Am Schwendisee oberhalb von Wildhaus ist ein neues Zentrum für Naturtonmusik entstanden: das Klanghaus. Die Fassade des Holzbaus, die aus rund 150’000 handgespaltenen und handmontierten Schindeln von Fichten aus der unmittelbaren Umgebung besteht, ist ein Sinnbild für das Gebäude. Es fügt sich mit seiner besonderen Architektur in die Landschaft ein und verschmilzt mit dieser auch akustisch. Eine Symbiose aus Bau und Natur.
Das Klanghaus ist mehr als ein Gebäude. Es ist ein Instrument, ein Resonanzraum, eine Kathedrale des Klangs. Es ist ein Ort, an dem man Klang spürt, man selbst ein Teil des Klangs wird.
Es ist aber auch ein Ort, auf den man sich einlassen muss. «Die Optik empfängt und umarmt dich, die Akustik hingegen ist eine Herausforderung – eine physische, körperliche», sagt Andres Bosshard. Der Klangexperte ist – gemeinsam mit dem Architekten Marcel Meili – der Schöpfer des Klanghauses. Beim Rundgang weist er auf unzählige Details hin, die dieses Haus so einzigartig machen. Es ist zu spüren, dass er in dieses Gebäude verliebt ist.
Den Klang im Raum spüren
Das Herzstück des Klanghauses ist der Zentralraum mit den Rosetten in den drei Wänden und im Tor, die einerseits dem Hackbrett nachempfunden sind, andererseits dem Musiksaal im Palast des Schahs in Isfahan (Iran). Andres Bosshard nimmt einen Leitkegel, hält ihn sich wie einen Trichter vor den Mund und ruft ein lautes «Hallo» in den Saal. Sekundenlang hallt es zurück. Dann dämpft er die Klangspiegel, die hinter den Öffnungen eingelassen sind, und streut ein zweites, langgezogenes «Hallo» in alle Richtungen, während er sich im Kreis dreht. Das Echo macht diese Drehung mit, man hat das Gefühl, es nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren, wie es sich im Raum bewegt und schliesslich nach oben in die Kuppel mit den drei runden Fensteröffnungen entschwindet. «Die Spiegel reflektieren den Schall zueinander. Er ist wie eine Beleuchtung, die mit ganz vielen Strahlen links und rechts an deinen Ohren vorbeigeht», sagt Bosshard. Die Kuppel führt in die Stille. In einem Raum, in dem die Stille noch stiller ist als anderswo.

Über zwei riesige Türen ist der Zentralraum mit dem Schwendiseeraum verbunden. Öffnet man sie, verbinden sich ihre Charakteristiken. Denn jeder der vier Musikräume im Klanghaus hat eine eigene Akustik und eignet sich somit für andere musikalische Ausdrucksformen. «Wenn man in einen anderen Raum kommt, kommt man auch in eine andere Realität», sagt Bosshard. Nur schon beim Sprechen verändert sich die Stimme von Raum zu Raum. «Das ist eine der Multiplizitäten der Räume. Sie sind nicht nur Wahrnehmungsräume, sondern auch Vorstellungsräume. Es gibt einen Moment, in dem die Wahrnehmung auf deinen Körper zurückfällt und in dem nur die Imagination weitergehen kann. Du bist der Schlüssel zum Ganzen.» Der Klang verliert seinen Sinn, wenn der Mensch nicht darauf eingeht.
Welche Möglichkeiten das Klanghaus bietet, mit der Stimme oder allgemein mit Klang zu experimentieren, zeigt sich auch im angrenzenden Echoraum, der wie ein Wurmfortsatz aus dem Zentralraum führt. Je nach Position beziehungsweise Entfernung zur Wand produziert diese einen eigentümlichen Hall oder verschluckt die Stimmlaute.
Auch der Boden aus Eichenholzparkett dient der Akustik. Durch das Stirnholz (quer zum Stamm geschnittene Flächen, Anm. d. Red.) habe jedes Stück eine andere Struktur und damit eine eigene Charakteristik, erklärt Bosshard. «Es ist wie ein Blätterwald. Unser Gehirn hat das wahnsinnig gern, wenn es so stimuliert wird.» Umso spezieller machen den Boden im Zentralraum die drei «Inseln» mit einem Schwingboden, also mit einem Resonanzraum unter dem Parkett. Wenn man auf diesen Inseln singe, verändere sich die Stimme, sagt Bosshard. Die ursprüngliche Idee, den ganzen Boden als Schwingboden zu bauen, habe sich nicht realisieren lassen – «glücklicherweise», wie sich im Nachhinein herausgestellt habe. Denn so biete der Saal zusätzliche Experimentiermöglichkeiten.
Mit den Ohren sehen
Beim Gespräch mit Andres Bosshard hat man den Eindruck, dass er mit den Ohren nicht nur hört, sondern auch sieht. Der 70-jährige Klangkünstler studierte Musik- und Kunstwissenschaft an der Universität Zürich und war Dozent an der ZHdK. Als Jugendlicher begann er, Querflöte zu spielen. «Ich wollte eigentlich Maler werden, machte sogar den Abschluss, aber die Malerei war mir zu einsam», sagt er. Stattdessen fing er an, die Querflöte auf Kassetten aufzunehmen und wiederzugeben. Das eröffnete ihm den Zugang zur «Kassettenmaschinerie», wie er es nennt. Er schloss mehrere Kassettengeräte zusammen und bediente sie gleichzeitig, wie ein DJ. Das brachte ihm den Ruf als schnellster Kassettenwechsler der Schweiz ein. Er trat an «verrückten Performances» oder in Theatern auf und begann, in Bands zu spielen. Mit der Experimentalband Nachtluft lotete er in der 80er-Jahren die Grenzen von Musik und Lärm aus.
Bosshard wurde zu einem Klangforscher, experimentierte mit Klang und Raum, realisierte Klanginstallationen, arbeitete an Projekten wie einer Echoübertragung vom Mond oder Konzerten, bei dem sich die Musiker:innen an unterschiedlichen Orten befinden und über Satellitenübertragung trotzdem gemeinsam spielen (Telefonia).
Heute forscht Bosshard vor allem über Klänge im Siedlungsraum, berät Architekt:innen, Landschaftsplaner:innen und Lärmschutzexpert:innen und gilt im Bereich der Klangkunst als «internationale Koryphäe», wie das Bundesamt für Kultur anlässlich der Verleihung des Schweizer Musikpreises 2017 schrieb.
Eine Echokarte der ganzen Umgebung
So verwundert es auch nicht, dass Marcel Meili, der 2019 verstarb, schon 2009 beim Projektwettbewerb für das Klanghaus Andreas Bosshard ins Boot holte. Der Architekt und der Klangarchitekt, der heute den Begriff «Klanggärtner» bevorzugt, kannten sich über Meilis Partnerin Eva Afuhs. Sie war an der Expo 02 in leitender Funktion tätig, als Bosshard an der Arteplage in Biel den Klangturm errichtete, «das grösste Musikinstrument der Schweiz», wie es damals von der Expo bezeichnet wurde.
Für die Planung des Gebäudes im Projektwettbewerb reiste Bosshard mehrmals zum Schwendisee, um eine Klangkarte für diesen Ort zu erstellen. Er bestimmte die Echolinien der ganzen Umgebung, von den Bergen, von den Bäumen, vom See, von den Scheunen. «Es gibt die Echos, die man hört, und jene weiter oben, die man ahnt», sagt Bosshard, während er vor dem Klanghaus den Umgebungsgeräuschen lauscht. Seine Klangkarte bildete schliesslich die Basis für Form und Position des Klanghauses. Dieses ist genau so in die Landschaft eingebettet, dass es deren Tonräume perfekt aufnimmt. Ob Geräusche aus den Bergen oder aus dem Tal, ob Stimmen der Spaziergänger:innen auf den nahegelegenen Wegen oder das Pfeifen der Vögel: Wenn man vor einer der drei parabelförmigen Seiten der Fassade steht, nimmt man die Klänge der Umwelt viel intensiver, deutlicher wahr, erst recht, wenn man aus der Stille eines der Säle nach aussen tritt. Auch die eigene Stimme wirkt viel lauter.

Die Fassade selbst kann auch als eine Art Echokammer dienen: Die Bereiche vor zwei der drei Seiten sind Aussenbühnen, die bespielt werden können. Singt oder spielt eine Gruppe gegen die Fassade, verbinden sich die Klänge mit der Umwelt. Dasselbe passiert in etwas abgeschwächter Form, wenn man in einem der Räume die Fenster öffnet und die Umweltgeräusche wie das Rauschen des angrenzenden Bachs reinlässt. Diese lassen sich ohnehin nicht ganz aussperren: Die Fenster sind nicht schalldicht, «mit den Aussengeräuschen wie einem vorbeifahrenden Traktor muss man umgehen, man kann es auch in die Musik einfliessen lassen», sagt Bosshard. Das Klanghaus verschmilzt mit seiner Umwelt. «Es gibt meines Wissens kein anderes Gebäude auf der Welt, bei dem Innen und Aussen und die Umgebung ein Kontinuum bilden. Es ist eine fantastische Hinterlassenschaft von Marcel Meili als Architekt.»
Auch fürs Innere des Klanghauses tüftelte der Klangarchitekt an der besten Gestaltung der Wände und Klangkörper. Das Problem: Alle Klangmodelle, die Bosshard erstellt hatte, waren bloss Hypothesen. Bis zuletzt war die grosse Frage: Würden sie auch in der Realität funktionieren? «Ich konnte das ja nicht testen, bevor das Klanghaus fertig war, auch die Klangspiegel nicht. Ich konnte zwar berechnen, wie sie in den Wänden funktionieren. Aber ich habe erst begriffen, was ich gezeichnet hatte, als ich es gehört habe.» Für ihn persönlich sei es «existenziell wichtig», dass so vieles, was er sich ausgedacht habe, nun greifbar sei und funktioniere.
Die Arbeit fängt neu an
Das Klanghaus ist Bosshards Lebenswerk. Diese Sichtweise sei ihm jedoch «zu monströs», wiegelt der 70-Jährige ab: «Mein Lebenswerk ist, dass ich hier mitgearbeitet habe. Ich besitze die Ideen für das Klanghaus nicht.» Er zitiert ein indisches Sprichwort, wonach man nicht Musik spielen könne, solange man denke, die Töne, die man dabei produziere, zu besitzen. Er beginne erst jetzt zu verstehen, was damit gemeint sei, sagt der Musiker, der selbst eine Zeitlang in Indien gelebt und gearbeitet hat. Überhaupt habe er während des jahrelangen Entstehungsprozesses des Klanghauses unheimlich viel gelernt, sagt er: «Ohne das Klanghaus würde ich die Hälfte dessen, was ich in meinem Leben gemacht habe, nicht verstehen.» Er habe schon einiges gemacht, Staumauern oder den St.Galler Klosterplatz beschallt, aber er habe noch nie so genial mit der Umwelt und den Bergen spielen können.
«Ohne das Klanghaus würde ich die Hälfte dessen, was ich in meinem Leben gemacht habe, nicht verstehen.»
Mit der Eröffnung des Klanghauses ist die Arbeit von Andres Bosshard jedoch nicht abgeschlossen. Man könnte sogar sagen: Sie fängt neu an. «Es ist ein neues Musikinstrument. Wir hören, dass es klingt, aber wissen noch nicht, wie wir es richtig spielen und zum Klingen bringen. Das ist wie bei einem Kind, das ein Instrument geschenkt bekommt.» Deshalb will Bosshard auch künftig im Klanghaus mitwirken, die Musiker:innen anleiten, sie beim Experimentieren unterstützen. Und er will eine «Klanghaus-Komposition» entwickeln, die all das enthält – Klangexperimente, Stimmen, Musik, Geräusche. Nicht allein, sondern zusammen mit allen Beteiligten.