Es herrscht Krieg zwischen den Veroneser Familien Capuleti und Montecchi. Doch Romeo, der Anführer der Montecchi, liebt die Tochter des verfeindeten Capellio: Giulietta. Die beiden Rollen sind von Frauen besetzt: Kali Hardwick als Giulietta und Jennifer Panara als Romeo. Vincenzo Bellini hat Romeo als sogenannte Hosenrolle geschrieben. Die Besetzung der Rolle einer jungen männlichen Figur mit einer Mezzosopranistin war zu Bellinis Zeiten üblich. Auf der St.Galler Bühne sorgen die zwei Frauen für eine neue Deutung der Geschichte: Eine verbotene lesbische Liebe.
Die beiden Liebenden eröffnen den Abend mit einer erotischen Szene. Sie fallen übereinander her, küssen sich, streicheln sich, haben Sex. Es ist eine der seltenen Momente, wo die Liebe und Erotik im Vordergrund steht. Das Stück ist in vielen Teilen geprägt von den verfeindeten Familien, besetzt mit den Männern aus dem Theaterchor. Zwischen den militanten, unversöhnlichen Männern, die nur Krieg wollen, treten die beiden Hauptrollen als starke, zärtliche Frauen auf.
Beide haben brillierende Soli. Etwa auf einem schwebenden Ufo, wo Giulietta auf die bevorstehende Hochzeit mit Tebaldo wartet. Romeos stärkster Moment ist vor dem Grab. Jennifer Panara hält die teilweise äusserst langen Töne lebendig, bis die Melodie sie weiterträgt. Und auch in der Auseinandersetzung mit den anderen Figuren, beispielsweise mit Capellio, gesungen von Jonas Jud (Bass) aus Trogen, zeigen Hardwick und Panara unvermindert Vehemenz und Leidenschaft.
Die Besetzung der beiden Hauptrollen aus dem eigenen Musiktheaterensemble erwies sich als Glücksfall. Hardwick und Panara kennen sich gut, und waren bereits als Hänsel und Gretel als Duo auf der Bühne. Auch privat verbringen die beiden gerne Zeit miteinander, etwa mit einer Grillade. Die Vertrautheit der beiden ist für das Publikum spürbar und ein wahres Vergnügen.
Viel Drama um die Familienehre
Bellini schrieb das Stück innert zwei Monaten für das Teatro La Fenice in Venedig. Er orientierte sich bei der Geschichte an den gleichen italienischen Vorlagen wie schon Shakespeare. Der Schwerpunkt legte er jedoch vielmehr auf die beiden verfeindeten Familien. Original heisst das Stück deswegen auch «I Capuleti e i Montecchi». Die verbotene Liebe steht somit mehr im Vordergrund als eine leidenschaftliche Romantik. In der lesbischen Lesart ist dieser Fokus besonders spannend – immerhin wurden und werden in der Gesellschaft besonders lesbische Lieben unsichtbar gemacht, auch innerhalb der queeren Community.
Der Chor spielt die Familien mit einer guten Portion Leichtigkeit und Humor. Immer wieder hat es verspielte Kampfszenen in der Choreografie. Das patriarchale System, das die Familien repräsentieren, wird somit auch ein wenig verulkt. Trotzdem schafft es das System, die Liebe der beiden tragisch zu beenden. Der Umstand, dass den beiden Frauen in der Hauptrolle ein männlicher Chor entgegensteht, hat zur Folge, dass die Frauen des Chors im Stück zu kurz kommen.
Das Orchester trägt den Gesang mit einer Leichtigkeit, die die Melodien zum Schweben bringt. Verschiedene Geschwindigkeiten bringen Abwechslung in die Musik, wie auch zahlreiche Instrumentensoli. Die Harfe, das Horn, die Klarinette oder das Cello setzen leuchtende Akzente, die mit den Stimmen der Sänger:innen ein lebhaftes Wechselspiel eingehen.
Wilder Westen trifft Sci-Fi
Die Bühne ist in satten Farben ausgeleuchtet. Der Hintergrund zeigt einen sanften Verlauf, der langsam die Farben ändert. Die runde Plattform in der Mitte mit einem schwebenden Teller darüber ist mit einem glänzenden Stoff gepolstert und gleicht einem Raumschiff. Wenn sich die Plattform dreht und die ringförmige Bühne in die entgegengesetzte Richtung, funktioniert die Bühne wie ein Laufsteg. Der Chor bewegt sich oft in einer Reihe und lässt das Ganze zeitweise wie eine Modeschau wirken. Die Kostüme mit Cowboyhüten und Lederstiefel nehmen die Western-Ästhetik auf, die mit den Pferden, die immer wieder auf die Bühne geholt werden, verstärkt wird.
Die Bühne ist umrahmt mit einer leuchtenden Linie, die sich an den beiden oberen Ecken verliert und wie zwei Blitze nach unten zeigen. Es ist insgesamt ein stimmiges Bild, das die patriarchale Welt trägt und die Sänger:innen in ein passendes Licht rückt. Die Szenografie, das Bühnenbild und die Kostüme waren dieses Jahr bereits so im Theater Magdeburg zu sehen. Schon dort machte Pınar Karabulut die Regie. Die Produktion ist in Kooperation mit der Opéra national de Lorraine, dem Theater Magdeburg und Opera Ballet Vlaanderen entstanden.
Der Abend bringt das Motto der Spielsaison auf den Punkt. Der Aufruf «Macht Liebe» ist nicht nur als Appell für mehr Zärtlichkeit zu verstehen, sondern beinhaltet auch die beiden Treiber der Tragödie. In Romeo und Julia gewann die Gier nach Macht. Doch stärker war sie deswegen nicht.
Romeo und Julia (I Capuleti e i Montecchi): Oper von Vincenzo Bellini, bis 23. November, Konzert und Theater St.Gallen