«Man kann auf einem Seil nicht gehen, aber Tyll probiert weiter.» Der kleine Müllerssohn ist aus hartem Holz geschnitzt. Er steigt auf und fällt, steigt auf und fällt, steigt auf und fällt. Der Krieg, der um ihn tobt, kann ihn von seinem Ziel nicht abhalten. Er kommt immer wieder davon.
Das Konzert und Theater St.Gallen zeigt in Tyll das Bühnenstück des gleichnamigen Erfolgsromans von Daniel Kehlmann. Die Ausgangslage: Europa befindet sich im Dreissigjährigen Krieg und Tyll Ulenspiegel ist mittendrin. Kehlmann bringt damit eine spätmittelalterliche Figur ins 17. Jahrhundert. Ein Kniff, der dem Publikum die Frage aufzwingt, wie wir Kriege wahrnehmen und mit ihnen umgehen.
Eigentlich hätte das Stück bereits im Februar gezeigt werden sollen. Aufgrund gesundheitlicher Ausfälle im Ensemble musste es verschoben werden. Doch auch dieses Mal hatte ein Ensemblemitglied Pech: Pascale Pfeuti erwischte zwei Tage vor der Premiere die Grippe. Sie hätte einen bedeutenden Teil in der Produktion gespielt und auch musikalische Beiträge übernommen. Manuel Herwig vom St.Galler Schauspielensemble und Jeanne Devos, Ensemblemitglied bei den Bühnen Bern, waren zwei lustvolle und überzeugende Ersatzspieler:innen.
Henkersmahlzeit für die Unschuld
Der junge Tyll (Lia Bayon Porter) muss fliehen. Vater Claus Ulenspiegel (Jürg Kienberger) trieb es mit seinen Fragen über das Leben, den Sinn und das Sein zu weit. Er gerät mit der Kirche in einen Konflikt und wird zum Tod verurteilt. Kienberger spielt die Rolle mit bewusst kauziger Verschrobenheit und sorgt damit für einige Lacher aus dem Publikum. Sein Henker (Martin Butzke) kocht ihm zwischen den beiden Publikumstribünen die Henkersmahlzeit. Eine buchstäblich köstliche Szene, die die Lokremise mit appetitlichem Essensduft füllt.
Die Henkersmahlzeit (Bild: pd/Tanja Dorendorf)
Die Hinrichtung (Bild: pd/Tanja Dorendorf)
Auf der anderen Seite richtet Athanasius Kircher (Manuel Herwig) über das teuflische Vergehen: «Und wenn Sie unschuldig sind? Tja – Unschuld beweist gar nichts!» Kircher kommt richtig in Fahrt, wird laut und fuchtelt mit den Armen unter seinem Kittel. Der gemütlich schmatzende Vater Ulenspiegel auf der anderen Seite: eine hervorragende Gegenüberstellung.
Kliby, Caroline und Krieg
Wie verhalten wir uns, wenn Krieg ist? Wenn Ordnung und Recht fehlen? In einem Religionskrieg sorgen Willkür, Aberglaube und Angst für ein beklemmendes Klima. Für die einfachen Leute, die überleben, sei es guttuend zu wissen, dass sie leben, während die grossen Krieger sterben. In dreissig Jahren Krieg entstehen grausliche Gewohnheiten, die ganze Generationen prägen. Und Tyll fragt sich: Was macht die Erde mit dem Blut, das in ihr versickert? «Wenn man sich an die Dunkelheit gewöhnt hat, entstehen Umrisse.»
Einen komischen Höhepunkt erreicht das Stück bei Tylls Roadshow. Auf einem Bühnenwagen spielt eine illustre Band Songs wie The Sound of Silence oder Should I Stay or Should I Go. Ein Kopf rollt davon und ein langer Strumpfhosenpenis schleift über den Boden. Die Szene gipfelt in einer Kliby-und-Caroline-Nummer, das Publikum ist ausser sich. Es ist vielleicht genau die Menge an Derbheit, die es braucht, um Krieg ertragen zu können.
Das Stück arbeitet mit viel Originaltext aus dem Roman. Der Abend ist in gewissen Momenten etwas unaufgeräumt und verwirrlich. Er verliert sich manchmal in langen Monologen und sprunghaften Übergängen und folgt keiner chronologischen Erzählstruktur. Wer das Buch mag, dürfte damit aber kein Problem haben. Tyll mit seinen roten Strümpfen sollte wohl auch sowas wie der rote Faden bilden. Die wirklich schillernden Figuren sind jedoch die Nebencharaktere. Das Stück überzeugt mit dem Humor, mit den grossartigen Kostümen (Sabine Blickenstorfer und Romy Rexheuser) und mit den vielfältigen musikalischen Einlagen unter der Leitung von Jürg Kienberger.
Tyll überlebt all seine Zeitgenoss:innen. Besser als friedlich zu sterben sei schliesslich, überhaupt nicht zu sterben.
Tyll: bis 11. Februar 2026, Konzert und Theater St.Gallen.