In ihren Jacken sitzen Bernhard und sein längst erwachsener Sohn Mike am spärlich beleuchteten Küchentisch und reden. Die Situation wirkt gestellt und ist dann doch sehr intim. Beinahe zu intim. Er habe nie eine Beziehung zur Mutter oder zum Vater gehabt, sagt Bernhard: «Und jetzt habe ich eine sehr enge zu meiner Frau, also zu deiner Mutter.»
Die Kamera fokussiert kurz auf Mikes Gesicht, dieser presst die Lippen aufeinander und der Vater fährt fort: «Und zu euch Kindern habe ich auch eine relativ gute Beziehung.» Noch während er das sagt, lehnt sich Mike auf seinem Stuhl zurück und wirft lachend ein: «Also das relativ ist jetzt noch speziell». Darauf meint Bernhard, dass die Beziehung zu seinen Kindern vielleicht einfach nicht so sei, wie man sich das vorstelle. Die beiden setzen ihr Gespräch fort, zurück bleibt ein seltsames Unbehagen.
Leise, aber hartnäckig, durchziehen solche Spannungen den Dokumentarfilm Nebelkinder. Aufbruch aus dem Schweigender Berner Regisseurin Corinne Kuenzli. Der Film, der an den Solothurner Filmtagen Premiere feierte und nun in den Schweizer Kinos läuft, greift die Lebensgeschichte von vier Verdingkindern auf und begleitet diese, beziehungsweise ihre Nachkommen, bei der familiengeschichtlichen Spurensuche.
Reise in die Vergangenheit
Es geht um Hans Jungo und seine Tochter Ursula Bühlmann, Bernhard Rothenbühler und sein Sohn Mike, Sabine Mackintosh und ihre Mutter Evelyn Albrecht. Und da ist Liliane Rhis, die sich gemeinsam mit ihrer Tochter Lena mit ihrem verstorbenen Vater auseinandersetzt. «Auf dieser Reise kommen», so heisst es in der Synopsis, «verdrängte Erinnerungen ans Licht, seelische Wunden werden freigelegt, Scham wird überwunden.»
Die Regisseurin Kuenzli, deren Grossvater ein Heimkind war, begleitet die Protagonist:innen in Archive und beobachtet sie in ihren Wohnzimmern, während sie in Fotoalben blättern oder wie sie miteinander am Küchentisch sprechen. Die Kamera ist dabei stets nah dran und meistens berichten die Protagonist:innen gleich selbst. Sie erzählen von den Beziehungen zu ihren Eltern, von den Erinnerungen an die Zeit als Verdingkinder oder davon, was es auslöst, in Akten über sich selbst oder ein Elternteil zu lesen.
Zwischen die einzelnen Erzählstränge, die sich unabhängig voneinander entwickeln, montiert die Regisseurin Ausschnitte aus Filmen wie Oberstadtgass (1956) oder Der Verdingbub (2011). Diese Werke, so schreibt Kuenzli im Regiestatement, hätten den Umgang mit Heim- und Verdingkindern oft idealisiert dargestellt. «Manchmal war es verblüffend, wie sich Erlebnisse von Protagonist:innen in den Filmen fanden, aber egal, wie ausweglos die Situation der Kinder darin war, alle Filme endeten mit einem Happy End.»
Darüber sprechen, um zu verstehen
Wie herausfordernd und erschöpfend es sein muss, in der eigenen Vergangenheit zu graben, sieht man den Betroffenen vor allem dann an, wenn sie schweigen. Nebelkinder macht dabei deutlich, wie schwierig es für die Betroffenen ist, über das Erlebte zu sprechen. Und wie wichtig es gleichzeitig sein kann. Für die Betroffenen selbst, aber vielleicht noch mehr für deren Kinder.
Denn oft sind sie es, die das «Aufbrechen des Schweigens» beginnen. Die Aufarbeitung der elterlichen Geschichte scheint ein Weg zu sein, diese besser zu verstehen. Da passt dann auch der Filmtitel: Nebelkinder. So bezeichnet man in der Psychologie Kinder, deren Eltern Traumatisches überlebt haben.
Liliane Rhis und ihre Tochter Lena auf Spurensuche (Bild: pd/Filmstill)
In Nebelkinder geht es also nicht nur um die Geschichte der Verdingkinder, sondern ebenso um jene ihrer Kinder. Diese Eltern-Kind-Beziehungen waren, so viel wird klar, oft schwierig. Dabei scheint die gewaltvolle Kindheit der Eltern einen Einfluss darauf zu haben, wie diese ihre eigenen Beziehungen gestalten. Distanziertheit, Ablehnung oder sogar Gewalt sind dabei die grossen Themen. «Ich habe auch unter meinem Vater gelitten», sagt die Protagonistin Liliane Rhis einmal, aber sie habe den Wunsch, damit abzuschliessen.
Solche bedrückenden Momente hallen lange nach, auch weil Corinne Kuenzli ihnen viel Raum gibt. Und es sind diese Momente, in denen die Verletzlichkeit der Porträtierten so unmittelbar spürbar ist, dass es fast zu privat scheint, da zuzusehen.
Zum Ende des Filmes deutet sich dann trotz allem das von der Regisseurin kritisierte Happy End an. Aber aller gezeigten Auflösung und Versöhnung zum Trotz schwingen in den Geschichten rund um diese Nebelkinder feine Zwischentöne mit, die nach wie vor von Schmerz, Zurückweisung und Unausgesprochenem erzählen. Und man fragt sich, wie viele dieser «verdrängten Erinnerungen « und «seelischen Wunden» zwar freigelegt, aber eben nicht geheilt sind – und ob das je der Fall sein wird.
Nebelkinder. Aufbruch aus dem Schweigen von Corinne Kuenzli.
28. Oktober, 18.30 Uhr, Kinok, St.Gallen, weitere Vorstellungen im November.
9. November, 19 Uhr, Kino Rosental, Heiden, weitere Vorstellungen im November.