Ein frisch verheiratetes Paar schreitet eine ausladende Freitreppe hinunter. Sie im weissen schulterfreien Kleid, er im blauen Anzug. Am Fuss der Treppe wartet ein Fotograf, der das Ehepaar ablichtet. Daneben, dem Brautpaar den Rücken zugewandt, steht der blonde Massimo. Im pinken Fellmantel und schwarzen Minikleid. Die blaue Hygienemaske rutscht ihm beim Sprechen über den Nasenrücken. Er ruft ein Schimpfwort ins Mikrophon, einer unsichtbaren Menschenmenge entgegen. Dann, mit Nachdruck: «Du bist kein Mann.» Und wiederholt das Ganze. Einmal, zweimal, dreimal…
Massimos Stimme ist laut. Unmöglich, dass das Brautpaar im Hintergrund nichts von seiner Performance mitbekommt. Doch es reagiert nicht. Ignoriert ihn, lächelt sich an, schreitet weiter die Treppe hinunter. Als das Paar das Ende der Treppe erreicht hat, ist Massimos Maske ganz von der Nase gerutscht und er ruft: «So bringt man einen Mann um.»
Noch während Massimo spricht, wechselt die Szenerie zu einem Friedhof. Trockene Grashalme ragen zwischen den Grabsteinen in den blauen Himmel. Aus dem Off ist Massimos Stimme zu hören: «Jeden Tag wird ein Mann ermordet, mit den Worten, die man ihm an den Kopf wirft. Und diese Worte nehmen stetig zu. Und man heizt die Köpfe auf, anstatt sie aufzuklären». Mit dem Ausklingen des Satzes fokussiert die Kamera auf die Gräber zweier junger Männer.
Zwischen den Lederwaren
Es sind Giorgio Giammona und Antonio Galatola die Anfang der 1980er-Jahre im sizilianischen Giarre ermordet wurden. Ein homofeindliches Verbrechen, das in Italien breite Wellen schlug und zur Gründung von ARCIGAY führte, einer der ersten nationalen Organisationen für queere Rechte.
Von Anfang an bei der Organisation dabei: Massimo Milani, der Mann im pinken Fellmantel, und sein Partner Gino Campanella. Ihre Liebe, ihr Aktivismus und ihre kleine Lederboutique «Quir» stehen im Mittelpunkt von Nicola Belluccis Dokumentarfilm Quir – A Palermo Love Story.
Eher zufällig entdeckte Bellucci das «Quir», und damit auch Massimo und Gino. Rasch erkannte er, dass sich hinter dem Schaufenster mehr verbirgt als nur Taschen und Gürtel. Der kleine Laden ist ein Treffpunkt für die lokale LGBTIAQ+-Szene.
Hier sprechen Menschen über ihre Beziehungen, ihre Ängste, ihre Hoffnungen. Hier entfaltet sich alltäglicher Widerstand mitten in einer Stadt, die stark von einer patriarchalen Kultur geprägt ist.
Schillernde Leben
Neben Massimo und Gino begleitet Bellucci in seinem Film verschiedene Charaktere, deren Leben mehr verbindet, als dass sie im «Quir» ein- und ausgehen. Man begegnet Ernesto Tomasini, einem exzentrischen Sänger, der zwischen Drag und der Pflege seiner dementen Mutter schwankt. Vivian Bellina, eine junge trans Frau, die sich gegen Anfeindungen ebenso behauptet wie gegen ihre Selbstzweifel. Und dann ist da Charly Abbadessa: 92, schillernd, extravagant, einst befreundet mit Marilyn Monroe.

Charly schwelgt gerne in seinen Erinnerungen. (Bild: pd/Filmstil)
Charly wird nie müde, von seiner Vergangenheit zu erzählen, auch nicht den Mitarbeiterinnen der Ausweisbehörde. Dass sein Körper nicht mehr der ist, der er mal war, macht ihm zu schaffen. Seinem Charme und seiner entwaffnenden Direktheit konnte aber auch die Zeit nichts anhaben. Auf die Frage nach seiner Fixierung auf die Vergangenheit kontert er grinsend, dass er ja schlecht von der Zukunft erzählen könne.
Eine Liebesgeschichte
Bellucci nähert sich seinen Protagonist:innen mit Sensibilität und Respekt. Ihre Geschichten zeigt er, ohne sie zu kommentieren oder einzuordnen. Er erzählt keine Leidensgeschichten, sondern schafft ein lebensbejahendes Porträt einer kleinen LGBTIAQ+-Community in Palermo.
Durch die intime Kameraarbeit und den fast vollständigen Verzicht auf die klassische dokumentarische Distanz entsteht eine bemerkenswerte Nähe zu den Figuren – so sehr, dass man zeitweise vergisst, gerade einen Dokumentarfilm zu schauen.
Die Menschen und ihre Geschichten in Quir – A Palermo Love Story sind bunt und sie berühren. Gleichzeitig ist der Film keinesfalls kitschig, obwohl er letztlich das ist, was schon der Titel verspricht: eine Liebesgeschichte.
Und so endet der Film wie fast jede grosse Liebesgeschichte mit einer Hochzeit. Einer Hochzeit, die ebenso romantisch wie politisch ist – und das nicht nur, weil die Braut rot trägt.
Quir – A Palermo Love Story: 8. Mai, 18.20 Uhr, Kinok St.Gallen (Premiere). Weitere Vorstellungen bis Ende Mai.