, 18. Dezember 2022
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«Wir müssen noch viel mehr Leute auf die Bahn bringen – und zwar schnell»

Südostbahn-Chef Thomas Küchler gilt als Querkopf und Unruhestifter der Schweizer Bahnbranche. Im Interview spricht der diplomierte Ingenieur über seinen politischen Auftrag, über den beispiellosen Expansionskurs der SOB in den vergangenen Jahren und darüber, wie man die Menschen zum Umstieg vom Auto auf den ÖV bewegt.

SOB-Chef Thomas Küchler (Bild: Andri Vöhringer)

Saiten: Seit über 20 Jahren sind Sie im Öffentlichen Verkehr tätig, seit 2010 als Chef der SOB. Kürzlich haben Sie in einem Interview aber gesagt, sie seien kein «in der Wolle gefärbter ÖV-Mensch» und eigentlich lieber in Ihrem Ford Mustang Mach-E unterwegs. Wie passt das zusammen?

Thomas Küchler: «In der Wolle» heisst für mich «ausschliesslich». Die Herausforderungen im Verkehr können wir nur lösen, wenn wir das gesamte Mobilitätssystem im Blick behalten. Die Lösung kann nicht ausschliesslich ÖV, aber auch nicht ausschliesslich motorisierter Individualverkehr (MIV) sein. Es braucht eine Mischform, das war immer mein Credo.

Es gibt also doch Dinge, die Sie persönlich am Zugreisen mögen?

Ja, natürlich. Das ist in erster Linie die Ruhe, die man hat. Man kann arbeiten. Es ist keine verlorene Zeit, wie es das im Auto ist – sofern man nicht Spass am Fahren an sich hat. Ich schätze auch die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit des ÖV und ebenso die Geschwindigkeit auf den Hauptrouten, auf denen der ÖV gegenüber dem MIV unschlagbar ist.

Sie wurden auch schon als «Querkopf» und «Unruhestifter» bezeichnet, vor allem auch deswegen, weil Sie der übergrossen SBB hin und wieder die Stirn bieten. Freut Sie diese Bezeichnung?

Es macht mich sogar ein bisschen stolz, weil ich damit meinen Auftrag erfüllt habe. Als ich damals 2012 beim Bundesamt für Verkehr (BAV) meinen Antrittsbesuch machte, sagte mir Amtsdirektor Peter Füglistaler, er erwarte von mir, dass man aus der Ostschweiz wieder vermehrt hören wird und neue Ideen ins System kommen sollen. Das passt auch zur Rolle, die der SOB von der Politik unter dem Stichwort «SBB plus X» (siehe Infobox) zugedacht ist.

Die SOB engagiert sich mit dem Interregio Aare-Linth und seit zwei Jahren mit dem Treno Gottardo im Fernverkehr. Was führte zu dieser beispiellosen Expansionsstrategie?

Die Fusion der Südostbahn mit der Bodensee-Toggenburg-Bahn zur heutigen SOB im Jahr 2001 wurde politisch angetrieben, um die Strategie SBB plus X umzusetzen. Die SOB hatte damit eine suboptimale Grösse der Zugproduktion. Man hat zwei Infrastrukturen zusammengelegt, hat aber die Produktion inhaltlich nicht entsprechend ausgeweitet. Man kann es relativ lapidar sagen: Das Engagement der SOB im Fernverkehr hat die Effizienz der Produktion enorm gesteigert, die SOB benötigt mittlerweile 20 Prozent weniger Subventionen.

SBB plus X
2003 entschied sich der Bundesrat für dieses Mehrbahnenmodell, das den Wettbewerb im Inland-Fernverkehr auf der Normalspur ankurbeln sollte. Vorgesehen war insbesondere eine Stärkung der Rollen der SOB und der BLS gegenüber der SBB, die ihre Funktion als unangefochtene Systemführerin allerdings beibehalten sollte. Das Modell ist heute im Wesentlichen umgesetzt.

Der Bund hält mit 36 Prozent den grössten Anteil der SOB und vergibt ausserdem die Konzessionen für den Streckenbetrieb, womit er die SOB-Expansionsstrategie erst ermöglichte. Welchen unternehmerischen Spielraum haben Sie überhaupt? Einige sagen ja, Sie seien eigentlich nur ein Sub-Unternehmer der Bundesbahn.

Ein Stück weit stimmt es natürlich schon. Im Regionalverkehr sind wir Auftragnehmer der Kantone, im Fernverkehr ist die SBB unsere Auftraggeberin. Dennoch sind wir recht selbständig unterwegs. Wir schätzen es beispielsweise sehr, dass die SBB uns relativ freie Hand lässt bei der Gestaltung unseres Auftritts. Natürlich fahren wir im Fernverkehr ein Co-Branding, aber ich glaube, es kommt ziemlich deutlich rüber, wessen Handschrift unser Angebot trägt.

Was – abgesehen von Subventionseinsparungen – hat die Bevölkerung konkret davon, wenn die SOB jetzt auch im Fernverkehr mitmischt? Als Bahnkunde kann es mir ja egal sein, was auf dem Zug steht, solange regelmässig einer fährt.

Diese Aussage hätte ich bis vor wenigen Jahren auch noch unterschrieben. Aber spätestens seit unserem Eintritt in den Fernverkehr sehe ich das anders. Die Rückmeldungen unserer Kund:innen, die nicht nur mich, sondern auch unsere Mitarbeiter:innen auf den Zügen erreichen, hinter vorgehaltener Hand auch von anderen Bahnunternehmen, lauten häufig: Hey, ihr macht einen hervorragenden Job. Es gibt viele Leute, die, wenn sie die Wahl haben, eine SOB-Verbindung wählen.

Warum?

Wir achten auf die Reisequalität. Das ging in den letzten Jahren etwas verloren. Fahrgastkomfort, bequeme Sitze, helle und freundliche Fahrgasträume, guter Stauraum für Velos und Ski-Ausrüstung, Bistrozone. Wenn wir auf den Freizeitverkehr fokussieren wollen, müssen wir auf solche Qualitätsmerkmale setzen. Ein weiterer, ebenso wichtiger Erfolgsfaktor ist die Freundlichkeit und Kompetenz der Kundenbegleiter:innen.

Ist das ein strategischer Entscheid oder setzt man notgedrungen auf den Freizeitverkehr, weil der Bund die schnellen Verbindungen ohnehin nur der SBB zuteilt?

Wir haben uns als kleiner Player diese Frage natürlich auch gestellt: Ist es unsere Welt, in die grossen, stark belasteten Linien einzutreten? Wir haben uns dann ganz bewusst dagegen und für den Fokus auf den Freizeitverkehr entschieden.

Die SOB hat in den letzten Jahren über 500 Millionen Franken investiert. Was sind die nächsten grossen Schritte? Geht der Blick vielleicht sogar weiter Richtung Westen?

Bern ist für uns wohl der westlichste Punkt. Unser Fokus liegt auf der Deutschschweiz, vor allem auf unserem Kerngebiet, der Zentral- und der Ostschweiz. Was wir auf jeden Fall behalten wollen, und dafür werden wir kämpfen, ist die Bergstrecke ins Tessin. Diese geniesst Kultstatus und hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind.

Die Ostschweiz wurde bahntechnisch eigentlich schon im 19. Jahrhundert abgehängt. Alfred Escher baute seine Nordostbahn Richtung Deutschland von Thurtal nach Romanshorn. Wie kann die SOB diesem historischen Erbe gegensteuern?

Das können wir nicht alleine. Die Infrastruktur der SOB ist relativ klein. Eine gute Anbindung ans Fernverkehrsnetz erfordert ein konzertiertes Vorgehen von Politik, SOB, SBB, Thurbo und so weiter. Unser Voralpen-Express ist die schnellste Verbindung an die Nord-Süd-Achse. Ansonsten können wir vor allem mit der Angebotsentwicklung einen Beitrag leisten.

Welche Angebote meinen Sie?

Zum Beispiel die Direktverbindungen St.Gallen-Zürich. Wir plädieren auch für Direktverbindungen an Zürich vorbei. Darum haben wir seit einem Jahr die Aare-Linth-Linie, die wir ins Spiel gebracht haben. Diese fährt zwar auch über Zürich, dafür ohne Umstieg von Bern bis Chur. Wir wollen die Bahn in der Ostschweiz nicht nur über die schnellen Haupt-, sondern auch über die Nebenlinien stärken.

Sie fordern immer wieder, die ÖV-Branche müsse agiler werden. Was meinen Sie damit konkret?

Vorab: Der ÖV und insbesondere die Eisenbahnen machen bereits einen hervorragenden Job. Aber: Für die Zukunft reicht das nicht. Wir müssen den Anteil der Bahn am gesamten Personenverkehrsaufkommen verdoppeln, um die Klimaziele zu erreichen. Da sind wir mit den bisherigen Rezepten mit Matthäus am Ende, wie wir in der Innerschweiz sagen. Als mit der Bahn 2000 der systematische Stunden- und Halbstundentakt eingeführt wurde, gab es im sogenannten Modalsplit, also in der Verteilung des Verkehrsaufkommens, eine riesige Verschiebung auf die Bahn. Jede spätere Ausweitung des Angebots konnte aber nur noch den Mehrverkehr bewältigen. Eine anteilsmässige Verschiebung zwischen den Verkehrsträgern blieb seither aus.

Was braucht es also ausser einem gut ausgebauten Angebot, damit noch mehr Menschen auf den ÖV umsteigen?

Heute braucht es flexiblere Lösungen. Ein Fahrplansystem zu planen, dauert heute drei Jahre und damit definitiv zu lange. Bisher hat man stark auf die Bedürfnisse der Pendler:innen fokussiert und den zunehmenden Freizeitverkehr vernachlässigt. Denn statistisch gesehen macht der Freizeitverkehr hierzulande mehr als 50 Prozent des gesamten Verkehrsaufkommens aus. Entsprechend gross ist der Hebel bei der Reduktion von Treibhausgas-Emissionen, wenn auch der Freizeitverkehr vermehrt auf die Schienen verlagert werden kann.

Was wünschen Sie sich hierbei von der Politik?

Die Politik sollte nicht immer nach Compliance schreien, sondern Innovation ermöglichen und auch mal Fehler zulassen. Die Bereitschaft dazu war vor 20 Jahren gewiss höher. Es gäbe bei den Bahnunternehmen viele intelligente Köpfe mit guten Ideen, aber man hat Angst zu scheitern. Es ist für mich persönlich, aber auch für ein Unternehmen inklusive Verwaltungsrat immer wieder eine grosse Herausforderung, Neues zu wagen. Unser aktuelles Projekt ÖV42, das wir zusammen mit der BLS, PostAuto Schweiz, dem Kanton St.Gallen und weiteren Partnern hier in der Region durchführen, bildet da eine Ausnahme.

Worum geht es dabei?

Thomas Küchler, 1961, hat in Schwyz eine Lehre zum Tiefbauzeichner absolviert. 1987 machte er am Technikum in Luzern sein Diplom zum Bauingenieur. 1998 trat er als Projektleiter bei den SBB ein, 2005 wurde er Leiter der Geschäftseinheit Unterhalt, Bau und Logistik. Seit 2010 ist er CEO der Schweizerischen Südostbahn AG. Ausserdem präsidiert er die Genossenschaft Openmobility mit Sitz in Herisau und ist Stiftungsratsmitglied der VSS-Stiftung für die Aus- und Weiterbildung im Strassen- und Verkehrswesen.

Anhand stark anonymisierter Bewegungsdaten, die uns die Swisscom zur Verfügung stellt, ermitteln wir bis hinunter auf Quartierebene, wo und zu welchen Zeiten grosse Verkehrsströme entstehen. Zum Beispiel ins Skigebiet Flumserberg. Zu bestimmten Zeiten im Winter haben wir da ein riesen Puff auf den Strassen. Wir versuchen jetzt gezielt mit der Bevölkerung vor Ort, mit den Unternehmen etc. herauszufinden, was es braucht, damit die Menschen aufs Auto verzichten. Ist beispielsweise jemand bereit, für 30 Tage seine Autoschlüssel abzugeben, wenn man der Person dafür ein Monats-GA oder andere Serviceleistungen überlässt, zum Beispiel ein E-Bike oder ein Lastenvelo? Wir wollen wissen: Wie bringen wir die Leute auf den ÖV?

Dieses Jahr hat sich gezeigt: Übers Portemonnaie allein gehts nicht. Gestiegene Benzinpreise führen nicht zum Umdenken.

Exakt. Die Lösung liegt auch nicht in Verboten oder Geboten. Hier setzt ÖV42 an. Bisher haben viele gescheite Leute eruiert, wie das Angebot verbessert werden könnte und wo man allenfalls tarifarisch noch etwas schrauben könnte. Dabei hatte man aber stets die Bedürfnisse jener im Fokus, die den ÖV bereits oft nutzen. Die potenziellen Neukund:innen, die heute stark aufs Auto setzen, hat man bisher vernachlässigt.

Wo steht das Projekt aktuell?

Vor den Sommerferien haben wir die ersten Gespräche geführt, jetzt zum Beginn der Skisaison starten bereits die ersten Versuche im Flumserberg. Wir machen das quick and dirty. Schnell etwas ausprobieren. Wenns nichts bringt, die Übung sofort abbrechen und die nächste Idee anpacken. Nicht drei Jahre warten und dann evaluieren. Das sind kleine Pakete, die man im Erfolgsfall, also wenn sich tatsächlich Verlagerungseffekte einstellen, auch anderswo ausprobieren und vielleicht sogar auf ganze Regionen hinauf skalieren kann.

Im Toggenburg tüftelt die SOB derzeit – nicht zum ersten Mal – gemeinsam mit dem Bund und anderen Partnern an einem On-Demand-Projekt. Welche Ziele verfolgen Sie hierbei?

Wir glauben, dass die aktuellen Herausforderungen nur mit vernetzter Mobilität gelöst werden können. Vor fünf Jahren haben wir mit dem Projekt Abilio bereits einen – allerdings erfolglosen – Anlauf genommen. Wir wollten gemeinsam mit einem Industriepartner eine Lösung bauen, die es erlaubt hätte, verschiedene Dienstleistungen über eine einzige App einzukaufen. Wir konnten das in der Branche nicht etablieren.

Warum hat es nicht geklappt?

Der Fokus lag damals und liegt bis heute etwas stark auf dem Ticketing. Man hat damals das Potenzial der vernetzten Mobilität noch nicht erkannt. Der Industriepartner hat sich dann zurückgezogen. Von der Grundidee sind wir aber nach wie vor überzeugt. Das BAV hat uns zu einem Folgeprojekt ermutigt. Es gelang uns, diesmal mehr Partner an Bord zu holen. Daraus entstand die Genossenschaft Openmobility, die ich präsidiere. Wir unterstützen nun vernetzte Mobilitätsangebote mithilfe bestehender Angebote. Ob es diesmal klappt, wissen wir noch nicht.

Was heisst eigentlich «vernetzte Mobilität»? Geht es um die Aufhebung des Taktfahrplans, so dass nur noch etwas fährt, wenn es gebraucht wird?

«On-Demand» bedeutet «auf Abruf». Aber auch hierbei kann man Verfügbarkeiten definieren. Mit Mybuxi gibt es bereits ein ähnliches Projekt in Herzogenbuchsee, ein weiteres in Andermatt. Der ÖV wird damit nicht konkurrenziert, sondern ergänzt. Der ÖV als Massentransportmittel ist dort effizient, wo viele Leute gleichzeitig transportiert werden müssen. Ökonomisch und ökologisch gesehen ist unser Problem aber, dass wir den Service Public auch in entlegenen Tälern erbringen müssen, wo die Bevölkerung im Alltag trotzdem aufs Auto angewiesen ist. Diese Leute auf den ÖV zu bringen, sobald sie von der Peripherie in die dichter besiedelten Gebiete gelangen, ist unsere grosse Aufgabe. Das erfordert gänzlich neue Denkmechanismen in der Angebots- und Verkehrsplanung. Wir müssen irgendwo mal den Anfang machen. Sonst redet man nur davon und es passiert nichts.

Also immer mit dem Hintergedanken, den Modalsplit zu verändern, sprich: mehr Leute zum Umstieg auf den ÖV zu bewegen.

Genau. Wenn uns das nicht rasch gelingt, werden die Menschen in ihren Autos bleiben. Denn das Auto wird auch effizienter. Da spricht jetzt der Autofahrer in mir: Mein Elektromotor ist um zwei Drittel energieeffizienter als ein herkömmlicher Verbrennungsmotor. Natürlich kommt jetzt der Einwand mit der Herkunft des Stroms. Aber ich produziere meinen eigenen Solarstrom und lade damit mein Auto. Wenn wir die Leute also nicht bald zum Umstieg auf den ÖV motivieren können, ist der Zug in wenigen Jahren abgefahren, weil wir dann genügend Elektromobilität auf den Strassen haben. Dann können wir die Leute mit dem CO2-Argument nicht mehr abholen. Dann bleibt als letztes Umstiegsargument einzig die Überlastung der Strassen.

 

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