«Passé outre!» Mit diesem Ausdruck (Deutsch etwa: Das übergehe ich!) schmetterte die reale Jeanne d’Arc die bohrenden Fragen des Klerus ab, der gegen die Kriegerin prozessierte. Manchmal wollte, manchmal konnte sie nicht antworten. Denn der Prozess gegen sie war von Anfang an eine abgekartete Sache, das Urteil im Grunde schon vor Prozessbeginn gefällt.
«Passé outre!», schmettert auch immer wieder die stark aufspielende Jasmin Jbilou in den Keller der Rose, wo das St.Galler Théatre du Sacré den historischen Prozess neu aufrollt. Die Idee zum Stück, das sich eng an den Text des Gerichtsprotokolls lehnt, hatte der in Speicher lebende Theaterleiter und Regisseur Pierre Massaux schon vor Jahren. Damals stand er auf der Pariser Place des Pyramides und war erstaunt über die goldene Statue der französischen Nationalheiligen, die hoch zu Pferd ihre Fahne trägt. Beeindruckt, aber wenig über die historische Figur wissend, begann er sich mit ihr zu beschäftigen.
Ein paar Jahre später hörte er in einem Radioprogramm, wie Auszüge aus den Prozessakten vorgelesen wurden. «Unglaublich, wie selbstbewusst und frech sie den Priestern antwortete», sagt Massaux am Rande einer Probe in St.Gallen. «Die Kirchenmänner stellten aber auch immer wieder dieselben Fragen, komplizierte Fragen, auch dumme Fragen.»
In den Fängen der Inquisition
Religiöse Visionen hatten die junge Frau angetrieben, im Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England zum Schwert zu greifen. Jeannes Vater forderte ihre Hinrichtung, weil er glaubte, seine Tochter wolle als Prostituierte an den Kriegszügen teilnehmen und nicht als Kämpferin. In Orléans verhalf sie 1429 dem späteren französischen König zu einem wichtigen Sieg, indem sie zuerst einen Zug mit Proviant in die besetzte Stadt schleuste und den darauffolgenden, erfolgreichen Ausfall der nunmehr wieder motivierten Franzosen anführte.
Ein Jahr später geriet sie bei der französischen Niederlage in der Schlacht vom Compiègne in englische Gefangenschaft. Pro-englische Geistliche – darunter Bischof Cauchon von Beauvais, Jean Beaupère, Domherr von Rouen, und Jean de la Fontaine – verhörten Jeanne d’Arc. Der Inquisitionsprozess dauerte über drei Monate und endete für die Angeklagte bekanntlich auf dem Scheiterhaufen. Sie wurde unter anderem wegen Feenzaubers, Häresie, Dämonenglauben und Mordes verurteilt. Fangfragen, die ihr zuhauf gestellt wurden, konterte die junge Frau, die keine klassische Bildung genossen hatte, geschickt. Doch brach sie letztlich unter dem Druck und der Pein der Befragungen zusammen, bis sie ihre «Schuld» eingestand.
Dieser Moment des Zusammenbruchs ist auch eine Schlüsselszene in der Inszenierung des Théatre du Sacré. Das Stück gleicht einem Albtraum, in dem Jeanne d’Arc quasi aus dem Jenseits auf den Prozess und ihr Geständnis zurückblickt.
Starkes Laienensemble
Massaux arbeitet hier – wie in den meisten anderen seiner Inszenierungen – mit Laiendarsteller:innen. Besonders eindrücklich gelingt die Verkörperung der Hauptfigur durch Jasmin Jbilou. Nathalie Maerten, Tobias Degen und Christoph Herzog geben die hartnäckigen Inquisitoren. Eine nicht minder wichtige Rolle nehmen Hanna Obykhod, Alla Halaiko, Mariia Shuldyk und Natalia Shorthyn ein. Die Ukrainerinnen bilden den Chor, der das Prozessgeschehen immer wieder erläutert und kommentiert – manchmal zwar in gebrochenem Deutsch, dafür mit umso mehr schauspielerischer Hingabe.
Migrantische Stimmen einzubeziehen, zeichnet Pierre Massaux’ Theaterarbeit aus. Für ihn ist das aktuelle Stück aber auch eine Kritik an aktuellen Zuständen, in denen Menschen oft an vorgefassten Meinungen festhalten. Den – manchmal aussichtslosen – Kampf dagegen gilt es zu kämpfen.
Dazu passt gemäss dem Regisseur auch die Musik von Ludwig van Beethoven, der Jeanne d’Arc seit seiner Lektüre von Schillers Stück Die Jungfrau von Orleans bewunderte. Für Massaux ist auch Beethovens Musik kämpferisch, aber nicht destruktiv. Nach der Theateraufführung vom 30. Mai, dem Jahrestag der Hinrichtung von Jeanne d’Arc, spielt der Pariser Pianist Gaspard Dehaene im Festsaal des Stadthauses – also in der Nachbarschaft zum Rosenkeller – Beethovens Sonate Op. 106, das sogenannte «Hammerklavier». Eine Musik, die fast so unmöglich zu spielen ist, wie es einer vorverurteilten Person unmöglich ist, einen von Beginn weg korrumpierten Prozess zu gewinnen.