Verpackter Stoff und viele Fragen

Der verpackte Quilt (Bild: pd/Charlotte Leonie Hammann)

Ein Quilt, verpackt in Gepäckstücken: Seit dem 4. Juli wirft ein Künstler:innenkollektiv in der Lounge des Textilmuseums St.Gallen Fragen zu den kolonialen Verflechtungen der Bodenseeregion auf.

An ei­nem dün­nen Fa­den bau­melt ei­ne Post­kar­te von der De­cke her­ab. Un­ter ihr lie­gen fünf Ge­päck­stü­cke. Drei da­von sind of­fen und ge­ben den Blick auf bun­te Stoff­bah­nen frei. Zar­te Spit­ze, fei­nes Lei­nen, glit­zern­der Da­mast. Zu­sam­men­ge­näht, geta­ckert, be­stickt.

Ein Quilt. Ge­schaf­fen von ei­nem Künst­ler:in­nen­kol­lek­tiv der Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te Wien. Owú. Fil. Fa­den. Th­read. So heisst die In­stal­la­ti­on, die seit dem 4. Ju­li in der Lounge des Tex­til­mu­se­ums St.Gal­len zu se­hen ist. 

Der knapp 20 Me­ter lan­ge und drei Me­ter brei­te Quilt ist hier kom­pakt in Rei­se­ge­päck ver­packt. Als Gan­zes zu se­hen ist er nur auf der Post­kar­te und als Vi­deo­loop an der Wand. Das ir­ri­tiert zu­nächst et­was, da man ei­gent­lich den Quilt se­hen will. Doch die Ir­ri­ta­ti­on er­weist sich rasch als pro­duk­tiv, denn sie öff­net den Raum für Fra­gen. Wer darf über­haupt et­was zei­gen? Wer spricht? Wer hört zu und wer sieht hin?

Viel Quilt im Ober­ge­schoss

Die Wan­der­in­stal­la­ti­on Owú. Fil. Fa­den. Th­read ist ein er­gän­zen­des Pro­jekt zur Aus­stel­lung der 9. Quilt-Tri­en­na­le. Die Wer­ke der Tri­en­na­le sind der­zeit im Ober­ge­schoss des Mu­se­ums ver­sam­melt. Ein Wand­text er­klärt dort die Min­dest­an­for­de­run­gen für ei­nen Quilt – er muss min­des­tens aus drei Stoff­la­gen be­stehen.

Anja Schreurs Quilt (Bild: Vera Zatti)

Und dass ein Quilt weit mehr sein kann als Gro­sis Bett­über­wurf, zeigt schon ein kur­zer Blick in die Aus­stel­lung: Die 45 aus­ge­stell­ten Quilts sind be­ein­dru­ckend viel­fäl­ti­ge Kunst­wer­ke. Ne­ben­ein­an­der hän­gen sie vor grü­nem Vor­hang, ge­taucht in ge­dämpf­tes Licht. Ali­c­ja Koz­lows­kas Ver­damm­te Far­be er­in­nert an ein Graf­fi­ti, bei dem die nas­se Sprüh­far­be lang­sam die Wand run­ter­läuft. An­ja Schr­eurs drei­di­men­sio­na­les Ob­jekt Eis­bär, ich möch­te kein Eis­bär sein, im war­men Po­larwirkt wie ein schmel­zen­der Schnee­hau­fen (oder ein ver­rot­ten­der Eis­bär).

Die Dich­te der im Ober­ge­schoss ver­sam­mel­ten Wer­ke ist enorm. Der Aus­stel­lung­raum be­kommt selbst Quilt-Cha­rak­ter. Je­doch hemmt das en­ge Ne­ben­ein­an­der die Wir­kungs­kraft der ein­zel­nen Ex­po­na­te. 

Raum für Leer­stel­len

Ganz an­ders Owú. Fil. Fa­den. Th­read. Die gan­ze Lounge im Hoch­par­terre des Mu­se­ums steht der In­stal­la­ti­on zur Ver­fü­gung. 

Die In­sze­nie­rung «ver­kör­pert im wört­li­chen und über­tra­ge­nen Sin­ne das Ge­päck his­to­ri­scher Ver­bin­dun­gen so­wie das Po­ten­zi­al, et­was Neu­es zu schaf­fen», schreibt das Kol­lek­tiv auf An­fra­ge. Und das Mu­se­um er­gänzt in der Pres­se­mit­tei­lung: «Die Ge­päck­stü­cke tra­gen Stof­fe, Er­fah­run­gen, Ge­dan­ken und auch ein sym­bo­li­sches Ge­wicht; sie er­in­nern uns an Be­we­gung, Mi­gra­ti­on und Flucht. Sie trans­por­tie­ren Wa­ren, ma­chen Ge­schen­ke und as­sis­tie­ren im Schmug­gel, Ver­ste­cken und Wi­der­stand».

«Der Quilt als Ver­wei­ge­rung, als Bal­last», sagt die in La­gos und Wien le­ben­de Kunst- und Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin Ju­mo­ke San­wo an der Ver­nis­sa­ge. Da­bei scheint die Ent­schei­dung zur Ver­wei­ge­rung nicht nur ein künst­le­ri­scher, son­dern auch ein po­li­ti­scher An­satz zu sein, der das Pu­bli­kum zur Aus­ein­an­der­set­zung mit Leer­stel­len zwingt. Und Leer­stel­len gibt es ge­ra­de in der Ko­lo­nia­lis­mus­de­bat­te vie­le.

Ko­lo­nia­le Ex­port­schla­ger

Das zen­tra­le The­ma der In­stal­la­ti­on sind die ko­lo­nia­len Ver­flech­tun­gen der eu­ro­pä­isch-schwei­ze­ri­schen Tex­til­in­dus­trie, in der St.Gal­len ei­ne ge­wich­ti­ge Rol­le spiel­te. Das Kol­lek­tiv hat da­zu in­ten­siv in Ar­chi­ven ge­forscht und sich mit den his­to­ri­schen Ge­ge­ben­hei­ten aus­ein­an­der­ge­setzt. Die For­schungs­ar­beit und die dar­auf­fol­gen­de künst­le­ri­sche Ver­ar­bei­tung be­schreibt Ju­mo­ke San­wo an der Ver­nis­sa­ge als «das Durch­lö­chern der Ge­schich­te». 

Die Wissenschaftlerin erklärt, dass auch Spitze einen kolonialgeschichtlichen Hintergrund hat: Europäische Industriespitze verdrängte beispielsweise in Nigeria indigene Textiltraditionen und wurde zum Statussymbol. Für ihren künstlerischen Beitrag vernähte Sanwo Stoffe, die sie auf einem Textilmarkt in Lagos erwarb, und bestickte sie mit Auszügen aus Archivalien. Dadurch verdeutlicht sie eine globale Geschichte von Ausbeutung und Repräsentation.

Die ebenfalls an der Vernissage anwesende Zürcher Künstlerin Sasha Huber weist darauf hin, dass Schweizer Leinen nicht nur ein Exportschlager war. Es diente auch als Tauschware im transatlantischen Sklavenhandel sowie als Kleidung für versklavte Menschen auf amerikanischen Plantagen. In ihrem Beitrag Leiden für Leinen, für den sie unter anderem mit einer Tackerpistole arbeitete, verhandelt die Künstlerin mit haitianischen Wurzeln diese Thematik. «Die koloniale Wunde zusammennähen», sagt Huber über ihrer Arbeitsweise.

Mit der Installation Owú. Fil. Faden. Thread greift das Kollektiv die hochaktuelle Kolonialismusdebatte auf. Und auch wenn das koloniale Erbe der St.Galler Textilindustrie vielleicht nicht im Fokus des Kollektivs lag – präsent ist es dennoch. Zudem gibt das Kollektiv zum Jahresende eine Begleitpublikation heraus, an der auch der St.Galler Historiker Hans Fässler mit einem kollaborativen Beitrag beteiligt ist.

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Detailansicht der Installation (Bild: pd/Charlotte Leonie Hammann)

Anet­te Bald­auf, Mi­lou Ga­bri­el, Sa­sha Hu­ber, Ja­ni­ne Jem­be­re, Su­san­na De­lali Nu­wor­du, Es­ther Ojo, Ju­mo­ke San­wo, Ma­ria­ma Sow, Ka­tha­ri­na Wein­gart­ner – Owú. Fil. Fa­den. Th­rea: bis 14. Sep­tem­ber, Tex­til­mu­se­um St.Gal­len
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«9. Eu­ro­päi­sche Quilt-Tri­en­na­le»: bis 14. Sep­tem­ber, Tex­til­mu­se­um St.Gal­len
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