Keine Gesichter, keine Rechte, keine City Card

Nachdem der Stadtrat anfangs September den Postulatsbericht zur St.Galler City Card veröffentlichte und diese darin ablehnte, hat das Parlament anlässlich seiner gestrigen Sitzung den Bericht nun mit einer knappen Mehrheit abgeschrieben – trotz fehlender Informationen und offener Fragen.

Unsichtbare Arbeit: Die Illustration gestaltete die damalige Saiten-Grafik im Rahmen eines Sans-Papiers-Schwerpunkts im Januarheft 2020.

Für rund 500 Men­schen oh­ne Pa­pie­re – die Zahl könn­te aber deut­lich hö­her sein – wä­re es ein wich­ti­ger Schritt ge­we­sen. Hilf­reich wä­re er auch für das Zu­sam­men­le­ben, für al­le an­de­ren Be­woh­ner:in­nen der Stadt St.Gal­len, die Be­hör­den und die Stadt selbst ge­we­sen. Der Schritt zur Ci­ty Card.

Vor rund fünf Jah­ren reich­ten Chris­ti­an Hu­ber (Grü­ne) und Jen­ny Heeb (SP) ein Pos­tu­lat zur Ein­füh­rung ei­ner St.Gal­ler Ci­ty Card ein. Ein Aus­weis für al­le Be­woh­ner:in­nen der Stadt, un­ab­hän­gig von ih­rem Auf­ent­halts­sta­tus. Das Be­geh­ren fuss­te auf ähn­li­chen Vor­stös­sen aus Zü­rich oder Bern und der Tat­sa­che, dass vie­le Men­schen auf­grund feh­len­der Do­ku­men­te nicht am öf­fent­li­chen Le­ben teil­neh­men kön­nen und ih­re «Grund­rech­te nicht aus­üben kön­nen». In der ge­sam­ten Schweiz, aber eben auch in St.Gal­len.

So heisst es im Pos­tu­lat der SP und Grü­nen. Oh­ne Aus­weis gibt es kei­ne Sai­son­kar­te für die Ba­di, aber auch kei­ne me­di­zi­ni­sche Hil­fe. So­ge­nann­te Sans-Pa­piers, Men­schen oh­ne Aus­weis­do­ku­men­te, mei­den Si­tua­tio­nen, in de­nen sie nach ih­ren Do­ku­men­ten ge­fragt wer­den kön­nen. Da­durch ge­hen Kin­der nicht zur Schu­le, Ar­beit muss schwarz ver­rich­tet wer­den und not­wen­di­ge Arzt­be­su­che wer­den nicht vor­ge­nom­men. Vie­le Sans-Pa­piers wol­len aber bei­spiels­wei­se auch nicht aus­sa­gen, wenn sie Zeug:in­nen von Ver­bre­chen wer­den, aus Angst, ihr Auf­ent­halts­sta­tus wer­de bei der Po­li­zei ge­prüft. Sie kön­nen kei­ne Woh­nun­gen mie­ten, kei­nen Ki­ta­platz an­mel­den und zahl­rei­che Dienst­leis­tun­gen der Stadt nicht nut­zen.

Das Par­la­ment be­auf­trag­te den Stadt­rat 2020 da­mit, die «recht­li­chen Ab­klä­run­gen zu tref­fen und Be­richt dar­über zu er­stat­ten, wie und in wel­cher Form die Ein­füh­rung ei­nes städ­ti­schen Iden­ti­täts­aus­wei­ses (‹St.Gal­ler Ci­ty Card›) rea­li­siert wer­den kann». Als Ant­wort pu­bli­zier­te die­ser nun ei­nen eher schmal ge­hal­te­nen Be­richt, der die Er­kennt­nis­se aus Zü­rich oder Bern, von Po­li­zei und an­de­ren Be­hör­den auf­lis­tet und die pre­kä­re Si­tua­ti­on der Sans-Pa­piers an­er­kennt. Am En­de aber «ver­zich­tet» der Stadt­rat auf die Ein­füh­rung ei­ner Ci­ty Card. Grund da­für sei der eher klei­ne Nut­zen die­ser Form ei­nes Aus­wei­ses und der «mut­mass­lich ho­he per­so­nel­le und fi­nan­zi­el­le Auf­wand».

Der Be­richt lässt vie­les of­fen

Die Ci­ty Card wird als neun­tes Trak­tan­dum der No­vem­ber-Sit­zung an die­sem Diens­tag im Par­la­ment be­spro­chen. Als Ers­te spricht Ga­brie­la Eber­hard (SP) im Na­men der Kom­mis­si­on So­zia­les und Si­cher­heit (KS­SI), die sie prä­si­diert. Man ha­be den Be­richt ein­ge­hend be­spro­chen und fest­ge­stellt, dass ei­ni­ge Punk­te un­zu­rei­chend auf­ge­ar­bei­tet wur­den. Vie­les blei­be un­klar, ei­ge­ne Ab­klä­run­gen zu recht­li­chen und fi­nan­zi­el­len Um­stän­den fehl­ten, die Aus­wir­kun­gen auf die Zen­trums­las­ten blei­be of­fen. Ab­schlies­send liess Eber­hard ver­lau­ten, dass die Re­gie­rung ih­ren Auf­trag da­mit nicht er­füllt ha­be und die Ab­schrei­bung von der Kom­mis­si­on mehr­heit­lich ab­ge­lehnt wer­de. 

Ka­rin Wid­mer-Dubs, eben­falls Mit­glied der KS­SI, mel­det sich dar­auf­hin im Na­men der SVP-Frak­ti­on zu Wort. Die­se sei für ei­ne Ab­schrei­bung, man dan­ke der Re­gie­rung. Die Ci­ty Card lö­se kei­ne Pro­ble­me und sei nicht mehr als ei­ne «hu­ma­ni­tä­re Ges­te» oh­ne Nut­zen. Aus­ser­dem sei der fi­nan­zi­el­le Auf­wand sehr hoch. Gleich­zei­tig kri­ti­siert Wid­mer-Dubs aber, dass im Be­richt der Re­gie­rung kla­re Aus­sa­gen zu den Kos­ten und dem Nut­zen der Ci­ty Card fehl­ten. Zu­dem rei­che die di­gi­ta­le In­fra­struk­tur noch nicht aus und ei­ne Da­ten­bank für ei­ne Ci­ty Card sei nicht si­cher.

«Ich be­grüs­se den Wil­len der SVP, ei­ne Lö­sung für die pre­kä­re La­ge der Sans-Pa­piers fin­den zu wol­len», sagt Jen­ny Heeb, Mit­in­iti­an­tin des Pos­tu­lats, ein­gangs ih­rer Wort­mel­dung im Na­men der SP-, JU­SO- und PFG-Frak­ti­on. Heeb be­tont, dass der Stadt­rat für den doch «sehr ma­ge­ren» Be­richt nun fünf Jah­re ge­braucht und das Par­la­ment drei Mal ver­trös­tet ha­be. Da­mit ha­be die Re­gie­rung ih­re Chan­ce ver­passt, her­aus­zu­fin­den, was in St.Gal­len denk­bar und mach­bar wä­re. Der Auf­trag sei nicht er­füllt, es feh­le ei­ne ver­tief­te Ab­klä­rung über den Nut­zen für die Ge­samt­be­völ­ke­rung und ei­ne Aus­gangs­la­ge für die Wei­ter­ar­beit. Zum En­de ver­kün­det Heeb, ih­re Frak­ti­on wer­de die Ab­schrei­bung des Pos­tu­lats ab­leh­nen.

Von Teil­nah­me bis Recht­staat­lich­keit

Die Jun­gen Grü­nen schlies­sen sich dem Vo­tum an. Es ge­he mit der Ci­ty Card auch um Teil­nah­me und Mit­ge­stal­tung, um in der Ver­fas­sung ga­ran­tier­te Grund­rech­te für al­le, um Exis­ten­zen, sagt Si­nah Ei­sen­ring im Na­men der Grü­nen/Jun­ge-Grü­nen-Frak­ti­on. Der Be­richt sei zu we­nig aus­führ­lich und ei­ne ge­naue Kos­ten­auf­tei­lung feh­le.

Dann don­nert Ro­bin Eich­manns Wort­mel­dung durch den Saal. Er bringt das Vor­ha­ben der Ci­ty Card mit Ju­so-Pa­thos auf den Punkt. «In der Gas­tro­no­mie, im Haus­halt, in der Rei­ni­gung, in der Pfle­ge: Sans-Pa­piers ar­bei­ten dort, wo es sie braucht. Sie tra­gen bei und tra­gen mit.» Dass sie da­bei un­sicht­bar sei­en – oh­ne Ge­sich­ter und oh­ne Rech­te –, sei nicht ihr Feh­ler, son­dern der­je­ni­ge des Sys­tems. «Es ist ver­ant­wor­tungs­los, die­se Leu­te als bil­li­ge Ar­beits­kräf­te put­zen zu las­sen, ih­nen aber, wenn sie in Not ge­ra­ten, zu sa­gen: ‹Pech ge­habt›.»

Ge­gen En­de der De­bat­te knüpft Mat­thi­as Rick­li, SP-Par­la­men­ta­ri­er und Lei­ter der Sans-Pa­pier An­lauf­stel­le in St.Gal­len, dort wie­der an. An­hand zwei­er Bei­spie­le ver­deut­licht er die Si­tua­tio­nen, in de­nen sich zahl­rei­che Sans-Pa­piers be­fän­den. Er er­zählt von ei­ner Frau, die Op­fer häus­li­cher Ge­walt sei, aber kei­ne Hil­fe ho­len und aus­ser­dem ihr Kind nicht zur Schu­le schi­cken kön­ne. Da­mit sei das in der Ver­fas­sung ga­ran­tier­te Recht auf Bil­dung so­wie das Recht auf Schutz vor Ge­walt nicht er­füllt, er­klärt Rick­li. Ähn­lich wie im Fal­le ei­nes Man­nes, der seit vier­zehn Jah­ren hier le­be, sei­ne sich ver­schlech­tern­den ge­sund­heit­li­chen Zu­stand aber nicht be­han­deln kön­ne. Auch Rick­li be­tont, dass vie­le die­ser Men­schen ei­nen Bei­trag für die Stadt leis­ten und sich ei­ni­ge in ei­ner Not­la­ge be­fin­den wür­den. Des­halb ap­pel­lie­re er an die SVP, an je­ne, die im­mer wie­der ger­ne auf Rechts­staat­lich­keit po­chen. «Ein Rechts­staat muss schüt­zen. Recht­staat­lich­keit be­deu­tet, sich an Ge­set­ze und in der Ver­fas­sung ga­ran­tier­te Rech­te zu hal­ten.» Zu­letzt wie­der­holt der SPler, dass die Ci­ty Card nicht nur ein Aus­weis für die Sans-Pa­piers sei, son­dern eben für al­le Be­woh­nen­den der Stadt.

Da­vor spre­chen sich die Mit­te und die FDP/JF-Frak­ti­on al­ler­dings für ei­ne Ab­schrei­bung aus. Ge­mäss Marc Stauf­fa­cher, der sich im Na­men der Mit­te/EVP-Frak­ti­on zu Wort mel­det, se­he die­se kei­nen Nut­zen in der Ci­ty Card. Man sol­le ab­war­ten, be­ob­ach­ten, wie sich das Vor­ha­ben in Zü­rich und das Bud­get der Stadt St.Gal­len ent­wick­le. Fla­via Sut­ter von der FDP/JF-Frak­ti­on stellt grund­sätz­lich die Fra­ge: «Wir ha­ben Iden­ti­täts­kar­ten, Kran­ken­kas­sen­kärt­li, Mit­glie­der­aus­wei­se. Wer braucht jetzt noch ei­ne zu­sätz­li­che Ci­ty-Card?» Da­bei wüss­te sie ei­gent­lich, dass es in der De­bat­te in ers­ter Li­nie um Sans Pa­piers geht, denn kurz dar­auf ver­weist sie dar­auf, dass ei­ne Ci­ty Card de­ren oft il­le­ga­len Auf­ent­halts­sta­tus nicht le­ga­li­sie­ren wür­de. Auch für an­de­re Stadt­be­woh­ner:in­nen sieht sie kei­ne Vor­tei­le in ei­ner Ci­ty Card. 

Kei­ne Ci­ty Card oh­ne die GLP

Match­ent­schei­dend ist das Vo­tum der GLP. Als das Pos­tu­lat vor fünf Jah­ren für er­heb­lich er­klärt wer­den soll­te, stimm­te die Mehr­heit des Par­la­ments da­für. Die lin­ke Sei­te des Saals und die GLP. Noe­mi Bän­zi­ger spricht im Na­men der GLP-Frak­ti­on und nimmt ei­nen Punkt auf, der schon von der SVP the­ma­ti­siert wor­den war: feh­len­de di­gi­ta­le In­fra­struk­tur. Man müs­se die­se erst mo­der­ni­sie­ren und zu­erst die Ein­woh­ner­kon­trol­le selbst di­gi­ta­li­sie­ren. Aus­ser­dem sei­en die Kos­ten des Vor­ha­bens zu hoch. «Die Frak­ti­on wird das Pos­tu­lat ab­schrei­ben.»

Ab­schlies­send be­tont So­zi­al- und Si­cher­heits­di­rek­to­rin Son­ja Lü­thi (GLP) zwar, dass der Stadt­rat die pre­kä­re La­ge der Sans-Pa­piers an­er­ken­ne, aber ei­ne In­ves­ti­ti­on in die me­di­zi­ni­sche Vor­sor­ge und die (fi­nan­zi­el­le) Un­ter­stüt­zung der Fach­stel­le IG Sans-Pa­piers für sinn­vol­ler hal­te als ei­ne Ci­ty Card.

Nach der Wort­mel­dung der GLP ist das Re­sul­tat der Ab­stim­mung (36 Ja- zu 23 Nein-Stim­men) kaum über­ra­schend: Die Mehr­heit des Par­la­ments stimmt für die Ab­schrei­bung des Pos­tu­lats. Die Ci­ty Card hat sich da­mit vor­erst er­le­digt. Vor­erst. Denn die Re­ak­tio­nen der Be­für­wor­ter:in­nen der Ci­ty Card las­sen ver­mu­ten, dass das letz­te Wort in der An­ge­le­gen­heit noch nicht ge­spro­chen ist. Mat­thi­as Rick­li hält die Ci­ty Card nach wie vor für ein wirk­sa­mes und sinn­vol­les In­stru­ment zur Be­kämp­fung der pre­kä­ren Um­stän­de der Sans-Pa­piers. Al­ler­dings drü­cke der Schuh in sei­nem Be­ra­tungs­all­tag zur Zeit an sehr vie­len an­de­ren Stel­len. Die­sen kon­kre­ten Pro­ble­men will er sich nun zu­wen­den.

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