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«Wichtig ist das Signal: Du bist nicht allein»
Die psychische Belastung in der Bevölkerung ist gestiegen. Suizidalität sei in den Akutstationen oft ein Thema, sagt Oberarzt Tobias Müller von der Psychiatrischen Kinik in Pfäfers. «Aber man kann lernen, damit umzugehen.»
Saiten: Suizidalität ist ein Schlagwort. Was meinen wir eigentlich, wenn wir davon reden?
Tobias Müller: Suizidalität ist ein Ausdruck von psychischer Belastung. Sie ist nicht schwarz-weiss zu verstehen, sondern eher als Kontinuum. Das Spektrum reicht von Todeswünschen bis zu konkreten Absichten. In unseren Aufnahme- und Notfallstationen ist Suizidalität in schätzungsweise 50 Prozent der Fälle ein Thema – was aber nicht heisst, dass all diese Personen immer akut gefährdet sind. Dennoch scheint es in den letzten Jahren zugenommen zu haben.
Was sagen die Zahlen zur Suizidalität in der Schweiz?
Studien zeigen, dass die psychische Belastung deutlich zugenommen hat, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Leider haben wir kaum valide Zahlen zu Suizidversuchen, da diese statistisch nicht routinemässig erfasst werden. Die Dunkelziffer ist vermutlich sehr hoch. Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass die Zahl in den letzten Jahren gestiegen ist. Der innere Stress steigt und damit auch das Risiko für Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen, die zu Suizidalität führen können.
Tobias Müller ist Oberarzt und Abteilungsleiter der Aufnahme- und Notfallstation 4 der Psychiatrie St.Gallen am Standort Pfäfers.
Das Gespräch wurde anlässlich des Welttages der Suizidprävention am 10. September geführt.
Warum ist die psychische Belastung bei den 14- bis 25-Jährigen gestiegen?
Das ist eine komplexe Frage. Corona hat eine Rolle gespielt, aber es gibt noch weitere Faktoren. Wir sind heutzutage beispielsweise öfter am Bildschirm und weniger in der authentischen sozialen Interaktion. Hinzu kommen vermehrt auch ganz konkrete Krisen wie Kriege oder Klimawandel, die immer näher rücken und zu Zukunftsängsten führen können.
Besonders gefährdet sind auch LGBTIQ-Personen. Die Suizidversuchsrate bei queeren Menschen in der Schweiz ist laut Studien viermal höher. Hat diese Zahl ebenfalls zugenommen?
Auch das ist schwer zu beziffern, da wir keine routinemässige Statistik führen. Es stimmt, dass queere Menschen eher suizidgefährdet sind, ich habe aber nicht den Eindruck, dass mir im Klinikalltag mehr Menschen mit queerem Hintergrund begegnen als anderswo. Queerness ist zwar gelegentlich Thema in den Therapien, aber nicht die Hauptursache für Suizidalität – das will ich betonen. Aber die durchaus herausfordernde Identitätsfindung sowie auch der gesellschaftliche Umgang mit dem Thema LGBTIQ und den Betroffenen können das Suizidrisiko erhöhen. Diskriminierung und Mobbing können eine enorme Belastung sein und ebenfalls einen Einfluss haben.
Wie äussert sich Suizidalität und wie sollen Aussenstehende reagieren?
Häufige Merkmale sind sozialer Rückzug, Wesensveränderungen, Schlafstörungen oder Gedankenkreisen. Wenn die Person sich plötzlich anders verhält, als man sie kennt, oder wenn man das Gefühl hat, dass etwas mit ihr nicht stimmt, sollte man das Gespräch suchen.
Wie macht man das so sensibel wie möglich, sprich ohne die Person aufzuscheuchen?
Aufscheuchen ist ein gutes Stichwort. Aufgeregt sein und überdramatisieren hilft gar nicht. Das Patentrezept ist eigentlich gar nicht so schwer: Kopf ausschalten und einfach intuitiv Mensch sein. In aller Ruhe, aufmerksam auf die Person zugehen und sie zum Beispiel fragen: «Hast du mal Zeit? Ich möchte dich gern einmal etwas fragen. Ich habe das Gefühl, dir gehts in letzter Zeit nicht so gut. Beschäftigt dich etwas?» Man sollte die Person aber nicht bedrängen. Wichtig ist das Signal: «Du bist nicht allein, ich stehe hinter dir, ich unterstütze dich.»
Du glaubst, du kannst eine Krise nicht selbst bewältigen? Das musst du auch nicht. Lass dir helfen! Es gibt zahlreiche Stellen, die rund um die Uhr für Menschen da sind – vertraulich und kostenlos.
Ostschweizer Forum für Psychische Gesundheit: ofpg.ch
Die Dargebotene Hand:
Tel 143, 143.ch
Beratung + Hilfe für Jugendliche:
Tel 147, 147.ch
Reden kann retten:
reden-kann-retten.ch
SERO, App für Suizidprävention:
sero-suizidpraevention.ch
Welche Strategien können Betroffenen in akuten Phasen helfen?
Das ist sehr individuell. Manchen hilft es, sich abzulenken oder rauszugehen, sofern sie das können. Allein zuhause ist die Suizidgefahr in der Regel höher als auf öffentlichen Plätzen. Auch kleine Verbindlichkeiten mit engen Bezugspersonen können helfen: dass man «morgen» etwas zusammen unternimmt, sich «übermorgen» zum Telefonieren verabredet oder «in drei Tagen» gemeinsam bruncht. Andere arbeiten auch mit Listen oder Fotos von Erlebnissen, Haustieren oder Erinnerungen, für die sie weiterleben möchten. Wieder andere suchen sich Hilfe bei der Dargebotenen Hand unter der Nummer 143 oder sie behelfen sich mit einem Notfallmedikament, das sie verschrieben bekommen haben. Wichtig ist, dass Fachleute involviert sind. Suizidgedanken zu hegen, bedeutet nicht, dass man zwingend in eine Klinik muss. Es gibt verschiedene Unterstützungs- und Behandlungsmöglichkeiten. Man kann lernen, mit Suizidalität umzugehen.
Was kann das Umfeld für sich tun?
Für Angehörige und enge Bezugspersonen ist sicher ein offener Umgang mit dem Thema hilfreich. Man sollte aber auch seine eigenen Grenzen erkennen und sich gegebenenfalls Fachleute zu Hilfe holen, etwa bei der Angehörigenberatung der Psychiatrie St.Gallen.
Suizidalität ist ein gesellschaftliches Tabuthema. Was würden Sie sich wünschen im öffentlichen Umgang damit?
Wir müssen das Thema Suizidalität dringend entstigmatisieren. Wir als Gesellschaft sollten lernen, offener und verständnisvoller mit dieser Erkrankung umzugehen – mit psychischen Erkrankungen allgemein. Das hilft auch den Betroffenen.