Ich habe meine gesamte Jugend der Ostschweizer Provinz gewidmet, bin nie weggezogen, habe dies oder jenes romantisiert: kurze Wege zu Kulturgeld, kleine Szenen oder die Chance, etwas zu verändern, weil man selbst den rechtsextremen Politiker:innen beim lokalen Kulturfest über den Weg läuft und mit ihnen diskutieren kann. «Das Hinterland nicht den Faschos überlassen», von St.Gallen bis Luzern sprayen das Generationen von Provinzqueers an Bahnhöfe, Busstationen und an die Tankstellenshops am Stadtrand. Die Message: Wir schaffen das, was auch immer «das» genau sein sollte – I thought the same, there’s no place like home.
Den Kontrast dazu bildeten für mich diejenigen, die zwischen den Hinterland-Graffitis Träume von urbanen Kunstkarrieren an die Wände malten und dann nach Berlin oder Paris verschwanden, je nachdem, ob sie eine Element-of-Crime- oder eine Basquiat-Kopie werden wollten. Einige blieben weg und einige kamen wieder zurück, weil es sich in der Provinz dann doch so gut lebt, wegen der grünen Wiesen, des Kulturgelds oder des Erbes. In meiner Provinzromantik habe ich deren Abenteuer leise belächelt und der Auswanderungsfantasie eine noch mutigere gegenübergestellt: Was ist schon das metaphorische Aufbauen eines neuen Lebens gegen das wörtliche Bauen eines Kleinstadt-Clubs, aus Schweiss, Holzresten und dem grummlig gesprochenen Geld einer Mitte-Rechts-Mehrheit?
Aber: Vor exakt einem Jahr habe ich der Provinz den Rücken gekehrt und bin auch in eine Grossstadt gezogen. Nicht mit Early-Twenties-Romantik, sondern dann, wenn man eigentlich die Belohnungen eines Jahrzehnts Kulturarbeit und die Mässigung eines Jahrzehnts mit rechten Lokalpolitikern reden erntet: Institutionalisierung, eine Kleinfamilie, einen Juryjob oder ein politisches Amt. I did get none of that, denn das Bürgertum, mit dem mein Kulturumfeld angebandelt hat, hat den Rechtsrutsch und die Transfeindlichkeit regionalisiert. Das Beste, was ich hier noch sein konnte, ist der lokale Freak, the tranny next door. Und die Alltagsdiskriminierung ist mir kein mässig bezahlter Kulturjob mehr wert, Sicherheit geht vor.
Vor meinem jetzigen Besuch in der Schweiz sagte mir meine Oma, es sei sicher schön, ein paar Tage in der Heimat zu verbringen. Aber wenn ich in Zürich aus dem Fernzug aussteige, zieht sich mein Magen zusammen, und wenn ich durchs Provinzstädtchen spaziere, mache ich intuitiv Abstecher um die Ecken herum, an denen ich seit Coming-out und Transition beschimpft, bespuckt oder angeschrien wurde. Die ach so hoch gelobten kurzen Wege der Provinz führen mich als Fetisch durch die Menschenschau, als ich das letzte Mal wegen Kulturgeld in der Zeitung war, erhielt ich eine Morddrohung. Ach, provinzielle Heimat verspricht doch melancholische Gefühle von Wohlsein, aber wenn meine Oma von meiner «Heimat» spricht, hab ich keine Ahnung mehr, was sie damit genau meint, und mein Kopf fliegt blitzschnell ganz woanders hin. There’s no place like home, no more.
Mia Nägeli, 1991, arbeitet nach einer Journalismusausbildung und ein paar Jahren bei verschiedenen Medien heute in der Musikbranche in der Kommunikation, als Tontechnikerin und als Musikerin. Seit Herbst 2024 studiert sie Kunst in Wien.