Poetry Slam, der Punkrock der Literatur, der Battle-Rap ohne Beats, die Lesung ohne Langeweile. Ihre Texte performen die Slampoet:innen auf der Bühne, setzen sich dem Wettbewerb untereinander und der Gunst des Publikums aus. Meist während eines Zeitlimits von fünf bis sieben Minuten. Sie lassen sich feiern oder ertragen Schweigen, berühren ihr Publikum oder bringen es zum Lachen. Es wird geraucht, getrunken und geroastet. Manchmal ist es deep, fies, emotional, lustig und mal geht es rau zu und her. Und doch mögen sich in der Poetry-Slam-Szene – in der «Slamily» – alle gut leiden und freuen sich. Und wer gewinnt, erhält einen symbolischen Preis, früher eine Flasche Whiskey.
Antwort auf eine unsexy und inaktive Literaturszene
Nach St.Gallen geholt hat das Format vor 25 Jahren Lukas Hofstetter. Der St.Galler Event- und Kulturveranstalter ist damals auf der Suche nach neuen Veranstaltungsformaten für den Jugendkulturraum Flon. Parallel dazu publiziert Richi Küttel ein Spoken-Word-Literaturmagazin und tritt bei den offenen Vollmondlesungen auf, wo auch Etrit Hasler regelmässig liest. «Wir waren desillusioniert darüber, wie unsexy und inaktiv die Literaturszene war», so Hasler.
Auch Hofstetter ist an den Vollmondlesungen, um nach potenziellen Teilnehmer:innen für seinen geplanten Poetry Slam Ausschau zu halten. «Ich habe an verschiedenen Orten versucht, Leute zum Slammen zu überreden.» Hasler ist einer von denen, die zusagen. Und um zu sehen, worauf er sich eingelassen hat, will er im Vorfeld seinen ersten Slam in Zürich besuchen. «Allerdings war ich zu spät dran und der Veranstalter liess mich nicht rein.» Da eine angekündete Slammerin verspätet ist, schleicht er sich in ihrem Windschatten in die Lokalität und muss gleich auftreten, anstatt nur zuzuschauen. «Ich glaube, es dauerte 15 Jahre, bis ich einen Poetry Slam nur als Zuschauer besucht habe – ansonsten habe ich immer gelesen oder moderiert.»
Slammer schlägt Tocotronic
Der allererste vom Verein Slam Gallen organisierte Slam findet am 16. Dezember 2000 quasi im Vorprogramm von Jack Stoiker statt. «Das war eigentlich suizidal, weil sich der Stoiker-Fankreis aus vorwiegend lauten, biertrinkenden, grölenden Männern zusammensetzt. Aber sie haben sich erstaunlicherweise an dem Abend reinziehen lassen», sagt Hasler, der als Slammer der ersten Stunde gilt und heute als Geschäftsführer von Suissecultur Sociale wirkt.
Finalabstimmung am zweiten Slam im Flon: Etrit Hasler, Shqipton Rexhaj, Bubi Rufener (am Mikrofon), Daniel Ryser, Mathias Frei, Ivo Engeler, Samuel Lutz (von links).
2003 war der Poetry Slam am Openair St.Gallen.
Nach diesem Start kann sich Poetry Slam in St.Gallen etablieren, regelmässig finden Veranstaltungen in der Grabenhalle und im Flon statt. «Eines der ersten ganz grossen Highlights war, als wir 2003 am Openair St.Gallen einen Slam auf der Sternenbühne durchführen durften», sagt Hofstetter. Fast 5000 Leute sollen diesen besucht haben. Das SRF berichtete damals sogar, dass beim gleichzeitigen Auftritt von Tocotronic weniger Leute im Publikum gestanden hätten.
Poetry Slam wird immer beliebter – auch ausserhalb von St.Gallen. Doch in St.Gallen floriert das Genre und Slam -Gallen führt zahlreiche kreative und innovative Veranstaltungen durch. Darunter «Dead or Alive»-Slams in Zusammenarbeit mit dem Stadttheater, bei dem die Slammer als lebende Dichter:innen gegen tote Schriftsteller:innen – gespielt von Schauspieler:innen – antreten durften. Auch Veranstaltungen wie Jazz- und Erotikslams oder das Tatwort gehören zum St.Galler Slam-Repertoire.
«Eine riesen Gaudi war auch der Slam im Boxring», erinnert sich Richi Küttel, der dem neu aufkommenden Slam erst kritisch gegenübergestanden war, sich in einer «zweiten Welle» aber vollends dafür begeistern konnte und nebst dem Slammen und Moderieren auch die ersten Schweizer U20-Slams initiierte.
«Am Slam schätze ich die Nähe zum Publikum, die Respektlosigkeit der Sprache und die Verbundenheit unter den Slammern», so Küttel, der heute als Kulturvermittler tätig ist. Wie ein Rockstar habe er sich teilweise gefühlt, als er als aktiver Slammer einen Abend in Madrid, den nächsten in Düsseldorf und dann wieder in St.Gallen performt habe. Aus der aktiven Slamszene zog er sich allerdings zurück. «Es kamen die Kinder und die Kater dauerten einfach zu lange.»
Dass St.Gallen den Übernamen «Hochburg des Slams» erhielt, hält Küttel für eine Erfindung des «St.Galler Tagblatts». «Die haben das einfach immer geschrieben, und irgendwann haben es alle geglaubt.» Er sei immer der Überzeugung gewesen, dass auch in Zürich mindestens genau so viel laufe.
«Musste Hazel den Whiskey abnehmen»
Was die Ostschweizer Slamszene auszeichnet, sind zahlreiche Comedians, die aus ihr hervorgingen, etwa Lara Stoll, Renato Kaiser, Gabriel Vetter, Patti Basler oder auch Hazel Brugger. «Letztere war 17 Jahre alt, als sie in St.Gallen einen Slam gewonnen hatte – den Whiskey musste ich ihr dann schnell wieder abnehmen», erinnert sich Lukas Hofstetter.
Er hat den Poetry Slam nach St.Gallen gebracht: Lukas Hofstetter am Slam in der Frohegg vom 26. April 2002
Für Etrit Hasler zeichnet sich St.Gallen auch durch ein respektvolles Publikum aus: «Slams waren in der Anfangszeit auch feindselige Bühnenformate, bei denen das Publikum oft nur darauf wartete, den Slammer auszubuhen.» Nicht so in St.Gallen, hier galt seit Anbeginn «respect the poet». «Und bei ernsten Texten ist es im Saal teilweise so leise, dass man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hört», so Hasler. Hier sei man weder versnobt, noch wisse man alles besser.
Auch Slammerin Miriam Schöb schätzt den Humor der St.Galler:innen. «Mir wird oft gesagt, ich habe einen Nischenhumor – in St.Gallen kommt dieser super an», so die selbstständige Kulturschaffende. Schöb ist seit zehn Jahren aktive Slammerin. «Im Poetry Slam gibt es heute mehr Awareness, mehr Geschlechterdiversität und die Räume, in denen wir auftreten, sind sicherer geworden.»
Jubiläumsfeier am 20. Dezember
Slam ist nicht nur ein Spiegel der Gesellschaft, sondern auch kraftvoll. Was sich kürzlich an der deutschsprachigen Meisterschaft in der ostdeutschen Neonazihochburg Chemnitz zeigte. «Eine muslimische Frau mit Kopftuch hat diesen mit Abstand gewonnen», so Hofstetter. Und Hasler ergänzt: «Ihr Text war hässig, anklagend und stark – 1800 Personen sind aufgestanden zur Standing Ovation.»
Seit Corona ist es etwas harziger geworden, und die Locations sind nicht immer gleich gut gefüllt wie früher. Aber über Nachwuchsprobleme kann sich Slam Gallen nicht beklagen. «Vom 16-jährigen Newcomer bis hin zur pensionierten Ex-Bundesrats-Redenschreiberin ist alles dabei», so Hofstetter.
Am 20. Dezember in der Grabenhalle feiert Slamgallen dann sein 25-Jahr-Jubiläum mit allem, was Rang und Namen hat, darunter auch zahlreiche Ex-Slammer:innen, die einzig für das Jubiläum wieder auf die Bühne steigen.
25 Jahre Poetry Slam St.Gallen: 20. Dezember, 19.30 Uhr, Grabenhalle, St.Gallen; moderiert von Etrit Hasler und Richi Küttel, Grusswort von Stadtpräsidentin Maria Pappa.
slamgallen.ch