Bei NARA – Erzähl! verfolgen die Schauspieler:innen das Format des Playback-Theaters. Dabei nimmt eine Moderation Geschichten aus dem Publikum auf, welche die Schauspieler:innen dann relativ frei und improvisiert darstellen, also dem Publikum «zurückspielen». Sie kennen die Geschichten im Vorraus nicht. Jede Vorstellung ist somit ein neues, offenes Experiment.
Frohgemut nehme ich den Auftrag der Redaktion an. Hätte ich doch bloss den Ankündigungstext besser studiert. Bevor ich mich in die Grabenhalle aufmache, überfliege ich ihn rasch. Improvisationstheater ist eigentlich nicht mein Ding. Den Teil, dass das Publikum seine Geschichten erzählen soll, überlese ich und klammere mich daran, dass das Ensemble eben auch seine eigenen Geschichten erzählt. In meiner Welt kann ich mir nicht vorstellen, dass hier einen ganzen Abend tatsächlich nur Erzählungen aus dem Publikum gezeigt werden, da weiss ja niemand was kommt …
So sitze ich also unbekümmert auf meinem Platz und warte darauf, in die faszinierende Welt des Theaters einzutauchen. Als dann das gesamte Ensemble mit musikalischer Begleitung schnipsend auf die Bühne tritt und im Chor singt «Komm und erzähl – ich hör dir zu», setzt mein Herz kurz aus. Ich hege noch die Hoffnung, dass das einfach eine Einleitung ist. Diese verfliegt allerdings rasch, als dem Publikum mitgeteilt wird, dass es ohne uns heute nicht funktionieren werde, dass wir «Abenteurer des Augenblicks» seien und alles gut genug sei, erzählt zu werden.
Von Liebe bis Überforderung
Wenigstens basiert das Erzählen auf Freiwilligkeit, ich glaube, sonst wäre ich direkt gegangen. Die Vorstellung aktiv und unvorbereitet vor Fremden etwas machen zu müssen, löst direkt Panik in mir aus. Sogar beim Strassenkunstfestival «Aufgetischt» verstecke ich mich jeweils in einer hinteren Reihe, damit ich nicht in die Fänge der Artist:innen gerate …
Das Publikum in der Grabenhalle ist aufgefordert, eine Geschichte über eine Veränderung zu erzählen. Egal ob klein oder gross, man soll irgendetwas erzählen, von Entscheidungen, die man gefällt hat und zu einer Veränderung geführt haben. Der Anfang ist zäh, deshalb gibt es erst ein paar Eisbrecher. Zuerst zeigen drei Schauspieler:innen eine Bandbreite von Gefühlen, die das Publikum offenbar gerade gefühlt und daher auf die Bühne gerufen hat: Liebe! Vorfreude! Dankbarkeit! (Meine wären ja gewesen: Anspannung, Überforderung und das Gefühl, fehl am Platz zu sein, weil es auch irgendwie so wirkt, als würde sich ein Grossteil hier sowieso kennen und ich passe so gar nicht dazu, aber selber Schuld, hab’ mich nicht getraut reinzurufen). Anschliessend gibt es noch eine Auflockerung, bei der Teile des Publikums unter Anleitung mit auf der Bühne herumspringen und sich schütteln.
Danach melden sich die ersten Personen mit ihren Geschichten. Sie erzählen zuerst von dem Weg in die Grabenhalle, dann von einem Jobwechsel von der Gastro in die Kinderbetreuung. Eine Brasilianerin, gleichzeitig die Choreographin der Gruppe, meldet sich zu Wort und erzählt von der Begegnung mit ihrem Schweizer Partner in ihrer Heimat, die dazu führte, dass sie alles hinter sich liess und in die Schweiz zog. Auf der Bühne wird dann genau das dargestellt: die eine Person, wie sie zuerst Getränke serviert und dann mit Kindern auf der Autobahnbrücke steht, die andere wie sie in einem Club tanzt, ihre eine wahre Liebe sieht und dann ihr bisheriges Leben aufgibt, um in die Schweiz zu reisen. Oft pantomimisch, tendenziell mit sehr wenig Dialog, immer genau der Erzählung entsprechend.
Was auch passiert: Jemand aus dem Ensemble fühlt eine spontane Resonanz auf eine Geschichte und reagiert dann darauf. Das kann mit einer eigenen Geschichte sein, mit einem vorgetragenen Monolog oder mit einem Lied. Wenn die Schauspieler:innen einen Fehler machen oder etwas vergessen, jubelt das ganze Quintett. Weil man «Fehler» nicht als etwas Schlechtes sehen soll. Sehr transparent erkennt man so, wenn etwas nicht so läuft wie geplant. Nicht, dass mir das ohne das Jubeln jemals aufgefallen wäre.
Nach der Pause kommen die nächsten Geschichten: Wieder ein Jobwechsel, bei dem sich die Erzählende recht schnell entscheiden muss, ob sie ein Angebot, für das sie eigentlich noch nicht qualifiziert ist, annimmt oder nicht – Stichwort Lehrer:innenmangel. Dann eine unglückliche Verliebtheit, die anscheinend nie das richtige Timing hat. Und abschliessend eine Geschichte von einer Frau mit fünf Kindern, die einen neuen Mann kennenlernt und mit ihm zusammenzieht.
Schön gemacht – aber nichts für mich
Was auffällt: Es erzählen fast nur FLINTA-Personen. Ausserdem: Mein anfängliches Gefühl bestätigt sich, denn irgendwie kennen sich alle. Neben der Geschichte der Choreografin kommt nämlich auch die beste Freundin einer Schauspielerin zu Wort, oder die Schwester eines Schauspielers. Auch irgendwie random ruft jemand aus dem Publikum «sunny side of life» rein, was die Darsteller:innen dazu bewegt, ein Lied zu singen. Ich frage mich, wie spontan das wirklich kam.
Ebenfalls eher ungewöhnlich: Alles wird erklärt. Wirklich alles. Raum für eigene Interpretationen gibt es eigentlich nicht. Alles, was theatralisch zur Anwendung kommt, wie «freeze», «Protagonist»- und «Chor»-Darstellungen oder spontane «Monologe», werden von der Moderation beschrieben, bevor sie stattfinden, damit auch wirklich alle verstehen, was gerade passiert. Selbst die künstlerische Einlage nach der Pause, bei der ein Ball die Hauptrolle spielt, wird erklärt mit «Wir werfen euch einen Ball zu und ihr uns wieder zurück». Ich schreie innerlich. Was ich nämlich an Theater eigentlich mag, ist der sonst so offene Deutungsspielraum, die Versuche Dialoge und Monologe zu verstehen und auf sich selbst zu beziehen. Mit den permanenten Erklärungen geht das für mich verloren.
NARA – Erzähl! will kein Theater zum Zurücklehnen sein, sondern ein lebendiger Dialog zwischen Bühne und Publikum, ein Spielplatz für Offenheit, Spontaneität und die Kraft gelebter Erfahrungen. Ich kann mir tatsächlich vorstellen, dass jene, die den Mut hatten, ihre Geschichten zu erzählen, wahrscheinlich auch etwas aus diesem Abend für sich mitnehmen konnten. Vielleicht eine Bestätigung, vielleicht einen neuen Blick auf eine eingefahrene Situation, wer weiss. Ich kann es nicht, denn weder konnte ich zu den erzählten Geschichten eine Verbindung aufbauen, noch ging mir dann das Gespielte auch nur im Ansatz tief genug, um mich mitgenommen zu fühlen, schliesslich waren die Sequenzen doch immer sehr kurz und auch sehr unterschiedlich in der Art und Weise der Aufführung.
Wer jetzt aber Bock hat auf Improvisationstheater und darauf, eine eigene Erzählung auf der Bühne gespielt zu sehen, dem oder der sei versichert, dass hier der richtige Ort dafür ist. Ich kann zwar nicht einschätzen, wie die Vorstellungen werden, bei denen nicht das halbe Publikum die Darsteller:innen kennt, ich kann auch nicht einschätzen wie gut die Geschichten werden, denn darauf hat das Ensemble ja keinen Einfluss.
Eine Gewissheit gibt es aber: Bei NARA – Erzähl! wird kein Abend wie der andere. Und jeder Abend erfordert den Mut aller Beteiligten: Der Schauspieler:innen, die sich der Unberechenbarkeit des Publikums stellen, und des Publikums, das etwas von sich preisgeben muss.
Nara – Erzähl!: Playback-Theater von und mit Boglárka Horváth, Andi Bissig, Nicola Graf, Joséphine François, Katharina Schmidt
Nächste Aufführungen:
21. Mai, 19:30, Grabenhalle St.Gallen
22. Mai, 20 Uhr, Flon St.Gallen
23. Mai, 19:30, Stuhlfabrik Herisau