Johan, ein schon in die Jahre gekommener Schilfbauer, lebt zurückgezogen auf seinem Hof im niederländischen Marschland. Hin und wieder bekommt er Besuch von seiner jungen Enkelin, die bei ihm übernachtet und ihre Zeit vor allem damit verbringt, allein vor dem Fernseher zu sitzen. Johan ist Witwer und die Hauptfigur in Rietland, dem Spielfilmdebüt von Sven Bresser. Durch Johan erleben wir hautnah den Arbeitsalltag eines bescheidenen wie wortkargen Schilfschneiders im ländlich geprägten Teil der Niederlande. Über die ganze Länge des Films wirkt Johan verschlossen. Was in seinem Innersten vor sich geht, tritt nur gelegentlich an die Oberfläche.
In den ersten zehn Minuten des Films wird kaum gesprochen, im Vordergrund steht die einsame Arbeit auf dem Feld: Man sieht Johan wie er mit Gummistiefeln im hohen Schilf steht und es mit einer Sichel bearbeitet. Die raue windige Landschaft mit ihren Feuchtwiesen und langgezogenen Kanälen ist unüberhörbar, der Himmel weit und der Schilfbauer in seinem Element, indem er die uralte Handwerkstradition des Schilf- bzw. Reetanbaus am Leben hält. Vom Einsatz grosser Maschinen hält er nicht viel.
Im Verlauf der Geschichte wird klar, dass die alte Tradition des Schilfanbaus im Aussterben begriffen ist, weil China mit Billigpreisen den Markt schwemmt. Ein Kunde Johans meint dazu: «So sind die Zeiten […] Du musst eben mit der Zeit gehen.» Als wäre das Aussterben seines Berufs nicht Grund genug, in Zweifel zu geraten, ereignet sich ausgerechnet auf seinem Anbaufeld ein Mord an einem jungen Mädchen. Halbnackt wird es eines Morgens von Johan aufgefunden. Die örtliche Polizei tappt daraufhin lange Zeit im Dunkeln. Die Dorfgemeinschaft ist in Schockstarre, wobei Johan wie besessen versucht, herauszufinden, wer das Mädchen getötet hat.
In David-Lynch-Manier
Johan wird von Regisseur Sven Bresser als ein eigensinniger und wortkarger Mensch in Szene gesetzt: Die Kamera geht dabei meist auf Abstand und zeigt in der Totalen das zurückgezogene Leben sowohl im Haus als auch auf dem Feld. Die Bildfolgen atmen Ruhe und zeigen das Alltägliche. Sven Bresser und Kameramann Sam du Pon arbeiten vor allem mit kammerspielartiger Atmosphäre und legen Wert auf lang nachhallende Bildfolgen. So zeigt du Pon unter anderem die geschundenen Arbeiterhände des Bauern in Grossaufnahme, oder lässt sie beim einsamen Beten am Küchentisch zur ästhetischen Attraktion werden. Auch das Vergehen von Zeit giesst Kamermann du Pon in ruhende Bilder, die er unter anderem mit dem lauten Ticken einer Küchenuhr verbindet. Selbst der beschämte und langanhaltende Blick Johans in einen alten Wandspiegel wird auf überzeugende Weise dargestellt.
Das Sounddesign des Films ist ebenfalls eindrucksvoll: Die flache Landschaft im Norden der Niederlande kommt einem unglaublich nah. Man hat den Eindruck, Teil dieser Landschaft zu sein, der Wind säuselt einem ins Ohr, der Regen prasselt gegen die Windschutzscheibe, das Wasser rauscht und rinnt, und kleinere Feuer – von Johan angefacht – prasseln vor sich hin. Sven Bresser, der auch das Drehbuch von Rietland geschrieben hat, ist ein Meister der Verdichtung von Bildern und Tönen. Nicht umsonst wird er mit Regisseuren wie David Lynch und Ingmar Bergmann verglichen.
Die Natur selbst wie auch die Natur des Menschen stehen im Zentrum der Geschichte. Man spürt in jeder Einstellung, wie ernst es dem Regisseur um sein Thema ist: Er führt seine Figuren nicht vor, er lässt sie in dieser besonderen Landschaft sie selbst sein, mit all ihren Ängsten, Sorgen, und Begierden. Es ist ausserdem eine besondere Stärke des Films, dass selbst tabuisierte Themen wie Selbstbefriedigung oder auch die zunehmende Vereinzelung und Vereinsamung innerhalb der Gesellschaft in all ihrer Drastik gezeigt werden.
Ortskenntnisse durch Feldarbeit
Die 112 Minuten Filmlänge wirken nie gedehnt, die eingearbeitete Spannung an keiner Stelle aufgesetzt. Das Bedrohliche wirkt im Alltäglichen fort. Dass Sven Bresser bei seinem 2025er-Spielfilmdebüt mit Laien gearbeitet hat, merkt man Rietland nicht an – Johan wird von Gerrit Knobbe wunderbar und souverän gespielt. Kennengelernt haben sich Laiendarsteller und Regisseur während der drei Sommer, die Bresser als Erntehelfer im Marschland verbracht hat. Dieser Zeit verdankt der Regisseur auch die Ortskenntnis sowie die Einfühlung in die Landschaft.
Zuletzt schaffte es der Film in die Auswahl der Semaine de la Critique für die Filmfestspiele in Cannes 2025, erhielt beim 74. Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg den Fipresci-Kritikerpreis und wurde als niederländischer Beitrag für die Oscars eingereicht.
Man wünscht diesem fein gesponnenen Film ein grosses Publikum und weitere anerkennende Preise. Denn obwohl dieses aussergewöhnliche Spielfilmdebüt des 33-jährigen Niederländers Sven Bresser oft nur Dinge anreisst, vieles sogar offenlässt, ist die niederländisch-belgische Produktion ein packender wie kunstvoll arrangierter Thriller, der gekonnt mit Elementen des magischen Realismus arbeitet und sogar Videokunstelemente in seine Handlung aufnimmt.
Rietland: mehrere Vorführungen bis 31. Dezember, Kinok St.Gallen