, 15. September 2021
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Brief an Linda Fäh

Saiten-Kolumnistin Anna Rosenwasser macht ein Geständnis. Es hat mit einer ehemaligen Miss Schweiz zu tun. Und mit Tussis. Ihr Beitrag aus dem Septemberheft.

Liebe Linda Fäh,

es war das Jahr 2009, du warst Miss Schweiz und ich Regionaljournalistin. An einem Samstagnachmittag besuchtest du offiziell den Manor Schaffhausen, um Unterschriften zu verteilen.

Ich hatte den Auftrag, über den Event zu berichten, und ich traue mich kaum, zu Papier zu bringen, was mein erster Satz war. Genau deshalb schreibe ich dir diesen Brief, Linda: Ich will zugeben, was ich damals schreiben wollte.

Als ich vom Manor in die Redaktion meiner Regionalzeitung spazierte, musste ich schmunzeln, weil ich mich für so lustig hielt. Frech einsteigen hatten sie mir in der Journalismusschule beigebracht, den Text mit einem Eyecatcher beginnen. Also setzte ich mich an meinen Redaktionscomputer und tippte:

Der Name Linda Fäh hat nur acht Buchstaben. Die Miss Schweiz sollte es also knapp schaffen, ihre Unterschrift zu schreiben.

Der Satz wurde nie abgedruckt. Der zuständige Redaktor fand ihn zu gemein. Ich erlaubte ihm grossmütig, den Satz zu entfernen, fand mich aber immer noch recht witzig. Hähä, die Miss Schweiz kann knapp ihren Namen schreiben, hihi, weil Schönheitsköniginnen dumm sind, höhö.

Anna Rosenwasser, 1990 geboren und in Schaffhausen aufgewachsen, wohnt in Zürich. Sie arbeitet als freischaffende Journalistin. (Illustration: Lukas Schneeberger)

Dass ich sowas über dich geschrieben habe, Linda, wurde also nie öffentlich. Trotzdem will ich dir sagen: Es tut mir leid. Und: Ich glaube, ich kann es erklären.

In meiner Jugend war das Wort Tussi wichtig. Wer sich zu früh schminkte, zu knapp anzog oder einem einfach nicht in den Kram passte, war eine Tussi. Tussi war eine Beleidigung, keine Frage. Oft waren das aber auch genau die gleichen Mädchen, die von den Jungs als heiss bezeichnet wurden.

Es war, als wäre eine Frau nur dann zu feminin, zu sexy, zu hübsch, wenn sie es selbst entschieden hatte. Wenn hingegen die Jungs die Jury waren, dann durfte sie. Musste sie. Es machte mich wütend: Ich wollte auch, dass die Jungs mich schön fanden. Aber wenn es zu offensichtlich würde, dass ich schön sein wollte, lief ich Gefahr, als Tussi bezeichnet zu werden, und Tussis fanden ja alle scheisse.

Klar waren Blondinenwitze fester Bestandteil meiner Schulzeit. Ich kannte zahllose Pointen über dumme Frauen, aber weibliche Vorbilder fielen mir kaum ein. Von Musikern über Schriftsteller bis hin zu historischen Wissenschaftlern: Ich war umgeben von einem generischen Maskulinum an Helden. Frauen in der Öffentlichkeit waren vor allem schön: Moderatorinnen, Schauspielerinnen, Models. Ob sie studiert hatten, in welchen Bereichen sie Nerds waren und welche Fähigkeiten sie für ihre Jobs beherrschen mussten, das erzählte mir niemand.

Linda, ich weiss noch, wie die Schweizer Klatschpresse dich fertiggemacht hat dafür, dass du das Matterhorn auf einem Bild nicht erkannt hattest. Wir werden alle dazu erzogen, hämisch über Tussis zu lachen. Und ihnen gar keine Chance zu geben, mehrdimensionale Menschen zu sein. (Die auch mal Fehler machen dürfen.)

Wenige Jahre später hast du das Matterhorn bestiegen. Das könnte ich nie – aber ich glaube, bei mir ging es auch aufwärts: Ich habe gelernt, dass die dümmliche Tussi eine frauenfeindliche Erfindung ist. Und dass ich andere Frauen nicht abwerten muss, um selbst eine zu sein.

Von ganzem Herzen solidarisch,

Anna

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