Für rund 500 Menschen ohne Papiere – die Zahl könnte aber deutlich höher sein – wäre es ein wichtiger Schritt gewesen. Hilfreich wäre er auch für das Zusammenleben, für alle anderen Bewohner:innen der Stadt St.Gallen, die Behörden und die Stadt selbst gewesen. Der Schritt zur City Card.
Vor rund fünf Jahren reichten Christian Huber (Grüne) und Jenny Heeb (SP) ein Postulat zur Einführung einer St.Galler City Card ein. Ein Ausweis für alle Bewohner:innen der Stadt, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Das Begehren fusste auf ähnlichen Vorstössen aus Zürich oder Bern und der Tatsache, dass viele Menschen aufgrund fehlender Dokumente nicht am öffentlichen Leben teilnehmen können und ihre «Grundrechte nicht ausüben können». In der gesamten Schweiz, aber eben auch in St.Gallen.
So heisst es im Postulat der SP und Grünen. Ohne Ausweis gibt es keine Saisonkarte für die Badi, aber auch keine medizinische Hilfe. Sogenannte Sans-Papiers, Menschen ohne Ausweisdokumente, meiden Situationen, in denen sie nach ihren Dokumenten gefragt werden können. Dadurch gehen Kinder nicht zur Schule, Arbeit muss schwarz verrichtet werden und notwendige Arztbesuche werden nicht vorgenommen. Viele Sans-Papiers wollen aber beispielsweise auch nicht aussagen, wenn sie Zeug:innen von Verbrechen werden, aus Angst, ihr Aufenthaltsstatus werde bei der Polizei geprüft. Sie können keine Wohnungen mieten, keinen Kitaplatz anmelden und zahlreiche Dienstleistungen der Stadt nicht nutzen.
Das Parlament beauftragte den Stadtrat 2020 damit, die «rechtlichen Abklärungen zu treffen und Bericht darüber zu erstatten, wie und in welcher Form die Einführung eines städtischen Identitätsausweises (‹St.Galler City Card›) realisiert werden kann». Als Antwort publizierte dieser nun einen eher schmal gehaltenen Bericht, der die Erkenntnisse aus Zürich oder Bern, von Polizei und anderen Behörden auflistet und die prekäre Situation der Sans-Papiers anerkennt. Am Ende aber «verzichtet» der Stadtrat auf die Einführung einer City Card. Grund dafür sei der eher kleine Nutzen dieser Form eines Ausweises und der «mutmasslich hohe personelle und finanzielle Aufwand».
Der Bericht lässt vieles offen
Die City Card wird als neuntes Traktandum der November-Sitzung an diesem Dienstag im Parlament besprochen. Als Erste spricht Gabriela Eberhard (SP) im Namen der Kommission Soziales und Sicherheit (KSSI), die sie präsidiert. Man habe den Bericht eingehend besprochen und festgestellt, dass einige Punkte unzureichend aufgearbeitet wurden. Vieles bleibe unklar, eigene Abklärungen zu rechtlichen und finanziellen Umständen fehlten, die Auswirkungen auf die Zentrumslasten bleibe offen. Abschliessend liess Eberhard verlauten, dass die Regierung ihren Auftrag damit nicht erfüllt habe und die Abschreibung von der Kommission mehrheitlich abgelehnt werde.
Karin Widmer-Dubs, ebenfalls Mitglied der KSSI, meldet sich daraufhin im Namen der SVP-Fraktion zu Wort. Diese sei für eine Abschreibung, man danke der Regierung. Die City Card löse keine Probleme und sei nicht mehr als eine «humanitäre Geste» ohne Nutzen. Ausserdem sei der finanzielle Aufwand sehr hoch. Gleichzeitig kritisiert Widmer-Dubs aber, dass im Bericht der Regierung klare Aussagen zu den Kosten und dem Nutzen der City Card fehlten. Zudem reiche die digitale Infrastruktur noch nicht aus und eine Datenbank für eine City Card sei nicht sicher.
«Ich begrüsse den Willen der SVP, eine Lösung für die prekäre Lage der Sans-Papiers finden zu wollen», sagt Jenny Heeb, Mitinitiantin des Postulats, eingangs ihrer Wortmeldung im Namen der SP-, JUSO- und PFG-Fraktion. Heeb betont, dass der Stadtrat für den doch «sehr mageren» Bericht nun fünf Jahre gebraucht und das Parlament drei Mal vertröstet habe. Damit habe die Regierung ihre Chance verpasst, herauszufinden, was in St.Gallen denkbar und machbar wäre. Der Auftrag sei nicht erfüllt, es fehle eine vertiefte Abklärung über den Nutzen für die Gesamtbevölkerung und eine Ausgangslage für die Weiterarbeit. Zum Ende verkündet Heeb, ihre Fraktion werde die Abschreibung des Postulats ablehnen.
Von Teilnahme bis Rechtstaatlichkeit
Die Jungen Grünen schliessen sich dem Votum an. Es gehe mit der City Card auch um Teilnahme und Mitgestaltung, um in der Verfassung garantierte Grundrechte für alle, um Existenzen, sagt Sinah Eisenring im Namen der Grünen/Junge-Grünen-Fraktion. Der Bericht sei zu wenig ausführlich und eine genaue Kostenaufteilung fehle.
Dann donnert Robin Eichmanns Wortmeldung durch den Saal. Er bringt das Vorhaben der City Card mit Juso-Pathos auf den Punkt. «In der Gastronomie, im Haushalt, in der Reinigung, in der Pflege: Sans-Papiers arbeiten dort, wo es sie braucht. Sie tragen bei und tragen mit.» Dass sie dabei unsichtbar seien – ohne Gesichter und ohne Rechte –, sei nicht ihr Fehler, sondern derjenige des Systems. «Es ist verantwortungslos, diese Leute als billige Arbeitskräfte putzen zu lassen, ihnen aber, wenn sie in Not geraten, zu sagen: ‹Pech gehabt›.»
Gegen Ende der Debatte knüpft Matthias Rickli, SP-Parlamentarier und Leiter der Sans-Papier Anlaufstelle in St.Gallen, dort wieder an. Anhand zweier Beispiele verdeutlicht er die Situationen, in denen sich zahlreiche Sans-Papiers befänden. Er erzählt von einer Frau, die Opfer häuslicher Gewalt sei, aber keine Hilfe holen und ausserdem ihr Kind nicht zur Schule schicken könne. Damit sei das in der Verfassung garantierte Recht auf Bildung sowie das Recht auf Schutz vor Gewalt nicht erfüllt, erklärt Rickli. Ähnlich wie im Falle eines Mannes, der seit vierzehn Jahren hier lebe, seine sich verschlechternden gesundheitlichen Zustand aber nicht behandeln könne. Auch Rickli betont, dass viele dieser Menschen einen Beitrag für die Stadt leisten und sich einige in einer Notlage befinden würden. Deshalb appelliere er an die SVP, an jene, die immer wieder gerne auf Rechtsstaatlichkeit pochen. «Ein Rechtsstaat muss schützen. Rechtstaatlichkeit bedeutet, sich an Gesetze und in der Verfassung garantierte Rechte zu halten.» Zuletzt wiederholt der SPler, dass die City Card nicht nur ein Ausweis für die Sans-Papiers sei, sondern eben für alle Bewohnenden der Stadt.
Davor sprechen sich die Mitte und die FDP/JF-Fraktion allerdings für eine Abschreibung aus. Gemäss Marc Stauffacher, der sich im Namen der Mitte/EVP-Fraktion zu Wort meldet, sehe diese keinen Nutzen in der City Card. Man solle abwarten, beobachten, wie sich das Vorhaben in Zürich und das Budget der Stadt St.Gallen entwickle. Flavia Sutter von der FDP/JF-Fraktion stellt grundsätzlich die Frage: «Wir haben Identitätskarten, Krankenkassenkärtli, Mitgliederausweise. Wer braucht jetzt noch eine zusätzliche City-Card?» Dabei wüsste sie eigentlich, dass es in der Debatte in erster Linie um Sans Papiers geht, denn kurz darauf verweist sie darauf, dass eine City Card deren oft illegalen Aufenthaltsstatus nicht legalisieren würde. Auch für andere Stadtbewohner:innen sieht sie keine Vorteile in einer City Card.
Keine City Card ohne die GLP
Matchentscheidend ist das Votum der GLP. Als das Postulat vor fünf Jahren für erheblich erklärt werden sollte, stimmte die Mehrheit des Parlaments dafür. Die linke Seite des Saals und die GLP. Noemi Bänziger spricht im Namen der GLP-Fraktion und nimmt einen Punkt auf, der schon von der SVP thematisiert worden war: fehlende digitale Infrastruktur. Man müsse diese erst modernisieren und zuerst die Einwohnerkontrolle selbst digitalisieren. Ausserdem seien die Kosten des Vorhabens zu hoch. «Die Fraktion wird das Postulat abschreiben.»
Abschliessend betont Sozial- und Sicherheitsdirektorin Sonja Lüthi (GLP) zwar, dass der Stadtrat die prekäre Lage der Sans-Papiers anerkenne, aber eine Investition in die medizinische Vorsorge und die (finanzielle) Unterstützung der Fachstelle IG Sans-Papiers für sinnvoller halte als eine City Card.
Nach der Wortmeldung der GLP ist das Resultat der Abstimmung (36 Ja- zu 23 Nein-Stimmen) kaum überraschend: Die Mehrheit des Parlaments stimmt für die Abschreibung des Postulats. Die City Card hat sich damit vorerst erledigt. Vorerst. Denn die Reaktionen der Befürworter:innen der City Card lassen vermuten, dass das letzte Wort in der Angelegenheit noch nicht gesprochen ist. Matthias Rickli hält die City Card nach wie vor für ein wirksames und sinnvolles Instrument zur Bekämpfung der prekären Umstände der Sans-Papiers. Allerdings drücke der Schuh in seinem Beratungsalltag zur Zeit an sehr vielen anderen Stellen. Diesen konkreten Problemen will er sich nun zuwenden.