Die eine heisst Helene, die andere Eva, die dritte Anna. Drei junge Frauen, die unter die Räder der patriarchalen Gesellschaft geraten, ausgegrenzt, ausgenutzt, ausgeliefert einer Moral, die den Männern alles und den Frauen nichts erlaubt. Helene, Eva und Anna stehen im Zentrum der drei Kurzstücke Jetzt (1896), Im Frühfrost (1895) und Höhenluft (1897).
Ihren Autor kennen die wenigsten als Dramatiker: Rainer Maria Rilke hat sie als junger Mann geschrieben. Rund ein halbes Dutzend Stücke existieren, Einakter zumeist, mit denen Rilke den Anschluss an die literarische Moderne sucht. Er orientiert sich an naturalistischen Dichtern wie Strindberg, Schnitzler oder Hauptmann und greift wie sie sozialkritische Themen auf. Jetzt und Im Frühfrost werden in Prag aufgeführt mit gutem Erfolg, ein letztes Stück fällt jedoch 1901 in Berlin durch. Und Rilke ist inzwischen auf einem ganz anderen, lyrischen Weg. Er hängt die Dramatik an den Nagel. Und verbannt seine frühen Stücke aus seinem «gültigen» Werk.
Parteinahme für die Frauen
Das hindert Matthias Peter nicht, drei dieser Theatertexte in die Gegenwart zurückzuholen. Er fügt sie zu einem Abend zusammen und gibt ihm den Übertitel Entehrung. Dass die Texte mit unserer Gegenwart zu tun haben, steht für den Leiter der Kellerbühne ausser Frage. Übergriffe auf Frauen, sexuelle Gewalt, Männlichkeitswahn, Respektlosigkeit, Blossstellungen auf Social Media: All dies hätten Debatten wie #MeToo oder «Nein heisst Nein» respektive «Nur Ja heisst Ja» in den vergangenen Jahren erst so richtig ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gebracht. Passend daher, dass die zweite Vorstellung von Entehrung am 24. November in Zusammenarbeit mit der Frauenzentrale St.Gallen stattfindet, als Auftakt zur Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen».
«Rilke ergreift in seinen Stücken Partei für die Frauen», sagt Matthias Peter. In Jetzt wird die junge Helene vom Besitzer des Hauses bedrängt, in dem sie mit ihrer todkranken Mutter lebt – und gibt sich ihm hin, um die Mutter vor einem Rauswurf aus der Wohnung zu bewahren. Im zentralen Dreiakter Im Frühfrost wird Eva von ihren Eltern geächtet, weil sie sich einen «Fehltritt», wie das damals hiess, geleistet hat: eine unschuldige Liaison mit einem Verehrer. Die Mutter verkuppelt sie an einen Agenten, bei dem der Vater in der Schuld steht. Optimistischer geht das dritte Stück aus: Anna lebt mit ihrem sechsjährigen unehelichen Sohn in einer Mansarde. Die Familie hat mit ihr gebrochen, ihr Bruder will sie zurückholen – aber aus eigennützigen Gründen. Anna verweigert sich der bürgerlichen Pseudo-«Rettung» und beharrt auf ihrer Selbständigkeit.
In Peters Bearbeitung spielt Boglárka Horváth die Frauenrollen, er selber die männlichen Figuren. Das «Lese-Theater» kommt mit knappen Szenerien aus: Tisch, Stühle, wechselnde Tapeten. Es lebt weniger von Action, von ausgespielter Dramatik als vom dichten Text. Trotz – oder vielleicht auch dank – dieser Reduktion kommt das Stück bei Schulvorstellungen gut an.
«Mucksmäuschenstill» seien etwa die 100 Schüler:innen der Kantonsschule am Brühl bei der 75-minütigen Aufführung in der Kellerbühne gewesen. Matthias Peter ist überzeugt: Im jungen Rilke und seinen Figuren erkennen sich Jugendliche von heute wieder und finden Themen gespiegelt, die sie selber beschäftigen.
Abschied vom «Nebulo»
Entehrung ist der Auftakt zur letzten Spielzeit von Matthias Peter in der Kellerbühne. Unter dem Namen «Mobiles Lese-Theater» wird er jedoch über seine Pensionierung hinaus literarisches und historisches Sprechtheater bieten. Ein Projekt über Jakob Stutz, den Zürcher Oberländer Volksschriftsteller, ist für 2026 geplant, unter anderem mit Aufführungen in Trogen, wo Stutz wegen Homosexualität im Gefängnis sass. Aber vorerst wolle er «in der Kellerbühne noch einmal Gas geben».
Nach Entehrung stehen zwei weitere Eigenproduktionen bevor, das Zweifrauenstück Heartship von Caren Jess im März und zuletzt Ein Nebulo bist du: Mit dem Porträt von Martin Lampe, dem Diener des Philosophen Immanuel Kant, der sich im Stück von Jens Sparschuh selber als «letzte Leuchte in diesem stockfinsteren Nest» charakterisiert, wird Matthias Peter selbstironisch Abschied von seinem «Dienst» an der Kellerbühne und am Kulturleben der Stadt nehmen.
Entehrung. Ein Triptychon: 16. November, 17 Uhr, und 24. November, 20 Uhr, Kellerbühne St.Gallen; 12. Dezember, 19:30 Uhr, Figurentheater Herisau