Der grosse Zeiger der Gontener Kirchenuhr steht bei der Sechs, der kleine zwischen der Drei und der Vier. Das Dorf schläft noch. Auf dem Hof der Familie Koch sind die Kühe hellwach und muhen. Erwin Koch hat sie heute früher als sonst gemolken, denn sie haben einen langen Weg vor sich.
Der Stall ist direkt ans Wohnhaus angebaut, so wie bei den meisten Appenzeller Bauernhäusern. In der Küche trinkt die Familie Kaffee, Milch und Weisswein, gemeinsam mit den Helfer:innen aus ihrem Bekanntenkreis. Claudia Koch stellt Brot und eine Platte mit aufgeschnittenem Fleisch und Käse auf den Tisch. Sie ist die Einzige, die keine Tracht trägt, denn sie wird die Alpfahrt nicht zu Fuss, sondern mit dem Auto begleiten. Erwin Koch, ihr Mann, bindet dem Geissbuben messingbeschlagene Schnallen an die Halbschuhe. Zum 19. Mal bringt Erwin sein Vieh für den Sommer auf die Sämtisalp, hinauf durch das steile Brüeltobel auf gut 1400 Metern über Meer.
Gelbe und braune Hosen zur Tracht
Claudia und Erwin haben drei Kinder: Eileen, Roman und Cynthia. Cynthia ist gemeinsam mit ihrer Freundin Sophie Geissmädchen. Die anderen beiden sind aus dem Alter herausgewachsen, in dem sie sich um Ziegen kümmern. Sie schauen weiter hinten im Zug den Kühen. Geissbub ist heute ihr Cousin Lorenz. Claudia macht ein Foto von ihm, wie er im Türrahmen zur Küche steht. «Der Hintergrund ist jetzt nicht optimal, ich mache draussen nochmal eins.» Für Lorenz ist es die erste Alpfahrt als Geissbub. Er ist eingesprungen, der andere Geissbub ist krank.
An der Alpfahrt haben alle eine Aufgabe. Die Tracht stimmt mit der zugewiesenen Rolle überein. So trägt der Geissbub die gelben Lederhosen, genau wie die beiden Schellenträger bei den Sennen. Die Schellen werden kurz vor der Ankunft den Kühen jeweils abgenommen, damit sie die letzten steilen Meter weniger zu tragen haben. Die anderen Sennen tragen braune Hosen, dazu Militär- oder Wanderschuhe. Doch zu den gelben Hosen gehören schwarze Lederschuhe.
Der vollständige Ablauf und die Rollen bei einer Alpfahrt stehen in der Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz und sind im Toggenburg und im Appenzellerland im Grunde überall gleich. Dass das aber nicht immer so war, weiss Markus Schiegg. Er sammelt Bauernmalerei und ist ein Kenner der Appenzeller Bauerntraditionen. In der älteren Malerei von Alpaufzügen fehlen manchmal Sennen, der Geissbub oder das Geissmädchen. Auch die Trachten und die Reihenfolge der Tiere sind auf jedem Bild etwas anders. «Es kam mit der Zeit zu einer Vereinheitlichung», weiss Schiegg. Grund dafür sei, dass die Alpaufzüge generell festlicher wurden und die Bauern immer mehr Vieh hatten und deshalb auch mehr Personal brauchten. «Es liegt aber auch an einem Konkurrenzdenken. Wenn der eine Bauer etwas hat, will es der andere auch.»
In Gonten ist es an diesem kühlen Morgen inzwischen halb fünf. Die Sennen stimmen vor dem Stall ein Rugguseli (Jodel) an. Der Bläss, noch an einer langen Leine angekettet, bellt ununterbrochen. Claudia lädt eine Schüssel Kartoffelsalat ins Auto. Erwin bindet die Kühe im Stall los, der fünfstündige Aufzug auf die Sämtisalp beginnt. Nur der Stier, die Katzen, die Hasen und die Hühner bleiben hier. Die Ziegen rennen in alle Richtungen. Lorenz, Cynthia und Sophie brauchen Unterstützung, um sie einzufangen.
Sennisch und doch pragmatisch
Claudia überholt den Viehzug mit dem Auto und wartet auf dem Landsgemeindeplatz in Appenzell. Nach eineinhalb Stunden kommen die Tiere und Sennen hier vorbei. Lorenz’ Fersen schmerzen. Claudia ist vorbereitet und nimmt ihn zur Seite. Sie löst die Schnallen von seinen Halbschuhen und befestigt sie an die Trekkingschuhe. «Die sind zwar weniger sennisch, doch jetzt müssen wir halt pragmatisch sein», sagt sie. Lorenz rennt an den Tieren vorbei zurück an die Spitze des Zuges.
Was als sennisch beziehungsweise als unsennisch gilt, entfacht immer wieder neue Debatten. Zur Alpfahrt rauchen die Sennen Lindauerli (Backpfeife) statt Zigaretten, sie tragen eine Sackuhr mit statt der Armbanduhr, der Regenschirm soll schwarz sein und nicht farbig, Tattoos, Piercings und lange Haare gehören nicht ins traditionelle Bild. Vieles, das irgendwie neu ist, ist verpönt. Claudia erklärt das Phänomen so: «Ich denke, es geht darum, an Ritualen festzuhalten. Wir wollen sorgfältig mit unseren Traditionen umgehen und deren Wurzeln erhalten.»
«Es geht darum, an Ritualen festzuhalten. Wir wollen sorgfältig mit unseren Traditionen umgehen und deren Wurzeln erhalten.»
Es gehe in diesen Momenten auch darum, das einfache Leben zu wahren. Sie macht ein Beispiel: «Ich sah gestern ein Video von einem Geissbuben. Sein Handy war durch seine engen gelben Lederhosen sichtbar», Claudia lacht, «das geht halt einfach nicht.» Bei solchen Bildern komme es manchmal auch zu Spannungen. Wenn an einem hohen Sonntag einer mit Tattoos in Tracht aufkreuzt, sorge das in Appenzell auch mal für Unmut.
Das Vieh zieht durch Appenzells Hauptgasse. Im Schaufenster der UBS hängt ein Bild der Landsgemeinde, vor dem Kiosk steht ein Postkartenständer mit Trachtenbildern, gleich daneben ein Laden mit Schellen, Chüeligürteln und Sackmessern. Doch um diese Zeit sind alle Geschäfte noch geschlossen. Einzelne Tourist:innen stehen am Strassenrand. Claudia steigt wieder ins Auto und überholt den Viehzug über eine Seitengasse. «Wir melden die Alpfahrt jeweils der Polizei. Diese leitet das Datum dann ans Tourismusbüro weiter – ohne unser Einverständnis.» Sie freue sich natürlich über öffentliches Interesse an den hiesigen Traditionen, «doch in erster Linie machen wir das für uns».
Tradition und Ökonomie
«Indirekt profitieren wir vom Brauchtum-Image.» Das will Claudia betont haben, denn die Milch will verkauft werden. Die Motivation hinter den Traditionen sei aber klar eine andere: «Wir leben unsere Bräuche, weil sie uns wichtig sind.» Die Frage, wie viel man die Tradition für sich selbst lebe und ab wann es nur noch ein Zirkus für andere sei, führe immer wieder zu Diskussionen. Beispielsweise wenn ihre Tochter Cynthia bei Anlässen den traditionellen «Hierig» tanzt. Sie tritt an Hochzeiten, Geburtstagen, Stobeten auf, vor zwei Jahren war sie auch schon mal im Fernsehen. «Das ist ein Thema, das alle für sich klären müssen», meint Claudia.
Sie fährt weiter nach Steinegg, wo zwei Verkäuferinnen der Bäckerei Schäfli mit einem Tablar voller Wein- und Citrogläser und einem Korb voller kleiner Zöpfe am Strassenrand warten. Claudia stellt sich dazu und macht ein Foto von Cynthia, Sophie, Lorenz und den Ziegen. Schaulustige tun es ihr gleich. Die Hosenträger der Sennen blenden im Sonnenaufgang. Sie sind auch diesmal, wie vor jedem Gebrauch, frisch poliert.
Die Hosenträger der Appenzeller Tracht werden von Sennensattlern in der Region hergestellt. Einer von ihnen ist Niklaus Frehner. Der Urnäscher hat sich vor über zehn Jahren selbstständig gemacht. Er stellt Schellenriemen, Chüeligürtel und weitere traditionelle Sattlereiprodukte her. Sein Handwerk finde vor allem bei einer jungen Bevölkerung wieder mehr Anklang, sagt er. Und auch zahlreiche Sammler:innen hätten dazu beigetragen, dass die Preise von alten Sattlereiprodukten gestiegen sind. «Heute sind die Preise von alten Hosenträgern so hoch, dass es günstiger ist, einen neuen machen zu lassen. Das war vor wenigen Jahren noch nicht so.»
Claudia steigt wieder ins Auto. Sie will genügend Zeit haben, um sich auf der Alp einzurichten. Die Beliebtheit der Tradition zeigt sich auch bei ihren Kindern: «Die Alpfahrt gehört für meine Kinder zu den wichtigsten Tagen im Jahr.» Warum sie selbst nicht mitläuft? «Ich habe ja zu tun und bin genauso Teil davon. Aber es gibt tatsächlich immer mehr Frauen, die in der Tracht mitgehen.» Veränderungen sind nötig, damit Traditionen lebendig bleiben.
Trotzdem wird Tradition immer wieder als Argument verwendet, um Wandel aufzuhalten. Rauchende Kinder an Viehschauen sind ein bekanntes Beispiel dafür. Claudia befürwortet das nicht, «aber ich stelle mich auch nicht dagegen. Und immer mehr verzichten eh darauf», fügt sie hinzu. Das Vieh zu Fuss auf die Alp zu treiben, findet sie aber sehr wohl zeitgemäss: «Es ist ökologischer, als wenn wir alle in den Transporter verladen würden.» Und auch die Alpwirtschaft selbst passe gut in unsere Zeit: «Quasi zurück zur Selbstversorgung. Wir gehen ja z’Alp, weil wir das Futter von dort brauchen. Futter, das wir im Tal dazukaufen müssten.»
Entschleunigung und viel Arbeit
In der Alphütte angekommen, macht Claudia ein Feuer. Den Tisch hatte sie bereits am Vortag gedeckt. Hier stellt sie jetzt den Kartoffelsalat hin, schneidet ein paar Brotscheiben und nimmt die Schüblig aus den Verpackungen. Um halb zehn treffen das Vieh, die Sennen und die Kinder auf der Sämtisalp ein. Das Vieh grast auf der Weide, die Familie Koch sitzt gemeinsam mit den Helfenden in der Alphütte. Der Alpstein wirft einen langen Schatten auf die Sämtisalp, es ist kühl. Sophie und Lorenz rennen um die Hütte. Dass sie eine fünf- stündige Wanderung ohne Pause hinter sich haben, ist den beiden nicht mehr anzumerken.
Für die Familie Koch beginnt jetzt der Alpsommer. Ein weiterer Sommer zwischen Entschleunigung und viel Arbeit. Denn auch unten, in Gonten, müssen die Hühner und der Stier gefüttert und die Wiesen gemäht werden. Nur elf Kilometer Luftlinie entfernt den Sommer auf der Alp zu verbringen, habe doch etwas sehr Zeitgenössisches, meint Claudia. «Und dass wir hierher fünf Stunden brauchten, kommt ja fast schon einem Langstreckenflug gleich.»
ANDI GIGER, 1998, ist Journalist aus Hundwil und lebt in St.Gallen. Er wuchs auf einem Bauernhof auf und zog schon mit vier Jahren als Silvesterchlaus durchs Ausserrhoder Hinterland von Hof zu Hof. Er kennt auch das Bloch, die Viehschau und das Jodelchörli aus eigener Erfahrung. Und mehrere Alpsommer war er selber Geissbube.
Der Text zu diesem Traditionen-Schwerpunkt im Septemberheft entstand im Rahmen seiner Bachelorarbeit im Bereich Medien und Kommunikation an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Im zweiten Teil des Schwerpunkts, der nächste Woche erscheint, wirft Andi Giger am Beispiel der Landsgemeinde einen soziokulturellen Blick auf das immaterielle Kulturerbe.
CHRISTIAN HERSCHE, 1989 in Appenzell geboren, arbeitet als Creative Director im Bereich Mode und als Kunstfotograf. Für den vorliegenden Beitrag präsentiert er bislang unveröffentlichte Diptychen aus der Werkreihe «Chom Hee Zo Mee», die im vergangenen Jahr als Fotobuch bei Jungle Books publiziert wurde. Entstanden sind die Aufnahmen in einem Zeitraum von fünf Jahren im Kanton Appenzell Innerrhoden. Hersche lebt und arbeitet zwischen Appenzell und Paris.