Ernst S. reloaded
Zum Auftakt sieht man, wie ein gehetzter junger Mann auf einen Baum springt und immer höher klettert. Vor einem Vogelnest macht er Halt, packt einen der Vögel und beisst ihm den Kopf ab. Er schluckt ihn und verspeist dann gierig auch noch andere Teile des bedauernswerten Tieres.
Einen Moment lang glaubt man sich in einen Horrorfilm versetzt oder in ein knalliges Drama über einen Psychopathen. Aber nein, Regisseur Michael Krummenacher (Heimatland, De Räuber Hotzenplotz) will mit dieser Eröffnungsszene von Landesverräter nur zeigen: Hier hat einer ganz fürchterlich Hunger.
Der Spielfilm knapp 50 Jahre nach Dindos Dokumentation
Der, bei dem sich hier sein Ausgehungertsein in so bizarrer Weise manifestiert, heisst Ernst Schrämli und ist ein 23-jähriger St.Galler Hilfsarbeiter im Kriegsjahr 1942. Gegen Ende jenes Jahres wird der Sohn eines alkoholkranken, verwitweten und völlig verarmten Kleinbauern als Landesverräter erschossen. Dies deshalb, weil er dem deutschen Konsul in St.Gallen ein paar Granaten sowie einige Skizzen von Bunkeranlagen der Schweizer Armee geliefert hatte. Als Gegenleistung erhoffte er sich dafür Hilfe bei seiner angestrebten Karriere als Sänger in der Reichshauptstadt Berlin.
Die Geschichte dürfte vielen noch bekannt sein. Niklaus Meienberg hat sie vor 50 Jahren als umfangreiche Recherche unter dem Titel Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. im «Tages-Anzeiger»-Magazin veröffentlicht. Im Jahr darauf hatte Meienberg seine Recherchen dann zusammen mit dem Filmregisseur Richard Dindo noch vertieft und dieser veröffentlichte 1976 den gleichnamigen Dokumentarfilm.
Landesverräter läuft ab 24. Oktober in den Kinos. Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. von Richard Dindo ist am 29. Oktober um 18 Uhr noch ein letztes Mal im Kinok St.Gallen zu sehen. Dindo wird anwesend sein.
Anders als in Dindos vordergründig karger und strenger Dokumentation, die zu einem gewichtigen Teil durch die Aussagen der damals noch lebenden Zeitzeugen brillierte und dabei auch viel von der Schönheit und Präzision der Sprache dieser grösstenteils «einfachen Leute» zum Ausdruck kommen liess, richtet Michael Krummenacher seinen Spielfilm nun mit der grossen Kelle an. Wiederholt setzt er auf spektakuläre Effekte, etwa dort, wo der Protagonist Ernst Schrämli – vom 26-jährigen Newcomer Dimitri Krebs solid verkörpert – vom Fliegen träumt oder wenn er zum Schluss vor dem Erschiessungskommando noch die ganz grosse pathetische Nummer abzieht.
Wenig klassenkämpferischer Furor
Im Gegensatz zur Hauptfigur, die mit derartigen Einlagen ihre Glaubwürdigkeit bisweilen unnötig strapaziert, ist es die von Luna Wedler stark verkörperte Figur der Fabrikantentochter Gerti, die den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt.
Gertis Vater ist der Besitzer der Färberei Sittertal, einer Fabrik, in der Ernst Schrämli gelegentlich und nur auf Geheiss seines Vormundes (Stefan Gubser) für einen Hungerlohn schuftet. Als unstandesgemässe zeitweilige Geliebte von Ernst Schrämli ist diese Gerti eine Frau, die in einer Zeit, als Frauen nichts galten, ihren eigenen Weg gehen will. Sie versucht sich über alle Konventionen hinwegzusetzen und wird dann am Ende von einer extrem repressiven Gesellschaft doch wieder in die ihr zugedachte Rolle gezwungen.
In Gertis Figur ist ganz entfernt noch etwas zu spüren vom klassenkämpferischen Furor, der den Film von Dindo und Meienberg gekennzeichnet hatte («unten wurde füsiliert, oben wurde dekoriert»). Das Branchenblatt «Variety» charakterisierte Landesverräter anlässlich des Zurich Film Festivals, an dem der Film kürzlich ohne allzu viel mediale Beachtung seine Weltpremiere erlebte, als «True-Spy-Story from World War II».
Auch Regisseur Michael Krummenacher kommt in dem Artikel zu Wort. Es sei schwierig, etwas zu kritisieren, das sich vor Jahren in einem ganz anderen Klima ereignet habe, sagt er dort und fährt fort: «Ich meine, es war ein kleines Land, das im Grunde von allen Seiten bedroht wurde. Ich verstehe also, dass man Geschäfte macht, um zu überleben.» So kann man es natürlich auch sehen und diese Haltung mag am Ende auch mit eine Erklärung dafür sein, wieso einen Landesverräter letztlich emotional kaum mitreisst.