textilmuseum St.Gallen thematisiert die Schattenseite der Mode. von Nina Rudnicki.

Eine nagelneue Jeans im Kleidergeschäft hat über 30’000 Kilometer zurückgelegt, bevor wir sie überhaupt kaufen. In den Niederlanden designed, in Usbekistan die Baumwolle geerntet, in Indien gewoben, in China gefärbt, in Bangladesch genäht, in der Türkei veredelt, in der Schweiz verkauft. Und mit der Altkleiderentsorgung landet sie einige Zeit später in Sambia.

Das Plakat «Die Reise einer Jeans» im Textilmuseum St. Gallen macht nachdenklich. Es ist Teil der Ausstellung «Fast Fashion», welche die Schattenseite der Mode beleuchtet. «Man hat immer das Gefühl, man weiss schon alles. Aber je länger man sich mit dem Thema beschäftigt, desto mehr geht es einem unter die Haut», sagt Kuratorin Ursula Karbacher an der Vernissage. Klar weiss man, dass es giftige Chemikalien gibt, dass die Näherinnen in Bangladesch 16 Stunden am Stück arbeiten, dass Unmengen von Wasser für die Textilindustrie verschwendet werden. Nur vergisst man es eben schnell oder will es nicht wissen.

Fast Fashion: Textilmuseum St.Gallen, bis 5. Juni 2017, Katalog Fr. 10.-
textilmuseum.ch

Wieso nicht gleich nackt?

Slow Fashion heisst die Gegenbewegung zu dem Trend, sich alle paar Wochen möglichst viele, billige Kleider zu kaufen. Der Winterthurer Karikaturist Ruedi Widmer hat dazu für die Ausstellung Cartoons an die Wände gezeichnet: Nackte Frauen an der «Radical Slow Fashion Sharing Zürich» sind da zu sehen und solche, die ein überdimensionales Schneckenhaus tragen, mit dem sie gleich die nächsten fünf Modewellen überspringen können.

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Die geniale Lösung: Cartoon von Ruedi Widmer. (Bilder: Nina Rudnicki)

Die Cartoons befinden sich am Ende des Rundgangs. «Sie bilden sozusagen den spielerischen Abschluss der Ausstellung. Denn allzu bedrückt kann man seine Besucherinnen und Besucher ja nicht gehen lassen», sagt Karbacher. «Und die Ausstellung ist wirklich happig. Niemand kann danach mehr sagen, er habe nichts gewusst.»

Gewusst, dass von einem T-Shirt für 29 Euro eine Näherin gerade einmal 18 Cent Lohn bekommt, während der Gewinn, den die Kleiderfirma erzielt, 15 Euro beträgt? Auf einer Säule mitten im Ausstellungsraum kann man sich weitere solcher Beispiele anschauen: das Foto einer Frau in goldigem Sweater etwa, daneben die Zahl 0,09 Cent.

Die Ausstellung ist nicht zahlen- und textlastig, sondern arbeitet mit vielen Fotos, Filmen und Emotionen. Ein Film zeigt, wie sich Tänzerinnen zum Takt der Nähmaschinen bewegen. Eine Fotostrecke thematisiert die Recycling-Industrie: Lastwagen vollgestopft mit alten Kleidern, Fabrikhallen mit Türmen aus nach Farben sortierten Stofffetzen. Über 100 Tonnen Altkleider pro Jahr landen alleine in Indien, wo sie zu Recycling-Garn versponnen werden. Und dann gibt es erschütternde Fotos der verletzten Frauen und Todesopfer vom Fabrikeinsturz 2013 in Bangladesch, als über 1000 Näherinnen starben.

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Die Folgen des Modewahns – Fotostrecke zur Recycling-Industrie.

Limited Editions und Popstars als Designer

Der Fabrikeinsturz und der Tod von so vielen Mädchen und Frauen sei der Anlass für die Ausstellung über die Schattenseiten der Mode gewesen, sagt Claudia Banz vom Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Ihre Ausstellung ist gefragt. So wird sie nicht nur in St. Gallen im Textilmuseum gezeigt, sondern auch als Wanderausstellung in Manila und Australien. «Nach dem Einsturz fanden wir, dass es höchste Zeit ist, sich dem Thema Mode aus einer designkritischen Perspektive zu nähern», sagt Banz.

«Wir sind evolutionsbedingt Jäger und Sammler. Und da setzt das Marketing an.» Eine Erfindung des Marketings sind beispielsweise die Limited Editions, die uns vermitteln, dass wir etwas unbedingt haben wollen und müssen. Ein weiterer Trick sind Kooperationen zwischen Herstellern von Billigkleidern und Popstars. Die Konsumentin steht vor einem Geschäft Schlange, um irgendeines dieser «einzigartigen» Stück zu ergattern. «Damit wir alle zwei Wochen Tüten voller Kleider nach Hause tragen können, müssen andere Menschen wie Sklaven arbeiten», sagt Claudia Banz.

Aber selbst wenn man darauf achtet, was man kauft, wird es immer schwieriger, nachzuvollziehen, woher die Kleidung überhaupt kommt. «Die Textilindustrie wurde in den vergangenen Jahren immer intransparenter. Bei einer Jeans, die 40’000 Kilometer zurückgelegt hat, kann man einfach nicht mehr sagen, woher sie kommt.» Hinzu käme das Problem all der in Europa verbotenen Chemikalien, mit denen unsere Kleidung in den Herstellungsländern bearbeitet wird. Fotos in der Ausstellung zeigen einige Folgen auf: violett gefärbte Flüsse und kranke Menschen. 7000 Chemikalien gibt es insgesamt, mit denen Kleider behandelt werden.

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Im Dschungel der Labels.

Noch immer kein umfassendes Label

Auch Public Eye hat an der Ausstellung im Textilmuseum mitgewirkt. «Ein Label, das umfassend eine sozial- und umweltverträgliche Produktion von Kleidung garantiert, gibt es bisher nicht», heisst es auf der Homepage der entwicklungspolitische Organisation. Das ist ernüchternd. Allerdings sei es dennoch sinnvoll, auf Labels zu achten, sagt Christa Luginbühl von Public Eye. Diese seien eine wichtige Orientierungshilfe. Auf der Homepage findet sich eine Übersicht mit Erläuterungen zu den verschiedenen Label- und Zertifikat-Typen. Ausserdem können dort alle möglichen Zahlen rund um die Textilindustrie nachgeschaut werden. Beispielsweise:

60 Millionen Menschen arbeiten in der Schuh-, Kleider- und Textilindustrie für grosse Markenfirmen.

Eine Näherin in Rumänien muss eine Stunde arbeiten, um sich einen Liter Milch kaufen zu können.

Oder: Der grösste Fleischhersteller in Brasilien schlachtet pro Tag 100’000 Kühe, 70’000 Schweine und 25’000 Schafe. Das Leder geht direkt an Kleider- und Schuhhersteller. Von den Lebensbedingungen dieser Tiere braucht man erst gar nicht zu sprechen.

Was soll man also tun? Bewusster kaufen, weniger kaufen und sich immer fragen, brauche ich das wirklich? Das ist die Botschaft der Ausstellung. Und sich auf alle Fälle vom Black Friday Ende  November in den grossen Städten dieser Welt fernhalten. «Denn das ist ein reiner Verkaufsfördertag zum Auftakt des Weihnachtshopping», sagt Luginbühl.

Die Ausstellung wird ergänzt durch eine Veranstaltungsreihe mit Referaten, u.a. «Ostschweiz und Ostindien – Billiglohnländer einst und heute» am 3. November oder «Die Schweiz, St.Gallen und der Dreieckshandel» am 19. Januar 2017.

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Bilder der Fabrikkatastrophe von Rana Plaza, Bangladesh, 2013

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