Lederwaren und Liebe

Massimo und Gino – seit mehr als 40 Jahren ein Paar. (Bild: pd/Filmstil)

In Quir – A Palermo Love Story von Nicola Bellucci kommen in einer kleinen Lederwarenboutique queere Lebensgeschichten zusammen. Feinfühlig, politisch und sehr nah an den Figuren erzählt, vergisst man fast, dass es ein Dokumentarfilm ist.

Ein frisch ver­hei­ra­te­tes Paar schrei­tet ei­ne aus­la­den­de Frei­trep­pe hin­un­ter. Sie im weis­sen schul­ter­frei­en Kleid, er im blau­en An­zug. Am Fuss der Trep­pe war­tet ein Fo­to­graf, der das Ehe­paar ab­lich­tet. Da­ne­ben, dem Braut­paar den Rü­cken zu­ge­wandt, steht der blon­de Mas­si­mo. Im pin­ken Fell­man­tel und schwar­zen Mi­ni­kleid. Die blaue Hy­gie­ne­mas­ke rutscht ihm beim Spre­chen über den Na­sen­rü­cken. Er ruft ein Schimpf­wort ins Mi­kro­phon, ei­ner un­sicht­ba­ren Men­schen­men­ge ent­ge­gen. Dann, mit Nach­druck: «Du bist kein Mann.» Und wie­der­holt das Gan­ze. Ein­mal, zwei­mal, drei­mal…

Mas­si­mos Stim­me ist laut. Un­mög­lich, dass das Braut­paar im Hin­ter­grund nichts von sei­ner Per­for­mance mit­be­kommt. Doch es re­agiert nicht. Igno­riert ihn, lä­chelt sich an, schrei­tet wei­ter die Trep­pe hin­un­ter. Als das Paar das En­de der Trep­pe er­reicht hat, ist Mas­si­mos Mas­ke ganz von der Na­se ge­rutscht und er ruft: «So bringt man ei­nen Mann um.» 

Noch wäh­rend Mas­si­mo spricht, wech­selt die Sze­ne­rie zu ei­nem Fried­hof. Tro­cke­ne Gras­hal­me ra­gen zwi­schen den Grab­stei­nen in den blau­en Him­mel. Aus dem Off ist Mas­si­mos Stim­me zu hö­ren: «Je­den Tag wird ein Mann er­mor­det, mit den Wor­ten, die man ihm an den Kopf wirft. Und die­se Wor­te neh­men ste­tig zu. Und man heizt die Köp­fe auf, an­statt sie auf­zu­klä­ren». Mit dem Aus­klin­gen des Sat­zes fo­kus­siert die Ka­me­ra auf die Grä­ber zwei­er jun­ger Män­ner. 

Zwi­schen den Le­der­wa­ren

Es sind Gi­or­gio Gi­am­mo­na und An­to­nio Ga­lato­la die An­fang der 1980er-Jah­re im si­zi­lia­ni­schen Gi­ar­re er­mor­det wur­den. Ein ho­mof­eind­li­ches Ver­bre­chen, das in Ita­li­en brei­te Wel­len schlug und zur Grün­dung von AR­CI­GAY führ­te, ei­ner der ers­ten na­tio­na­len Or­ga­ni­sa­tio­nen für que­e­re Rech­te.

Von An­fang an bei der Or­ga­ni­sa­ti­on da­bei: Mas­si­mo Mi­la­ni, der Mann im pin­ken Fell­man­tel, und sein Part­ner Gi­no Cam­pa­nella. Ih­re Lie­be, ihr Ak­ti­vis­mus und ih­re klei­ne Le­der­bou­tique «Quir» ste­hen im Mit­tel­punkt von Ni­co­la Bel­luc­cis Do­ku­men­tar­film Quir – A Pa­ler­mo Love Sto­ry

Eher zu­fäl­lig ent­deck­te Bel­luc­ci das «Quir», und da­mit auch Mas­si­mo und Gi­no. Rasch er­kann­te er, dass sich hin­ter dem Schau­fens­ter mehr ver­birgt als nur Ta­schen und Gür­tel. Der klei­ne La­den ist ein Treff­punkt für die lo­ka­le LGBTIAQ+-Sze­ne.

Hier spre­chen Men­schen über ih­re Be­zie­hun­gen, ih­re Ängs­te, ih­re Hoff­nun­gen. Hier ent­fal­tet sich all­täg­li­cher Wi­der­stand mit­ten in ei­ner Stadt, die stark von ei­ner pa­tri­ar­cha­len Kul­tur ge­prägt ist.

Schil­lern­de Le­ben

Ne­ben Mas­si­mo und Gi­no be­glei­tet Bel­luc­ci in sei­nem Film ver­schie­de­ne Cha­rak­te­re, de­ren Le­ben mehr ver­bin­det, als dass sie im «Quir» ein- und aus­ge­hen. Man be­geg­net Er­nes­to To­ma­si­ni, ei­nem ex­zen­tri­schen Sän­ger, der zwi­schen Drag und der Pfle­ge sei­ner de­men­ten Mut­ter schwankt. Vi­vi­an Bel­li­na, ei­ne jun­ge trans Frau, die sich ge­gen An­fein­dun­gen eben­so be­haup­tet wie ge­gen ih­re Selbst­zwei­fel. Und dann ist da Char­ly Ab­ba­dessa: 92, schil­lernd, ex­tra­va­gant, einst be­freun­det mit Ma­ri­lyn Mon­roe.

Charly schwelgt gerne in seinen Erinnerungen. (Bild: pd/Filmstil)

Char­ly wird nie mü­de, von sei­ner Ver­gan­gen­heit zu er­zäh­len, auch nicht den Mit­ar­bei­te­rin­nen der Aus­weis­be­hör­de. Dass sein Kör­per nicht mehr der ist, der er mal war, macht ihm zu schaf­fen. Sei­nem Charme und sei­ner ent­waff­nen­den Di­rekt­heit konn­te aber auch die Zeit nichts an­ha­ben. Auf die Fra­ge nach sei­ner Fi­xie­rung auf die Ver­gan­gen­heit kon­tert er grin­send, dass er ja schlecht von der Zu­kunft er­zäh­len kön­ne. 

Ei­ne Lie­bes­ge­schich­te

Bel­luc­ci nä­hert sich sei­nen Prot­ago­nist:in­nen mit Sen­si­bi­li­tät und Re­spekt. Ih­re Ge­schich­ten zeigt er, oh­ne sie zu kom­men­tie­ren oder ein­zu­ord­nen. Er er­zählt kei­ne Lei­dens­ge­schich­ten, son­dern schafft ein le­bens­be­ja­hen­des Por­trät ei­ner klei­nen LGBTIAQ+-Com­mu­ni­ty in Pa­ler­mo. 

Durch die in­ti­me Ka­me­ra­ar­beit und den fast voll­stän­di­gen Ver­zicht auf die klas­si­sche do­ku­men­ta­ri­sche Di­stanz ent­steht ei­ne be­mer­kens­wer­te Nä­he zu den Fi­gu­ren – so sehr, dass man zeit­wei­se ver­gisst, ge­ra­de ei­nen Do­ku­men­tar­film zu schau­en.

Die Men­schen und ih­re Ge­schich­ten in Quir – A Pa­ler­mo Love Sto­ry sind bunt und sie be­rüh­ren. Gleich­zei­tig ist der Film kei­nes­falls kit­schig, ob­wohl er letzt­lich das ist, was schon der Ti­tel ver­spricht: ei­ne Lie­bes­ge­schich­te. 

Und so en­det der Film wie fast je­de gros­se Lie­bes­ge­schich­te mit ei­ner Hoch­zeit. Ei­ner Hoch­zeit, die eben­so ro­man­tisch wie po­li­tisch ist – und das nicht nur, weil die Braut rot trägt.

Quir – A Pa­ler­mo Love Sto­ry: 8. Mai, 18.20 Uhr, Ki­nok St.Gal­len (Pre­mie­re). Wei­te­re Vor­stel­lun­gen bis En­de Mai.

quir-film.com

ki­nok.ch