Der 83-jährige US-amerikanische Dichter und Blogger Jan Herman, der am heurigen Wortlaut und danach im Palace performte, veröffentlichte mit William S. Burroughs, Carl Weissner und Jürgen Ploog 1972 den harten Schnitttext Cut up or Shut up. Nun widmet er dem Andenken seines Schriftstellerfreunds die illustrierte Textsammlung Keyboard Mouth, die bei Moloko Print, Schönebeck, gerade erschienen ist.
Ebenfalls bei Moloko Print, im Verlag von Ralf Friel, der neben dem Verleger Peter Engstler Ploogs Werk konsequent betreut, ist, posthum, in der Gestaltung von Robert Schalinski und mit Collagen des Autors, der Band Spätvorstellung – Der Archipel der ungeklärten Fälle erschienen. Wer Ploogs späte Prosa liebt, wird in dieser Sammlung episodischer Texte um «M.L.», um den schreibenden Piloten Max Lang, Ploogs fiktionales Alter Ego, auf seine Kosten kommen; und wer Ploogs späte Prosa noch nicht entdeckt haben sollte, kann hier ihrer Magie verfallen:
Max musste im Lauf der Jahre zweimal zwischen den Inseln notlanden. Man brachte ihn in ein Krankenhaus im Inneren der Insel, um den Schock & Anzeichen von Amnesie zu behandeln.
Als er zu sich kam, betastete er zunächst sämtliche Gegenstände des Zimmers, in dem er lag, um das Gefühl für die Form von Objekten wiederzufinden.
Ein weissgekleidetes Mädchen, deren Hautfarbe an Elfenbein erinnerte, sass Tag & Nacht wie eine Statue in einer Ecke des Raumes. Nichts bewegte sich, ausser dass Schatten über das Gesicht des Mädchens krochen. Gewitter zogen auf, Blitze zerfetzten die Nacht … der Strom fiel aus. Er spürte die kühle Hand des Mädchens & hörte das von Pausen unterbrochene Krächzen & Grunzen der Ochsenfrösche durch die offenen Fenster.
Der Regen dröhnte mit der Gleichmässigkeit eines defekten Deckenventilators.
Als er entlassen wurde, wartete Nelly im Besucherraum auf ihn & gab sich als seine Frau aus. Sie trug hochhackige, weinrote Schuhe aus Schlangenleder & roch nach Patschuli. Ihr dünnes Kleid betonte mehr ihren Körper, als dass es ihn bedeckte.
Ihr Wagen stand vor dem Hospital. «Wohin fahren wir?», fragte er.
«Zu mir.»
Freilich bleibt alles undurchsichtig im mondänen, Zeiten und Orte durchquerenden, erotisch unterminierten Erzählfluss, fast kafkaesk.
Welche Haltung ist in diesem Fall der Leserschaft zu empfehlen? Dieselbe wie dem Protagonisten:
Stoa nimmt Kommendes vorweg, daher die Gelassenheit, die mit ihr einhergeht. Das Kommende als Erwartetes hinnehmen bedeutet, ihm die zeitlichen Kanten zu nehmen. Wie sonst wäre das vielseitige Programm des ständigen Wandels auszuhalten?
Diese postexistenzialistische, hier stoisch begründete Haltung heisst andernorts Coolness – sie überträgt sich beim Lesen der sphärisch schwebenden und immer wieder gebrochenen Episoden aus dem Archipel der ungeklärten Fälle.
Jürgen Ploogs Einsicht war, dass sich unsere komplexe Welt nicht mehr in einer durchgehenden Erzählung erfassen lässt, und seine Konsequenz war der Schnitt. Er gilt als «bester deutscher Cut-up Autor» (Carl Weissner – ipse dixit!). Die Schnittmethode entsprach auch seinem Lebensstil; 33 Jahre lang flog Ploog Long-distance- flights für die Lufthansa, wechselte immer wieder die Zeit- und Ortskoordinaten, cut after cut…
Zum Ploog-Jahr 2025 hat Wolfgang Rüger, zusammen mit Ploogs Sohn David, den rund 350 Seiten starken, reich illustrierten Band Ploog West End – Texte von und über Jürgen Ploog in der Edition W, Frankfurt, herausgegeben. Er zeigt nicht nur den literarischen Meister der Schere mit einigen brillanten neuen Prosastücken, sondern auch den Intellektuellen und Theoretiker, den Tagebuch- und Briefeschreiber, den Mail-Artisten, den Grafiker, Zeichner und Künstler – zum Beispiel wird erstmals eine Serie von Frauen-Akten präsentiert, auch ein kleiner farbiger Comic-Strip ist dabei.
Und vor allem zeigt der Band Ploog als Komplizen und Freund: Über 30 Beitragende listet das Autor:innenverzeichnis auf, darunter Kathy Acker, Ira Cohen, Jörg Fauser, Allen Ginsberg, Walter Hartmann, Hadayatullah Hübsch, Axel Monte, Pociao, Carl Weissner, Wolf Wondratschek… Enno Stahl hat einen fulminanten einleitenden Essay unter dem Titel Cut-up und Fliegen beigesteuert, an dessen Ende es heisst:
Jürgen Ploog, Wortpilot und Bilderkapitän, hat die reichhaltigen Filmschnipsel seines Bewusstseins in einer Weise montiert, dass selbst Nouvelle-Vague-Filmer blass dabei würden. Vielleicht war ihm selbst gar nicht bewusst, wie sehr der nicht allzu geliebte Brotjob seiner Literatur eine Originalität verlieh, einen ganz eigenen Touch, da sie ihm erlaubte, auf einen Erfahrungsschatz zurückzugreifen, den nicht einmal sein grosses Vorbild William S. Burroughs besass.
Der Sammelband Ploog West End offenbart darüber hinaus Privates, Familiäres. So rundet die Grabrede des Sohns David Ploog vom 4. Juni 2020 das Bild auf diesen Schriftsteller als Menschen ab. Doch der eindrücklichste Text des Bandes in diesem Zusammenhang stammt aus Ploogs Feder. Es ist der Text Todesschatten, den er Phoebe gewidmet hat, Davids Schwester, der Tochter von Anna und Jürgen Ploog, die im Alter von 48 Jahren 2013 von einer teuflischen Krankheit jäh dahingerafft und aus dem Leben gerissen wurde:
Die Kraft der Erinnerung ist kaum auszuhalten. Sie verflüchtigt sich nicht, sie durchwühlt mich. Mein Blick fällt auf einen schwachen Körper, in Laken gehüllt. Lichter blinken, Warntöne erklingen. Ein Körper, der sich selbst bei einfachen Bewegungen wie dem Atmen verausgabt. / Nachts wüten rhetorische Stürme in mir. Ich entwerfe Reden, Bilder der Erinnerung überstürzen sich. Ich beschwöre die Geister der Heilung & verfluche die Dämonen, die sich gegen mich richten, immer das Gesicht des bedrohten Körpers vor mir. Blut sickert am Hals aus ihm. Ich bin Zeuge des heimlichen Kampfes, der sich in ihm abspielt. (...) Dasitzen und stumm die Wand anstarren. Stille wird zur Andacht, zum stummen Gebet. Beten ist ein wortloser Zustand, der nicht nur den eigenen Körper, sondern den Raum rundum erfasst.
Todesschatten ist ein herzzerreissend aufrichtiger Text, der die existenzielle Verzweiflung des hilflosen Vaters eins zu eins wiedergibt. Ein radikal menschlicher Text, der die oben beschriebene stoische Haltung auf die Zerreissprobe stellt.
Im Saiten vom Juli/August 2020 beendete ich meinen Nekrolog auf Jürgen Ploog (es erschien auch eine Würdigung in der «Fabrikzeitung»), mit dem ich viel zusammengearbeitet und den ich mehrfach nach St.Gallen zu Lesungen eingeladen habe, mit diesem Gedicht:
Ferne Routen
Jürgen Ploog zum Dreiundachtzigsten, 9. Januar 2018
Auf Strecken unterwegs, die von Touristenströmen verschont blieben
Mit der knappen Anweisung: Verschwinden
In den unsichtbaren Spinnweben einer magischen Übung
Im Zimmer nebenan umarmten sich zwei Plattenspieler
Ein armlanger Leguan verschlang im Strauch eine Hibiskusblüte
Der El Loco blies wie verrückt: Ich bin’s & ich bin immer noch hier
Clemens Umbricht schrieb einmal: «Der Sinn der Poesie besteht darin, dass sie sich als richtig erweist.» – Die hier besprochenen Publikationen beweisen, dass Jürgen Ploog noch immer hier ist. Auch fünf Jahre nach seinem leiblichen Tod lebt seine Literatur weiter – und fasziniert.

Und auch Jürgen Ploogs Bilder leben weiter.