Vor der Kantonsbibliothek Vadiana stehen am Mittwochmorgen rund 20 Studierende der Pädagogischen Hochschule St.Gallen. Es ist die Einführungswoche der Bachelorstudiengänge «Kindergarten- und Primarstufe» und «Sekundarstufe I». Um 9 Uhr öffnet Giuanna Beeli die Eingangstür und führt die Gruppe in den ehemaligen Lesesaal im ersten Stock. Der Kulturtag beginnt – fast 300 Student:innen nehmen daran teil.
Heute stehen die alten Pulte des Lesesaals im Keller, er wird für Veranstaltungen genutzt. In den Wandregalen stehen Dubletten von Romanen und Sachbüchern zum Verkauf. Beeli erzählt ein paar Fakten zur Bibliothek und fragt in die Runde: «Wer war bereits einmal hier oder in der Hauptpost?» Drei Hände heben sich. Die Studierenden, die aus dem ganzen Kanton kommen, waren teilweise erst wenige Male in der Hauptstadt.
Beeli führt die Gruppe ins Magazin: vom Zeitungsarchiv im Keller über die Sammlung von Zeitschriften, Fotos und Plakaten bis zu den historischen Beständen im obersten Stockwerk. Dort ist beispielsweise Vadians Grosse Chronik der Äbte des Klosters St.Gallen untergebracht. Die Studierenden stellen Fragen und stöbern durch die vielen Bücherregale. Es ist das erste von drei Ateliers, das sie heute besuchen. Insgesamt gibt es am Kulturtag 23 Ateliers zu Themen wie Theater, Tanz, Kunst, Geschichte, Literatur, Baukultur, oder Musik. Die Studierenden werden zufällig eingeteilt.
Kompetenzen des 21. Jahrhunderts lernen
«Wir wollen, dass die Studierenden Berührungsängste verlieren und sehen, wie spannend und vielfältig die Kulturlandschaft in der Region ist», so Kati Michalk von der Kulturvermittlungsplattform kklick. Diese vermittelt über 300 kulturelle Bildungsangebote an die Schulen in der Ostschweiz. Den Kulturtag organisiert kklick gemeinsam mit der PHSG und dem Amt für Kultur des Kantons St.Gallen. Es gehe darum, die Studierenden sowohl als junge Erwachsene als auch als zukünftige Lehrpersonen zu erreichen. «Durch kulturelle Bildung lernen wir die essenziellen Kompetenzen von heute: Kreativität, kritisches Denken, Kollaborationsfähigkeit und Reflexion.»
«Durch kulturelle Bildung lernen wir die essenziellen Kompetenzen von heute: Kreativität, kritisches Denken, Kollaborationsfähigkeit und Reflexion.»
Michalk betont: «Kultur ist nicht einfach Unterhaltung, im Sinne von ‹Wir machen am Schuljahresende noch einen netten Ausflug ins Kino›. Wer Kultur in den Unterricht integriert, erfüllt auch Inhalte des Lehrplans.» Themen, die in einer Ausstellung, auf einer Bühne oder im Kino behandelt werden, seien in der Regel auch im Lehrplan wiederzufinden.
Fächerübergreifend bilden
Sabrina Thöny ist Dozentin am Institut für Kulturelle und Ästhetische Bildung an der PHSG und ebenfalls Teil des Kulturtag-OKs. «Ich mache die Erfahrung, dass viele Studierende nicht wissen, dass es in den Kulturinstitutionen oft auch Leute gibt, die für die Vermittlung zuständig sind und die Lehrpersonen beim Besuch mit der Klasse unterstützen.» Seit der Einführung von «Freifahrt Kultur» im letzten Jahr sei auch die Finanzierung von kultureller Bildung einfacher geworden. Jede Schulklasse im Kanton St.Gallen kann zweimal im Jahr den ÖV kostenlos nutzen, um eine Kulturinstitution in St.Gallen, im Vorarlberg oder Liechtenstein zu besuchen. «Das war ein Treffer ins Schwarze», so Michalk. Viele Lehrpersonen müssen mit einem knappen Budget das Schuljahr planen, weshalb die Freifahrt ein wichtiges Angebot für mehr Kultur in der Schule sei.
«Die Angebote für Schulklassen in den Kulturinstitutionen sollten nicht nur im Bildnerischen Gestalten, sondern fächerübergreifend genutzt werden», erklärt Thöny, die auch im Kunstmuseum St.Gallen als Vermittlerin gearbeitet hat. Während der Ausstellung von Iman Issa kam mal eine Schulklasse für eine Geometrieführung. «Die symmetrischen Skulpturen waren perfekt für Rechenaufgaben.» Die Lehrperson habe gemeinsam mit der Kunstvermittlung eine Führung konzipiert. Auch der Englischunterricht eigne sich für einen Besuch ins Museum: «Im Englischlehrmittel der vierten Klasse gibt es ein Kapitel, um Farben und Formen zu lernen. Das Kunstmuseum St.Gallen macht dazu Führungen auf Englisch für Schulklassen.»
«Kulturelle Bildung ist eine Haltung»
Zum Abschluss versammeln sich alle 280 Studierenden in der Lokremise. Sie alle besuchten drei unterschiedliche Ateliers im Figurentheater, im Zeughaus in Teufen, bei der St.Galler Tanzkompanie, in der Tonhalle, im Forum Würth in Rorschach oder in anderen Kulturbetrieben in der Stadt und Region.
Auf der Bühne diskutieren die beiden Regierungsrätinnen Laura Bucher und Bettina Surber gemeinsam mit Jérôme Zgraggen von der PHSG über kulturelle Bildung. Bucher als Kulturministerin betont die Wichtigkeit für Chancengleichheit in der Kultur. «Nicht alle Kinder und Jugendlichen gehen mit ihrer Familie ins Museum oder ins Theater. Schulen können mit kultureller Bildung Horizonte erweitern.» Gemeinsam mit Surber hat sie selbst ein Atelier besucht. Im Offcut Materialmarkt haben die beiden einen Stop-Motion-Film gemacht.
«Schulen können mit kultureller Bildung Horizonte erweitern.»
Die kantonale Bildungschefin Surber gibt sich bescheiden: «Unser Film war keine Glanzleistung, aber es geht ja darum, sich zu entwickeln und auszuprobieren.» In der Schule seien eben nicht nur Mathe- und Deutschnoten relevant, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung. Zgraggen appelliert daran, kulturelle Bildung auch im Alltag zu leben. «Wenn ihr das Potenzial für euch entdeckt, wird euer Studium auch ein Kulturstudium, denn kulturelle Bildung ist eine Haltung.»
Die Sängerin und Liedermacherin Riana umrahmt den Schlussanlass musikalisch. Sie war einst selbst PH-Studentin und besuchte den Kulturtag. Heute unterrichtet sie eine Klasse in Winterthur. Der Tag endet mit einem Apéro, bei dem die Studierenden den Kulturtag mit den 23 Ateliers nachbesprechen und Erfahrungen austauschen. Einen vollständigen Überblick vom hiesigen Kulturplatz hat niemand. Doch die Lust, darin einzutauchen, dürfte geweckt sein.