Den Nebel aufbrechen

Bernhard Rothenbühler bei der Gartenarbeit (Bild: Filmstill)

Der Schweizer Dokumentarfilm Nebelkinder. Aufbruch aus dem Schweigen von Corinne Kuenzli greift die Geschichte von vier Verdingkindern auf. Dabei geht es nicht nur um die Betroffenen selbst, sondern auch um deren Nachkommen. Ein Film, der nachhallt und zum Nachdenken anregt.

In ih­ren Ja­cken sit­zen Bern­hard und sein längst er­wach­se­ner Sohn Mi­ke am spär­lich be­leuch­te­ten Kü­chen­tisch und re­den. Die Si­tua­ti­on wirkt ge­stellt und ist dann doch sehr in­tim. Bei­na­he zu in­tim. Er ha­be nie ei­ne Be­zie­hung zur Mut­ter oder zum Va­ter ge­habt, sagt Bern­hard: «Und jetzt ha­be ich ei­ne sehr en­ge zu mei­ner Frau, al­so zu dei­ner Mut­ter.» 

Die Ka­me­ra fo­kus­siert kurz auf Mi­kes Ge­sicht, die­ser presst die Lip­pen auf­ein­an­der und der Va­ter fährt fort: «Und zu euch Kin­dern ha­be ich auch ei­ne re­la­tiv gu­te Be­zie­hung.» Noch wäh­rend er das sagt, lehnt sich Mi­ke auf sei­nem Stuhl zu­rück und wirft la­chend ein: «Al­so das re­la­tiv ist jetzt noch spe­zi­ell». Dar­auf meint Bern­hard, dass die Be­zie­hung zu sei­nen Kin­dern viel­leicht ein­fach nicht so sei, wie man sich das vor­stel­le. Die bei­den set­zen ihr Ge­spräch fort, zu­rück bleibt ein selt­sa­mes Un­be­ha­gen.

Lei­se, aber hart­nä­ckig, durch­zie­hen sol­che Span­nun­gen den Do­ku­men­tar­film Ne­bel­kin­der. Auf­bruch aus dem Schwei­gender Ber­ner Re­gis­seu­rin Co­rin­ne Kuenz­li. Der Film, der an den So­lo­thur­ner Film­ta­gen Pre­mie­re fei­er­te und nun in den Schwei­zer Ki­nos läuft, greift die Le­bens­ge­schich­te von vier Ver­ding­kin­dern auf und be­glei­tet die­se, be­zie­hungs­wei­se ih­re Nach­kom­men, bei der fa­mi­li­en­ge­schicht­li­chen Spu­ren­su­che. 

Rei­se in die Ver­gan­gen­heit

Es geht um Hans Jungo und sei­ne Toch­ter Ur­su­la Bühl­mann, Bern­hard Ro­then­büh­ler und sein Sohn Mi­ke, Sa­bi­ne Mack­in­tosh und ih­re Mut­ter Eve­lyn Al­brecht. Und da ist Li­lia­ne Rhis, die sich ge­mein­sam mit ih­rer Toch­ter Le­na mit ih­rem ver­stor­be­nen Va­ter aus­ein­an­der­setzt. «Auf die­ser Rei­se kom­men», so heisst es in der Syn­op­sis, «ver­dräng­te Er­in­ne­run­gen ans Licht, see­li­sche Wun­den wer­den frei­ge­legt, Scham wird über­wun­den.» 

Die Re­gis­seu­rin Kuenz­li, de­ren Gross­va­ter ein Heim­kind war, be­glei­tet die Prot­ago­nist:in­nen in Ar­chi­ve und be­ob­ach­tet sie in ih­ren Wohn­zim­mern, wäh­rend sie in Fo­to­al­ben blät­tern oder wie sie mit­ein­an­der am Kü­chen­tisch spre­chen. Die Ka­me­ra ist da­bei stets nah dran und meis­tens be­rich­ten die Prot­ago­nist:in­nen gleich selbst. Sie er­zäh­len von den Be­zie­hun­gen zu ih­ren El­tern, von den Er­in­ne­run­gen an die Zeit als Ver­ding­kin­der oder da­von, was es aus­löst, in Ak­ten über sich selbst oder ein El­tern­teil zu le­sen. 

Zwi­schen die ein­zel­nen Er­zähl­strän­ge, die sich un­ab­hän­gig von­ein­an­der ent­wi­ckeln, mon­tiert die Re­gis­seu­rin Aus­schnit­te aus Fil­men wie Ober­stadt­gass (1956) oder Der Ver­ding­bub (2011). Die­se Wer­ke, so schreibt Kuenz­li im Re­gie­state­ment, hät­ten den Um­gang mit Heim- und Ver­ding­kin­dern oft idea­li­siert dar­ge­stellt. «Manch­mal war es ver­blüf­fend, wie sich Er­leb­nis­se von Prot­ago­nist:in­nen in den Fil­men fan­den, aber egal, wie aus­weg­los die Si­tua­ti­on der Kin­der dar­in war, al­le Fil­me en­de­ten mit ei­nem Hap­py End.» 

Dar­über spre­chen, um zu ver­ste­hen

Wie her­aus­for­dernd und er­schöp­fend es sein muss, in der ei­ge­nen Ver­gan­gen­heit zu gra­ben, sieht man den Be­trof­fe­nen vor al­lem dann an, wenn sie schwei­gen. Ne­bel­kin­der macht da­bei deut­lich, wie schwie­rig es für die Be­trof­fe­nen ist, über das Er­leb­te zu spre­chen. Und wie wich­tig es gleich­zei­tig sein kann. Für die Be­trof­fe­nen selbst, aber viel­leicht noch mehr für de­ren Kin­der. 

Denn oft sind sie es, die das «Auf­bre­chen des Schwei­gens» be­gin­nen. Die Auf­ar­bei­tung der el­ter­li­chen Ge­schich­te scheint ein Weg zu sein, die­se bes­ser zu ver­ste­hen. Da passt dann auch der Film­ti­tel: Ne­bel­kin­der. So be­zeich­net man in der Psy­cho­lo­gie Kin­der, de­ren El­tern Trau­ma­ti­sches über­lebt ha­ben.

Liliane Rhis und ihre Tochter Lena auf Spurensuche (Bild: pd/Filmstill)

In Ne­bel­kin­der geht es al­so nicht nur um die Ge­schich­te der Ver­ding­kin­der, son­dern eben­so um je­ne ih­rer Kin­der. Die­se El­tern-Kind-Be­zie­hun­gen wa­ren, so viel wird klar, oft schwie­rig. Da­bei scheint die ge­walt­vol­le Kind­heit der El­tern ei­nen Ein­fluss dar­auf zu ha­ben, wie die­se ih­re ei­ge­nen Be­zie­hun­gen ge­stal­ten. Di­stan­ziert­heit, Ab­leh­nung oder so­gar Ge­walt sind da­bei die gros­sen The­men. «Ich ha­be auch un­ter mei­nem Va­ter ge­lit­ten», sagt die Prot­ago­nis­tin Li­lia­ne Rhis ein­mal, aber sie ha­be den Wunsch, da­mit ab­zu­schlies­sen.

Sol­che be­drü­cken­den Mo­men­te hal­len lan­ge nach, auch weil Co­rin­ne Kuenz­li ih­nen viel Raum gibt. Und es sind die­se Mo­men­te, in de­nen die Ver­letz­lich­keit der Por­trä­tier­ten so un­mit­tel­bar spür­bar ist, dass es fast zu pri­vat scheint, da zu­zu­se­hen.

Zum En­de des Fil­mes deu­tet sich dann trotz al­lem das von der Re­gis­seu­rin kri­ti­sier­te Hap­py End an. Aber al­ler ge­zeig­ten Auf­lö­sung und Ver­söh­nung zum Trotz schwin­gen in den Ge­schich­ten rund um die­se Ne­bel­kin­der fei­ne Zwi­schen­tö­ne mit, die nach wie vor von Schmerz, Zu­rück­wei­sung und Un­aus­ge­spro­che­nem er­zäh­len. Und man fragt sich, wie vie­le die­ser «ver­dräng­ten Er­in­ne­run­gen « und «see­li­schen Wun­den» zwar frei­ge­legt, aber eben nicht ge­heilt sind – und ob das je der Fall sein wird. 

Ne­bel­kin­der. Auf­bruch aus dem Schwei­gen von Co­rin­ne Kuenz­li.
28. Ok­to­ber, 18.30 Uhr, Ki­nok, St.Gal­len, wei­te­re Vor­stel­lun­gen im No­vem­ber.
9. No­vem­ber, 19 Uhr, Ki­no Ro­sen­tal, Hei­den, wei­te­re Vor­stel­lun­gen im No­vem­ber.

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