Volkslieder: Da denkt man rasch an ländliche Idyllen, an bluemeti Trögli und Glück im Stall. Im Jubiläumsprogramm «Une und obe» des Ensembles Tritonus gibt es andere, realitätsnähere Geschichten.
Da beklagt etwa ein Schweizer Söldner die lang verwünschte Stunde, wenn es in die Napoleonischen Kriege geht. Auch von der Hungersnot im Toggenburg 1817 wird gesungen oder vom Bergsturz von Goldau, dieser Jahrhundertkatastrophe im Jahr 1806. Daneben haben auch Schäferidyllen ihren Platz und höfische Tänze, wie sie «oben», in den Bürgerstuben um die Jahrhundertwende 1800 gespielt wurden – oder hätten gespielt werden können.
Die Epoche vor und um 1800 ist nicht von ungefähr gewählt. Es ist die Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche zwischen Ancien régime, Aufklärung und französischer Revolution, aber auch des musikalischen Wandels. «Die alte Volksmusik, wie sie Tritonus spielt, hat absolut nichts gemeinsam mit der Ländlermusik, die sich im 19. Jahrhundert in der Schweiz ausbreitete und viel echtes und eigenständiges Volksgut verdrängte», sagt Urs Klauser.
Das Fenster zur Musik von damals aufzustossen, sei allerdings nicht so einfach. Die Quellenlage ist dünn, Volksmusik wurde in aller Regel mündlich überliefert. Das gilt für die Lieder und Instrumentalstücke, es gilt aber auch für die Instrumente selber, die durch veränderte Klangideale und Konkurrenz wie Handharmonika oder Klarinette verdrängt wurden.
40 Jahre «andere» Schweizer Volksmusik
Mit der Rekonstruktion des einstigen Instrumentariums hat die Tritonus-Geschichte ihren Anfang genommen, genau gesagt: mit der Sackpfeife. Auf Bildern in alten Chroniken oder in Figuren wie jener am Pfeiferbrunnen in Bern hatte der Primarlehrer und Musikenthusiast Urs Klauser Darstellungen eines Dudelsacks entdeckt. 1979 begann er mit dem Bau einer solchen Sackpfeife (im Detail nachzulesen hier) und weiterer alter Volksmusikinstrumente, zusammen mit dem Instrumentenbauer Beat Wolf.
Ihre Forschungen seien zuerst als unwissenschaftlich abgetan worden, aber über die Jahre hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Sackpfeife in der hiesigen Volksmusik tatsächlich heimisch war, zusammen mit anderen vergessenen Instrumenten wie dem geigenähnlichen Rebec, mit Drehleier, Schalmei, Schwegel, Trümpi oder der liebevoll «Hümmelchen» genannten, kleineren und subtiler tönenden Schwester der Sackpfeife.

Urs Klauser mit einer seiner Sackpfeifen. (Bild: Su.)
In Klausers Stube haben sie einen Ehrenplatz. Und in den Tritonus-Konzerten kann man ihren leicht schnarrenden Bordunklang seit vierzig Jahren hören. 1985 taucht erstmals der Name Tritonus in Auftritten von Urs Klauser und Beat Wolf auf. 1991 erscheint, produziert von Radio DRS, die erste CD Alte Volksmusik in der Schweiz, im Untertitel: «Tänze, Hirtenrufe, Kühreihen und Lieder aus der Schweiz vor 1800». Im Gegensatz zur aufblühenden Barockforschung in der Klassik ist zu jener Zeit von historisch informierter Folklore noch kaum die Rede.
Eine Pioniertat mit Folgen: Tritonus spielt auf Festivals, tourt mit dem Programm, bringt im Lauf der Zeit zwei weitere CDs heraus. Alpan (2005) verknüpft Volksmusik und Jazz, Urbanus (2015) forscht der Volksmusik in den Städten nach. Einen anderen stilistischen Seitensprung, diesmal zur Klassik unternimmt das Ensemble 2021 bis 2024 mit dem Programm «Alte Weisen – neue Welten» mit dem Neuen Orchester Basel: Sinfonieorchester meets Volksmusik. Gärtlidenken war nie ein Thema für das Ensemble, das seinen Namen vom «diabolischen» Tritonus-Intervall ableitet und in der Standardbesetzung zu sechst ist: neben Urs Klauser mit Daniel Som (Drehleier, Schalmei, Flöten, Trümpi), Felicia Kraft (Gesang, Percussion, Rebec), Lea Zanola/Michaela Walder (Hackbrett), Andreas Cincera (Violone) und Andrea Brunner (Geige, Viola d’amore).
Ihrer offenen und zugleich historisch fundierten Haltung sind Tritonus seit vierzig Jahren treu. Ein Boom, wie ihn das Hackbrett in den letzten Jahren erlebte und erlebt, ist bei der Sackpfeife und den anderen frühen Instrumenten allerdings ausgeblieben. Immerhin: Ein «kleines Revival» gebe es auch hier. «Unsere Pionierarbeit hat sicher einen Einfluss auf die neue Volksmusik gehabt», sagt Klauser. Aber die Szene, die sich speziell mit historischer Volksmusik beschäftigt, ist übersichtlich geblieben. Der Berner Liedermacher Urs Hostettler gehörte mit zu den Pionieren; die Geiger Matthias Lincke (mit seiner Landstreichmusik) und Andreas Gabriel (Ambäck), Multiinstrumentalist Dide Marfurt oder die Jodlerin Christine Lauterburg zählen mit ihren Projekten dazu.
Quellenforschung hat dabei kaum jemand so intensiv betrieben wie die Tritonus-Gründer. Das bestätigte ein Forschungsprojekt der Hochschule für Musik Luzern zur historischen Volksmusik. Auslöser war das Zwingli-Jubiläum, in dessen Rahmen die Musik jener Zeit erforscht werden sollte – im Film selber (2019 in den Kinos) spielt der historische Zwingli übrigens eine Sackpfeife aus Urs Klausers Werkstatt. Die Forschenden fanden dann aber wenig an Handschriften, fliegenden Blättern oder anderen Quellen, was durch die Pionierarbeit von Tritonus nicht schon bekannt gewesen wäre.
Kulturtransfer über soziale Grenzen
Trouvaillen gibt es dennoch immer wieder – und da sind wir zurück im Programm «Une und obe». Von «oben» stammen etwa zwei «Valses» aus einer kürzlich in der Romandie entdeckten Handschrift und weitere, ursprünglich höfische Tänze, die in die Volksmusik Eingang fanden, wie beispielsweise Allemande und Menuet oder – andersherum von «unten» nach «oben» – die Baur Leyer von 1791.
Von unten berichtet auch das Lied einer jungen Frau, in deren Bauch es «zibblet und zabblet» - eines der unzähligen Schicksale von ledigen Müttern, wie es jüngst auch der Film Friedas Fall wieder dokumentierte. In der Quelle, einem handschriftlichen Liederbuch von 1794 aus Brienzwiler, ist nur der Text überliefert; Tritonus unterlegt ihn mit der Melodie eines zeitgenössischen Marienlieds, eine häufige Praxis, wie Klauser sagt. Und fügt dazu ein weiteres Klagelied, diesmal aus der Sicht des toten Kindes geschrieben.
«Diese Volkslieder erzählen, wie das Leben wirklich war – es ist mir ein Anliegen, das unter die Leute zu bringen», sagt Urs Klauser. Das Publikum reagiere denn auch oft tief berührt auf diese Musik, die von weither kommt und zugleich Bezug zur Gegenwart hat. Im Programm haben aber auch heitere Töne Platz, so eine Reihe von neugedichteten Ratzliedli, die die einzelnen Themenblöcke eröffnen, oder eine Pastorelle aus einem Singspiel von Jean Jacques Rousseau, dem Philosophen und Propagandisten eines naturverbundenen Lebens.
Solche Entdeckungen sind für Urs Klauser ein Ansporn, weiterzuforschen. Entdeckungen – oder Spuren, wie jene, die nahelegt, dass der Colascione, eine im 16. Jahrhundert in Italien gespielte Langhalslaute, über die Alpen möglicherweise auch in die Schweiz gekommen sein könnte. Kulturtransfer dieser Art, von Region zu Region, von «oben» nach «unten» und umgekehrt, lasse sich in der Volksmusik immer wieder entdecken. Was original schweizerisch und volkstümlich ist, wird so am Ende zweitrangig, bei allem Interesse an der historischen Wahrheit. Entscheidend ist für Urs Klauser und seine Tritonus-Verbündeten, dass die alte Musik wieder lebendig wird.
Vorpremiere des Jubiläumsprogramms «Une und obe»:
4. Juni, 20 Uhr, Kellerbühne St.Gallen