Das Publikumsinteresse war gross am Freitagabend, das Palace war bis auf einige wenige Plätze voll besetzt. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Erfreuliche Universität» waren verschiedene Vertreter:innen aus Politik, Wissenschaft und dem juristischen Berufsstand eingeladen. Sie rollten, moderiert von WOZ-Redaktor Kaspar Surber, die Geschichte von Paul Grüninger auf. Der Schriftsteller und Historiker Stefan Keller, der 1993 mit seinem Buch Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe zur politischen sowie der darauffolgenden juristischen Rehabilitierung des St.Galler Polizeihauptmanns im Jahr 1995 massgeblich beigetragen hatte, hielt ein Einführungsreferat, in dem er Grüningers Suspendierung und die Folgen bis zu seiner Rehabilitierung rekapitulierte.
So berichtete Keller, wie Paul Grüninger am 3. April 1939, von einem Tag auf den anderen, der Zugang zu seinem Büro im St.Galler Klosterviertel untersagt wurde. «Urkundenfälschung und Amtspflichtverletzung» warf man ihm vor. Ausserdem soll er nach Ansicht der St.Galler Behörden seinen Chef hintergangen und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement getäuscht haben.
Es müsse für Grüninger eine lange Zeit gewesen sein, zwischen seiner Suspendierung als Polizeikommandant im Frühling 1939 bis zum Prozess im Herbst 1940, vermutet Stefan Keller. Danach musste er nochmals ein gutes halbes Jahr, bis Frühjahr 1941, auf sein Urteil warten.
Wenig mediale Unterstützung, dafür Gerüchte und Unwahrheiten
Die Medien haben damals kaum über Grüningers Entlassung berichtet, und falls doch, wurden vor allem Gerüchte kolportiert. So soll er angeblich von den Juden finanziell profitiert, sexuelle Gegenleistungen von Jüdinnen erhalten haben oder sogar ein heimlicher Verehrer der Nazis gewesen sein. Für keinen dieser Vorwürfe sei jemals ein Beweis gefunden worden, erklärte Keller. Partei ergriffen für Grüninger hatte damals lediglich der Ostschweizer Publizist Johann Baptist Rusch, der Herausgeber der Schweizerischen Republikanischen Blätter war.
Stefan Keller, Autor des Buchs Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe.
Rusch schrieb in einem Artikel: «Man hat hier vielleicht nicht ganz zweckungewollt einen absolut ehrbaren Eidgenossen und treuen Beamten seines Staates zu Unrecht in übelstes Licht gebracht. Das, weswegen Hauptmann Grüninger in Untersuchung steht, spricht für seine Menschlichkeit.» Genau diese Menschlichkeit wurde kriminalisiert. Tatsache ist: Grüninger hatte in dem knappen Jahr vor seiner Suspendierung hunderte, vielleicht sogar tausende Jüdinnen und Juden über die Grenze im St.Galler Rheintal die Einreise in die Schweiz ermöglicht und ihnen damit nicht nur die Rückkehr in die Hände der Nationalsozialisten erspart, sondern sie auch vor dem sicheren Tod in einem der Konzentrations- und Vernichtungslager gerettet.
Was hat Grüninger gemacht und weshalb wurde er verurteilt? Bis zum 18. August 1938 konnten Jüdinnen und Juden problemlos und legal aus Deutschland in die Schweiz einreisen. Von diesem Tag an allerdings galt die sogenannte «Grenzsperre», jüdischen Menschen wurde die Einreise in die Schweiz verboten. Wer also vor dem 18. August 1938 Deutschland verliess, war gerettet und hatte ein legales Bleiberecht in der Schweiz. Grüninger datierte deshalb das Einreisedatum aller Jüdinnen und Juden, die nach der «Grenzsperre» einreisten, zurück auf ein beliebiges Datum vor dem 18. August 1938. Damit legalisierte er bis zu seiner Suspendierung im Frühjahr 1939 ihren Aufenthaltsstatus und rettete ihr Leben.
Dieser kleine bürokratische Akt führte letztlich zur Suspendierung und Verurteilung Grüningers. Ein Polizeichef, der nicht nur wegschaut, sondern bewusst Dokumente fälscht, war gemäss damaliger Haltung inakzeptabel. Nach Aussagen von Mark Pieth, emeritierter Strafrechtsprofessor der Universität Basel und Verfasser eines Gutachtens zur Rehabilitierung sowie am Freitag einer der Gäste auf dem Podium, hatte das Gericht 1940 in der Beurteilung des Falls die Risiken der jüdischen Menschen unterschätzt und nicht wirklich ernst genommen. «Ich will nicht sagen, dass die Leute damals, insbesondere jene des St.Galler Gerichts, verkappte Nazis waren, aber sie waren dem Gedankengut des Dritten Reichs gegenüber doch relativ offen», beschrieb Pieth die damalige Haltung gegen Grüninger. Schliesslich seien zu diesem Zeitpunkt auch Kenntnisse von Konzentrationslagern bereits vorhanden gewesen.
Mark Pieth
Nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass es der Bundesrat in Bern war, der das Einreiseverbot für jüdische Menschen erwirkte. Der Befehl aus Bern sei damals nicht nur falsch, sondern auch illegal gewesen, erklärte Pieth. Bereits vor 1938 existierte nämlich das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip, das der Völkerbund, die Vorläuferorganisation der heutigen UNO, bereits Jahre vor Grüningers Fluchthilfe entwickelt hatte. Non-Refoulement bedeutet: Flüchtlinge, denen gravierende Risiken oder sogar der sichere Tod droht, dürfen nicht abgewiesen werden. Ein Völkerbund-Konzept aus den 1920er-Jahren.
Dilemma zwischen der Verpflichtung gegenüber dem Staat und der eigenen moralischen Pflicht
«Gemäss diesem Prinzip hat Grüninger nicht nur ehrenhaft gehandelt, sondern er hatte auch recht im juristischen Sinne», erklärte der ehemalige St.Galler SP-Politiker Paul Rechsteiner, der auch Präsident der Paul Grüninger Stiftung ist, am Podium. Diese Tatsache sei auch für Grüningers Tochter Ruth Roduner bis zu ihrem Tod Ende 2021 immer entscheidend gewesen. Man dürfe ausserdem nicht vergessen, dass es der Schweizer Bundesrat gewesen sei, der die Nazi-Behörden in Berlin aufforderte, die jüdischen Pässe mit einem nicht abwaschbaren «J» zu kennzeichnen, erinnerte Rechsteiner an die damalige Praxis.
Paul Grüninger befand sich rechtlich in einer «Pflichtenkollision». Das sei ein Notstand, so Mark Pieth. Grüninger habe einerseits die Weisung aus Bern, die Einreise zu verwehren, als Amtspflicht gesehen, andererseits sah er seine persönliche Pflicht, Menschenleben zu retten. Was ist zu tun in einer solchen Situation? Welche Pflicht ist höher zu gewichten? Gemäss dem juristischen Prinzip dürfe eine Person – in diesem Fall Paul Grüninger –, sobald zwei Pflichten gleich schwer wiegen, jener den Vorzug geben, die er oder sie für richtig halte. Grüninger hatte also die Wahl, den Befehl des Bundesrats zu befolgen oder Menschenleben zu retten. Er entschied sich für Letzteres.
Flucht und Fluchthilfe gelten bis heute als kriminell
Katja Achermann, eine auf Menschenrechte und Asylrecht spezialisierte Anwältin, sieht im Fall Grüninger Parallelen zu heute. Die Kriminalisierung von Fluchthilfe oder der Flucht selbst sei im Völkerrecht ein grosses Thema. Es gebe auch Beispiele in der Schweiz: «Es gibt Menschen, die in der Seenotrettung engagiert sind und als Fluchthelfer:innen angeklagt werden, weil sie Menschenleben retten», sagte sie. Obwohl sich die EU-Staaten den Grundrechten der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet hätten, stellten sie Menschen vor Gericht, die andere Menschen auf einem gekenterten Boot vor dem Ertrinken retteten.
Katja Achermann
Ein weiteres Problem sei die Kriminalisierung der Flucht selbst. Immer öfter würden Schlepper:innen die Arbeit nicht selber ausführen, sondern Flüchtlinge engagieren, die Boote oder Autos selber steuern. Oft würden diese Arbeit Flüchtlinge erledigen, die kein eigenes Geld für die Überfahrt mit einem Boot haben, erklärte Achermann. Damit machen sich diese Flüchtlinge in EU-Staaten zusätzlich strafbar – oft mit drastischen Folgen. Im Durchschnitt würden migrantische Schlepper:innen in der EU zu einer Freiheitsstrafe von 46 Jahren verurteilt. Auch heute noch, genauso wie 1940, wird das Non-Refoulement-Prinzip ausgehöhlt.
Auch Mark Pieth sieht eine rückläufige Entwicklung. Obwohl die Schweiz kurz nach dem Krieg 1951 die Flüchtlingskonvention des Europarates ratifiziert hatte, seien wir heute in einer Phase, in der sich die Anerkennung dieses Prinzips wieder abschwäche, so der emeritierte Professor. Es gehe nicht um Menschen aus stabilen Ländern, die einfach hier arbeiten wollten. Non-Refoulement müsse vor allem bei Menschen aus Ländern wie Afghanistan oder Iran angewendet werden, denen drakonische Strafen oder sogar der Tod drohe bei einer Rückkehr.
Sperriger Weg zu Grüningers Rehabilitierung
Paul Grüninger erlebte seine vollständige Rehabilitierung nicht mehr. Er starb im Februar 1972 – völlig verarmt und ohne Rente –, ein knappes Vierteljahrhundert vor seiner juristischen Rehabilitierung im November 1995. Es war unter anderem auch Paul Rechsteiners Verdienst, die Rehabilitierung letztendlich durchzubringen. 1984 reichte Rechsteiner im St.Galler Grossen Rat – dem heutigen Kantonsrat – ein entsprechendes Postulat ein. Die St.Galler Regierung lehnte den Vorstoss im Februar 1985 mit der Begründung ab, der Begriff «Rehabilitierung» sei dem kantonalen Recht fremd. Ein weiterer Antrag des damaligen SP-Kantonsrates Hans Fässler wurde 1989 mit fast identischer Begründung ebenfalls abgelehnt. Immerhin zeigte die Regierung Bereitschaft, den Fall Grüninger wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen.
Paul Rechsteiner
Eine weitere Initiative von Paul Rechsteiner 1993 im Nationalrat brachte die Rehabilitierung schliesslich ins Rollen. Als Folge gestand der Gesamtbundesrat 1994 erstmals die Abweisung an der Grenze, die Einführung des Judenstempels in den Pässen sowie die Entlassung Grüningers als Fehler ein und bezeichnete die Handlungen der damaligen Regierung als «unhaltbare, rassistische Diskriminierung». Innenministerin Ruth Dreifuss schrieb: «Der Fall Grüninger ist die Folge eines Rechtszerfalls im Namen der Staatsräson.» Es sei somit Aufgabe des ganzen Landes, aller Parteien und Religionsgemeinschaften, anzuerkennen, dass Grüninger richtig handelte, als er internationalem Gewohnheitsrecht folgte – einem Recht, das die Auslieferung von Opfern an ihre Henker verbietet, so Dreifuss. Ein Jahr darauf wurde Paul Grüninger auch vom St.Galler Gericht juristisch rehabilitiert und seine Verurteilung postum rückgängig gemacht.
Grüningers Zivilcourage ist heute genauso wichtig wie 1938/39
Obwohl bereits die Bergier-Kommission zu den nachrichtenlosen Konten und Vermögen jüdischer Gelder auf Schweizer Bankkonten in den 90er-Jahren, sowie auch die Rehabilitierung Grüningers wichtige Arbeit geleistet hätten in der Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im Nationalsozialismus, dürfe nicht der Eindruck entstehen, es gebe jetzt nichts mehr zu tun, erklärte Valérie Arato, Historikerin und Geschäftsführerin des Netzwerkes Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus. «Die Wahrnehmung in der Schweizer Gesellschaft, dass nun alles aufgearbeitet sei, wirkt bis heute nach.» Dabei gebe es auch in den anderen Landesteilen – der französischen und der italienischen Schweiz – Menschen, die damals wichtige Arbeit geleistet hätten und deren Wirken noch aufzuarbeiten sei, so Arato. Das Netzwerk Memorial will in den kommenden Jahren an der schweizerisch-österreichischen Grenze ein grenzüberschreitendes Vermittlungszentrum zu Ehren von Paul Grüninger errichten.
Valérie Arato
Obwohl Grüninger seit drei Jahrzehnten vollständig rehabilitiert ist, mahnt uns sein moralisches und ehrenhaftes Handeln bis in die Gegenwart. Grüninger habe Mut aufgebracht, seine eigene Karriere zu riskieren, so Mark Pieth. «Man wünscht sich solche Leute heute in den USA, oder auch hier.» Für Katja Achermann steht der Name Grüninger für die «Verantwortung des Einzelnen und für Menschenrechte». Und für Paul Rechsteiner ist Grüninger eine Art «Schule der Urteilskraft». Grüningers Geschichte stellt Fragen, mit denen wir auch heute noch konfrontiert sind.
Das St.Galler Rheintal wurde während der NS-Zeit zu einem Stück Weltgeschichte. Auf der einen Seite des Rheins das barbarische Naziregime mit dem ans Reich angeschlossenen Österreich, auf der anderen Seite die demokratisch gebliebene Schweiz. Genau in jener neutralen und demokratischen Schweiz passierte mit einer antisemitischen Flüchtlingspolitik das Unfassbare.