Ein Abend des Mutes

Ein fünfköpfiges Ensemble wirbt mit dem Slogan «Deine Geschichte – unser Theater» für den Theaterabend NARA – Erzähl!. Eine Revue der Premiere in der Grabenhalle, von einer Zuschauerin, die keine Ahnung hatte, worauf sie sich einliess.

Bei NA­RA – Er­zähl! ver­fol­gen die Schau­spie­ler:in­nen das For­mat des Play­back-Thea­ters. Da­bei nimmt ei­ne Mo­de­ra­ti­on Ge­schich­ten aus dem Pu­bli­kum auf, wel­che die Schau­spie­ler:in­nen dann re­la­tiv frei und im­pro­vi­siert dar­stel­len, al­so dem Pu­bli­kum «zu­rück­spie­len». Sie ken­nen die Ge­schich­ten im Vorraus nicht. Je­de Vor­stel­lung ist so­mit ein neu­es, of­fe­nes Ex­pe­ri­ment.

Froh­ge­mut neh­me ich den Auf­trag der Re­dak­ti­on an. Hät­te ich doch bloss den An­kün­di­gungs­text bes­ser stu­diert. Be­vor ich mich in die Gra­ben­hal­le auf­ma­che, über­flie­ge ich ihn rasch. Im­pro­vi­sa­ti­ons­thea­ter ist ei­gent­lich nicht mein Ding. Den Teil, dass das Pu­bli­kum sei­ne Ge­schich­ten er­zäh­len soll, über­le­se ich und klam­me­re mich dar­an, dass das En­sem­ble eben auch sei­ne ei­ge­nen Ge­schich­ten er­zählt. In mei­ner Welt kann ich mir nicht vor­stel­len, dass hier ei­nen gan­zen Abend tat­säch­lich nur Er­zäh­lun­gen aus dem Pu­bli­kum ge­zeigt wer­den, da weiss ja nie­mand was kommt …

So sit­ze ich al­so un­be­küm­mert auf mei­nem Platz und war­te dar­auf, in die fas­zi­nie­ren­de Welt des Thea­ters ein­zu­tau­chen. Als dann das ge­sam­te En­sem­ble mit mu­si­ka­li­scher Be­glei­tung schnip­send auf die Büh­ne tritt und im Chor singt «Komm und er­zähl – ich hör dir zu», setzt mein Herz kurz aus. Ich he­ge noch die Hoff­nung, dass das ein­fach ei­ne Ein­lei­tung ist. Die­se ver­fliegt al­ler­dings rasch, als dem Pu­bli­kum mit­ge­teilt wird, dass es oh­ne uns heu­te nicht funk­tio­nie­ren wer­de, dass wir «Aben­teu­rer des Au­gen­blicks» sei­en und al­les gut ge­nug sei, er­zählt zu wer­den.

Von Lie­be bis Über­for­de­rung

We­nigs­tens ba­siert das Er­zäh­len auf Frei­wil­lig­keit, ich glau­be, sonst wä­re ich di­rekt ge­gan­gen. Die Vor­stel­lung ak­tiv und un­vor­be­rei­tet vor Frem­den et­was ma­chen zu müs­sen, löst di­rekt Pa­nik in mir aus. So­gar beim Stras­sen­kunst­fes­ti­val «Auf­ge­tischt» ver­ste­cke ich mich je­weils in ei­ner hin­te­ren Rei­he, da­mit ich nicht in die Fän­ge der Ar­tist:in­nen ge­ra­te …

Das Pu­bli­kum in der Gra­ben­hal­le ist auf­ge­for­dert, ei­ne Ge­schich­te über ei­ne Ver­än­de­rung zu er­zäh­len. Egal ob klein oder gross, man soll ir­gend­et­was er­zäh­len, von Ent­schei­dun­gen, die man ge­fällt hat und zu ei­ner Ver­än­de­rung ge­führt ha­ben. Der An­fang ist zäh, des­halb gibt es erst ein paar Eis­bre­cher. Zu­erst zei­gen drei Schau­spie­ler:in­nen ei­ne Band­brei­te von Ge­füh­len, die das Pu­bli­kum of­fen­bar ge­ra­de ge­fühlt und da­her auf die Büh­ne ge­ru­fen hat: Lie­be! Vor­freu­de! Dank­bar­keit! (Mei­ne wä­ren ja ge­we­sen: An­span­nung, Über­for­de­rung und das Ge­fühl, fehl am Platz zu sein, weil es auch ir­gend­wie so wirkt, als wür­de sich ein Gross­teil hier so­wie­so ken­nen und ich pas­se so gar nicht da­zu, aber sel­ber Schuld, hab’ mich nicht ge­traut rein­zu­ru­fen). An­schlies­send gibt es noch ei­ne Auf­lo­cke­rung, bei der Tei­le des Pu­bli­kums un­ter An­lei­tung mit auf der Büh­ne her­um­sprin­gen und sich schüt­teln.

Da­nach mel­den sich die ers­ten Per­so­nen mit ih­ren Ge­schich­ten. Sie er­zäh­len zu­erst von dem Weg in die Gra­ben­hal­le, dann von ei­nem Job­wech­sel von der Gas­tro in die Kin­der­be­treu­ung. Ei­ne Bra­si­lia­ne­rin, gleich­zei­tig die Cho­reo­gra­phin der Grup­pe, mel­det sich zu Wort und er­zählt von der Be­geg­nung mit ih­rem Schwei­zer Part­ner in ih­rer Hei­mat, die da­zu führ­te, dass sie al­les hin­ter sich liess und in die Schweiz zog. Auf der Büh­ne wird dann ge­nau das dar­ge­stellt: die ei­ne Per­son, wie sie zu­erst Ge­trän­ke ser­viert und dann mit Kin­dern auf der Au­to­bahn­brü­cke steht, die an­de­re wie sie in ei­nem Club tanzt, ih­re ei­ne wah­re Lie­be sieht und dann ihr bis­he­ri­ges Le­ben auf­gibt, um in die Schweiz zu rei­sen. Oft pan­to­mi­misch, ten­den­zi­ell mit sehr we­nig Dia­log, im­mer ge­nau der Er­zäh­lung ent­spre­chend. 

Was auch pas­siert: Je­mand aus dem En­sem­ble fühlt ei­ne spon­ta­ne Re­so­nanz auf ei­ne Ge­schich­te und re­agiert dann dar­auf. Das kann mit ei­ner ei­ge­nen Ge­schich­te sein, mit ei­nem vor­ge­tra­ge­nen Mo­no­log oder mit ei­nem Lied. Wenn die Schau­spie­ler:in­nen ei­nen Feh­ler ma­chen oder et­was ver­ges­sen, ju­belt das gan­ze Quin­tett. Weil man «Feh­ler» nicht als et­was Schlech­tes se­hen soll. Sehr trans­pa­rent er­kennt man so, wenn et­was nicht so läuft wie ge­plant. Nicht, dass mir das oh­ne das Ju­beln je­mals auf­ge­fal­len wä­re.

Nach der Pau­se kom­men die nächs­ten Ge­schich­ten: Wie­der ein Job­wech­sel, bei dem sich die Er­zäh­len­de recht schnell ent­schei­den muss, ob sie ein An­ge­bot, für das sie ei­gent­lich noch nicht qua­li­fi­ziert ist, an­nimmt oder nicht – Stich­wort Leh­rer:in­nen­man­gel. Dann ei­ne un­glück­li­che Ver­liebt­heit, die an­schei­nend nie das rich­ti­ge Ti­ming hat. Und ab­schlies­send ei­ne Ge­schich­te von ei­ner Frau mit fünf Kin­dern, die ei­nen neu­en Mann ken­nen­lernt und mit ihm zu­sam­men­zieht.

Schön ge­macht – aber nichts für mich

Was auf­fällt: Es er­zäh­len fast nur FLIN­TA-Per­so­nen. Aus­ser­dem: Mein an­fäng­li­ches Ge­fühl be­stä­tigt sich, denn ir­gend­wie ken­nen sich al­le. Ne­ben der Ge­schich­te der Cho­reo­gra­fin kommt näm­lich auch die bes­te Freun­din ei­ner Schau­spie­le­rin zu Wort, oder die Schwes­ter ei­nes Schau­spie­lers. Auch ir­gend­wie ran­dom ruft je­mand aus dem Pu­bli­kum «sun­ny si­de of life» rein, was die Dar­stel­ler:in­nen da­zu be­wegt, ein Lied zu sin­gen. Ich fra­ge mich, wie spon­tan das wirk­lich kam. 

Eben­falls eher un­ge­wöhn­lich: Al­les wird er­klärt. Wirk­lich al­les. Raum für ei­ge­ne In­ter­pre­ta­tio­nen gibt es ei­gent­lich nicht. Al­les, was thea­tra­lisch zur An­wen­dung kommt, wie «free­ze», «Prot­ago­nist»- und «Chor»-Dar­stel­lun­gen oder spon­ta­ne «Mo­no­lo­ge», wer­den von der Mo­de­ra­ti­on be­schrie­ben, be­vor sie statt­fin­den, da­mit auch wirk­lich al­le ver­ste­hen, was ge­ra­de pas­siert. Selbst die künst­le­ri­sche Ein­la­ge nach der Pau­se, bei der ein Ball die Haupt­rol­le spielt, wird er­klärt mit «Wir wer­fen euch ei­nen Ball zu und ihr uns wie­der zu­rück». Ich schreie in­ner­lich. Was ich näm­lich an Thea­ter ei­gent­lich mag, ist der sonst so of­fe­ne Deu­tungs­spiel­raum, die Ver­su­che Dia­lo­ge und Mo­no­lo­ge zu ver­ste­hen und auf sich selbst zu be­zie­hen. Mit den per­ma­nen­ten Er­klä­run­gen geht das für mich ver­lo­ren. 

NA­RA – Er­zähl! will kein Thea­ter zum Zu­rück­leh­nen sein, son­dern ein le­ben­di­ger Dia­log zwi­schen Büh­ne und Pu­bli­kum, ein Spiel­platz für Of­fen­heit, Spon­ta­nei­tät und die Kraft ge­leb­ter Er­fah­run­gen. Ich kann mir tat­säch­lich vor­stel­len, dass je­ne, die den Mut hat­ten, ih­re Ge­schich­ten zu er­zäh­len, wahr­schein­lich auch et­was aus die­sem Abend für sich mit­neh­men konn­ten. Viel­leicht ei­ne Be­stä­ti­gung, viel­leicht ei­nen neu­en Blick auf ei­ne ein­ge­fah­re­ne Si­tua­ti­on, wer weiss. Ich kann es nicht, denn we­der konn­te ich zu den er­zähl­ten Ge­schich­ten ei­ne Ver­bin­dung auf­bau­en, noch ging mir dann das Ge­spiel­te auch nur im An­satz tief ge­nug, um mich mit­ge­nom­men zu füh­len, schliess­lich wa­ren die Se­quen­zen doch im­mer sehr kurz und auch sehr un­ter­schied­lich in der Art und Wei­se der Auf­füh­rung. 

Wer jetzt aber Bock hat auf Im­pro­vi­sa­ti­ons­thea­ter und dar­auf, ei­ne ei­ge­ne Er­zäh­lung auf der Büh­ne ge­spielt zu se­hen, dem oder der sei ver­si­chert, dass hier der rich­ti­ge Ort da­für ist. Ich kann zwar nicht ein­schät­zen, wie die Vor­stel­lun­gen wer­den, bei de­nen nicht das hal­be Pu­bli­kum die Dar­stel­ler:in­nen kennt, ich kann auch nicht ein­schät­zen wie gut die Ge­schich­ten wer­den, denn dar­auf hat das En­sem­ble ja kei­nen Ein­fluss.

Ei­ne Ge­wiss­heit gibt es aber: Bei NA­RA – Er­zähl! wird kein Abend wie der an­de­re. Und je­der Abend er­for­dert den Mut al­ler Be­tei­lig­ten: Der Schau­spie­ler:in­nen, die sich der Un­be­re­chen­bar­keit des Pu­bli­kums stel­len, und des Pu­bli­kums, das et­was von sich preis­ge­ben muss.

Na­ra – Er­zähl!: Play­back-Thea­ter von und mit Bo­glár­ka Hor­váth, An­di Bis­sig, Ni­co­la Graf, Jo­sé­phi­ne Fran­çois, Ka­tha­ri­na Schmidt

Nächs­te Auf­füh­run­gen:
21. Mai, 19:30, Gra­ben­hal­le St.Gal­len
22. Mai, 20 Uhr, Flon St.Gal­len
23. Mai, 19:30, Stuhl­fa­brik He­ris­au

bo­glark­ahor­vath.com/na­ra­in­fo