Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass in der Stadt St.Gallen neben Hollywood-Blockbustern auch anspruchsvollere und experimentelle Filme zum Premierenstart im Kinosaal zu sehen sind. Dass dem so ist, ist das Verdienst des Kinok in der Lokremise. Die Wurzeln des heute grössten und bedeutendsten Programm- und Arthouse-Kinos der Ostschweiz reichen bis in die bewegte Zeit der späten 1970er-Jahre zurück. Damals war die Kinosituation in St.Gallen eine ganz andere als heute.
Nicht, dass es in Güllen, wie St.Gallen in der Alternativszene in Anlehnung an Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatts heisst, zu wenig Kinosäle gegeben hätte. Es war eher das Gegenteil der Fall. Das Programm der vorhandenen Kinos war aber mit seltenen Ausnahmen auf Mainstream und Kommerz ausgerichtet. Experimentelles, kritisches und linkes Kino fand in St.Gallen nicht statt. Wer Filme von Richard Dindo und Fredi M. Murer, wer Klassiker, die Filmgeschichte geschrieben haben, oder wer Studiofilme auf der grossen Leinwand sehen wollte, musste nach Zürich ausweichen.
Dass es in St.Gallen durchaus ein Bedürfnis nach gutem und politischem Film gab, belegen Versuche von Gruppen und Einzelnen mit Filmvorführungen. So zeigte etwa die «Steinschleuder» im Juni 1979 im Kino Storchen (das noch nicht dem späteren lokalen Kinomonopolisten Franz Anton Brüni gehörte) den Streifen Montana Sacra (1973) von Alejandro Jodorowsky. In der Alternativbeiz «Posthalle» an der Langgasse flimmerte im Juli 1980 «ein heisser Film über die Zürcher Krawalle mit Live-Punk-Rock-Sound» über die Leinwand.
Auch im AJZ im Bleicheli – eröffnet im März 1981 und abgebrannt im Oktober desselben Jahres – sind Filmvorführungen dokumentiert. Dabei ging es um die Jugendunruhen, die Wohnungsnot und Bauspekulation. Am 10. April etwa wurde der Dokumentarfilm Zwischen Betonfahrten (1980) von Pius Morger gezeigt. Am 24. April präsentierte die Aktion «Läbigs Bleicheli» einen Film «über Spekulation und Städtebau». Und an einer Aktionswoche im August standen Filme gegen Spekulanten am Beispiel von Wiedikon, über den Kampf gegen AKWs in Gösgen und Kaiseraugst sowie «eine Super-8-Nacht» mit Filmen des Publikums («Bringt eure eigenen Filme mit!») auf dem Programm.
Filmklassiker im Wasser und im Schnee
Die Geschichte des Kinok beginnt 1982 mit «Kinoki Güllen». Der Verein wurde am 14. April 1982 gegründet. Die Statuten hatten neun Artikel und waren unterschrieben von Felix Kälin, Peter Kamm und Hugo «Budaz» Keller. Der Begriff Kinoki geht auf eine Gruppe junger sowjetischer Filmpioniere um Regisseur und Medientheoretiker Dziga Vertov (1896–1954) zurück. Er stammt aus dem Russischen und ist eine Zusammensetzung aus den Wörtern Kino und Auge. Mit dem Kinoauge war das Kameraobjektiv gemeint, das die Realität abbildet.
«Kinoki Güllen» zeigte 1982, 1983 und 1984 Filme an wechselnden und ungewöhnlichen Orten der Stadt St.Gallen. Darunter waren viele klassische Produktionen aus der Sowjetunion. Der erste Film war Alexander Newski (1938) von Sergej M. Eisenstein im Volksbad. Das Publikum plantschte während der Filmvorführung im Schwimmbecken oder sass fröstelnd und etwas verlegen an dessen Rand, wie ein Zeitungsbericht aus jener Zeit notierte.
In den Unterlagen des Stadtarchivs St.Gallen sind weitere sechs Filmabende dokumentiert. Sie fanden in der Kehrichtverbrennungsanlage, in der Grabenhalle, in der Kaverne des Kraftwerks Kubel, im ehemaligen Kieswerk Wägenwald, in der ehemaligen «Volksstimme»-Druckerei beim Spisertor und auf dem verschneiten Freudenberg statt. Gerade der Abend auf dem Freudenberg ist vielen Zuschauer:innen als «wunderschöner Anlass» im Gedächtnis geblieben.
Sally Potters Orlando mit Tilda Swinton ist am 9. November im Kinok zu sehen.
Am 9. Februar 1984 wurde der Stummfilm Sturm über Asien (1928) von Wsewolod Pudowkin beim Seelenhof auf ein Schneefeld projiziert. Lacher gabs während des Films für Eliosch, den ins Bild spazierenden Maremma-Schäferhund von Steff Schwald. Die abschliessende Lichtschau mit viel Feuer und Rauch stammte von Roman Signer. Die Filmabende der Kinoki hatten rasch ihr Publikum: Zwischen 70 (in der verregneten Kiesgrube) und 250 Personen (in der Grabenhalle) kamen jeweils.
Eine andere Spur legten parallel zu den Kinoki die Offra-Frauen (Organisation für die Sache der Frau) mit Frauenfilmen im Kino Storchen. Darunter war als eine der Kuratorinnen des Programms Monika Lieberherr, eine der späteren Mitbegründerinnen des K59.
Bewegte Zeiten, langlebige Projekte
«Die Zeit war reif, es galt die Stadt zu erobern und sie eigenmächtig zu bespielen», würdigt Sabin Schreiber 2010 in einem Text zum 25. Geburtstag die Gründungsperiode des Kinok. «In der bewegten Subkultur der Achtziger mischten sich ästhetische und politische Bedürfnisse. Aus dieser Aufbruch- und Gründerstimmung heraus entstanden Projekte und Institutionen, die heute noch Bestand haben: Grabenhalle, Engel, Kunsthalle, Frauenbibliothek.» Zu diesen Institutionen zählt auch 40 Jahre nach seinem Start natürlich immer noch das Kinok.
Im März 1985 gründeten die Kinokis und weitere Interessierte in der Spanischen Weinhalle an der Kugelgasse den Verein K59, wobei 59 für die Summe der damals gängigen Filmformate stand: 8, 16 und 35 Millimeter. Im ehemaligen Quartierkino Apollo an der Grossackerstrasse fand der Verein ein für Kinovorstellungen geeignetes Lokal, das mit viel Fronarbeit und einfachen Mitteln hergerichtet wurde. Erstmals «Film ab!» hiess es dann im Kino K59 in St.Fiden am 23. November 1985.
Dass es so weit kam, war auch politischer Vorarbeit zu verdanken – unter anderem vom damaligen SP-Gemeinderat und späteren National- und Ständerat Paul Rechsteiner. 1983 erwarb Franz Anton Brüni die Schulthess-Kinos, womit das Kinomonopol in St.Gallen Tatsache wurde. Der politische Druck, alternatives Kino mit öffentlichen Mitteln zu ermöglichen, stieg damit. Druck baute auch der immer wieder zu hörende Vorwurf auf, dass Stadt und Kanton in den frühen 1980ern für arrivierte Kultur Millionen, für Alternativkultur kaum etwas ausgäben.
Für die Testphase im neuen Lokal in St.Fiden erhielt der Verein K59 schliesslich über 100’000 Franken von Stadt und Kanton. Ab 1987 subventionierte die Stadt das Studiokino mit jährlich 70’000 Franken. Andere Einnahmequellen waren der Billettverkauf und Mitgliederbeiträge. Dazu kamen unzählige Stunden Gratisarbeit, wie sich Franco Carrer erinnert. Er stiess im Dezember 1986 zur K59-Crew, lernte das Handwerk des Operateurs, das er bis heute in Teilzeit im Kinok ausübt. Als gelernter Innenarchitekt plante Carrer den Umbau des alten Kinos. Dessen Neueröffnung fand im Juni 1987 statt.
Skandale und ein Dauerstreit
Die ersten Jahre des K59 waren eine Zeit, in der Kino anecken und Kontroversen im Lokalteil der Tageszeitungen auslösen konnte. 1986 füllte die K59-Aufführung von Das Gespenst (1982) von Herbert Achternbusch die Spalten der Tageszeitung «Die Ostschweiz» mit Leserbriefen empörter katholischer Moralist:innen. Als Reaktion, dass The Last Temptation of Christ (1988) von Martin Scorsese gezeigt wurde, unternahm ein CVP-Kantonsrat den Versuch, weitere Kantonsbeiträge fürs Alternativkino zu unterbinden. Dass sich das K59 1989 solidarisch mit den Besetzer:innen des Hotels Hecht zeigte, stiess wiederum dem Chef des kantonalen Amtes für Kultur sauer auf.
Teil des ersten Jahrzehnts von K59 und Kinok war auch ein Dauerstreit mit Franz Anton Brüni, dem ab 1983 alle anderen Kinosäle der Stadt gehörten. Der Begriff Kinomonopol und die öffentlichen Gelder für die alternative Konkurrenz stiessen Brüni sauer auf. Das Team des K59 wiederum nervte, dass Brüni Druck auf Filmverleiher aufsetzte und Streifen reservierte, die er nie zeigte, etwa 1985 M (1931) von Fritz Lang, The Element of Crime (1984) von Lars von Trier oder die Filme von Luis Buñuel.
Die Fronten waren klar gezogen. Eine friedliche Koexistenz von David und Goliath, von Filmkunst und Kommerz schien nicht möglich. Ab den frühen 1990er-Jahren verschwammen die Trennlinien aber überraschend schnell. So landeten im Programm von Franz Anton Brüni ziemlich rasch nach Gründung des K59 vermehrt auch anspruchsvollere Filme. Dies unter dem Eindruck des Erfolgs des alternativen Vorstadtkinos sowie aufgrund von Veränderungen im Filmmarkt. Das K59 anderseits musste sich öffnen, um das Image des nicht mehr ganz zeitgemässen Alternativkinos abzuschütteln. Das Verhältnis entspannte sich dadurch etwas.
Zum Jubiläum zeigt das Kinok am 11. November auch Chungking Express von Wong Kar-Wai aus dem Jahr 1994.
Und Prinzessin Mononoke am 19. November - der fünfte und in Europa bekannteste Film des Ghibli-Studios.
Im Oktober 1990 taufte sich das K59 in Kinok um. Die Umbenennung erfolgte nach 59 Monaten Betrieb, wie sich Franco Carrer erinnert: «Wir hatten das Gefühl, nun dieses 59 weglassen zu können, um mit dem neuen Namen einen näheren Bezug zu unseren Ursprüngen, die Kinokis, zu schaffen.» Die Leitung des Betriebs wechselte in den ersten Jahren regelmässig. Unter anderem hatten sie Jörg Eigenmann, Herbert Wüst, Franco Carrer, Bruno Pellandini, Roger Walch und Sabina Brocal inne. Der Betrieb war stark kollektiv geprägt.
Ein nächster wichtiger Schritt nach der Umbenennung war in den 1990er-Jahren der Anlauf für eine gewisse Professionalisierung. Die Kinok-Leitung wurde als feste Stelle im Personalplan definiert. 1998 trat Sandra Meier diese Stelle an. Das war der Startschuss zu einer neuen Phase der Kinok-Geschichte. Infolge der Professionalisierung unter Meiers Leitung setzte das Kinok zu einem neuen Höhenflug an.
Zurück zu den Wurzeln und Aufbruch in eine neue Epoche
Dank ideenreicher und inspirierter Programmierung stiegen trotz der ungünstigen Lage des Kinosaals an der östlichen Peripherie der Innenstadt die Eintrittszahlen deutlich an. Für 1997 etwa vermeldete der Kinok-Jahresbericht 5692, für 2000 bereits 12'278 Eintritte. 2008 wurde mit 18'023 Besucher:innen der Höchststand für die Periode in St.Fiden erreicht. Mit ein Faktor dafür war, dass die Kinok-Macher:innen zurück zu den Wurzeln gingen und Veranstaltungen ausserhalb des eigenen Kinosaals forcierten. Gesucht wurde auch die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Zwischen 2002 und 2008 wurden bei Anlässen mit unterschiedlichen Partnern rund 100 Filme an unterschiedlichen Orten gezeigt. Sandra Meier hatte auch immer grosse Lust auf Expanded-Cinema-Formate, die den Kinoraum sprengen. Dazu gehörten unter anderem Doppel- und Mehrfachprojektionen im Nextex und im Provisorium der Lokremise, ein Winter-Open-Air im Botanischen Garten oder Open-Air-Vorführungen im Provisorium der Lokremise.
Die Organisation dieser Anlässe sei aufwändig gewesen, erinnert sich Sandra Meier. Und es sei ein Kraftakt gewesen, sie mit sehr beschränkten Ressourcen parallel zum Betrieb an der Grossackerstrasse auf die Beine zu stellen. Ohne Unterstützung und Know‑how durch die 2005 zum Kinok gestossene Brigitte Kemmann wäre die reichhaltige Bespielung zweier Standorte und der Umzug in die Lokremise nicht möglich gewesen.
In eine neue Ära startete das Kinok im Herbst 2010. Kanton und Stadt bauten die Lokremise hinter dem Hauptbahnhof nach einer umkämpften Volksabstimmung zum Kulturzentrum um. Sandra Meier sah von Anfang an die grosse Chance fürs Kinok, bei dem Projekt dabei zu sein, da der aktuelle Standort abseits des Stadtzentrums keine Entwicklungsmöglichkeiten bot. Die Lokremise sei wie ein Sechser im Lotto gewesen, sagt die Kinok-Leiterin im Rückblick. Dadurch habe man die räumlich knappe und technisch überholte Infrastruktur in St.Fiden verlassen können.
Am 26. November ist im Kinok Stranger Than Paradise zu sehen. Ein frühes Werk von Jim Jarmusch, eigentlich als Kurzfilm gedacht und komplett in schwarzweiss gedreht.
Deshalb sei das Projekt in der Lokremise ein Glücksfall gewesen. Wobei das mit dem Glücksfall für beide Seiten gilt: Das Kinok hat sich in den ersten 15 Jahren im Ringbau, der einst als Garage für Lokomotiven diente, zum Publikumsmotor des Kulturzentrums entwickelt. 2011, im ersten vollen Jahr in der Lokremise, wurden 29’995 Kinoeintritte gezählt. Im Rekordjahr 2024 wuchs diese Zahl auf 65’448 Besucher:innen. Das Programm, das seit den Anfängen stetig ausgebaut wurde, wartet heute werktags mit vier bis fünf, am Samstag und Sonntag mit fünf bis sechs Vorstellungen auf.
Gesucht: Junge Kinogänger:innen
Auch wenn es das Kinok derzeit nicht zu spüren scheint: Das Kino befindet sich weltweit aufgrund neuer Gewohnheiten beim Medienkonsum in der Krise. Sandra Meier macht sich deswegen für das grösste Programm- und Arthouse-Kino der Ostschweiz aber keine Sorgen: «In den nächsten 20 Jahren wird das Kino nach wie vor funktionieren.» Dies dank der aktuellen Generation der Eltern und Grosseltern, die mit der Leinwand aufgewachsen seien. Was danach komme, sei tatsächlich offen und hänge davon ab, ob es gelinge, die Jungen wieder in grösserer Zahl ins Kino zu locken.
Zuversichtlich ist Sandra Meier, dass das Kinok den bevorstehenden Generationenwechsel bei seinen
Macher:innen gut bewältigen wird. Die heutigen Akteur:innen hätten die bewegte Zeit der Achtziger und die Pionierphase des Kinok noch selber miterlebt. Auf die nächste Generation warteten andere Herausforderungen und Aufgaben. Das Kinok sei heute ein etablierter, gefestigter und geschätzter Betrieb. Sie habe daher keine Angst: «Es gibt viele gut ausgebildete Leute, die sich gerne mit neuen Ideen und Herzblut für eine so schöne Sache engagieren wollen.»
Sorgen bereiten der Leiterin eher die aktuellen Tendenzen zur Knausrigkeit in der Kulturpolitik. Das Beispiel des Kinok und der Lokremise zeige exemplarisch, dass sich Investitionen in Kulturprojekte und ihre Infrastruktur lohnten. Kulturbauten gehörten allen, es seien demokratische Orte. Die Kultur brauche «schöne Orte». Sie drückten Wertschätzung gegenüber dem Publikum und der Kultur aus, trügen zur Attraktivität der Städte bei und zögen eine grosse Zahl Gäste an.
So ein Projekt wie die Lokremise ohne die finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand auf die Beine zu stellen und zu betreiben, sei unmöglich, betont Sandra Meier. Orte wie die Lokremise seien aber für den Zusammenhalt unserer immer mehr fragmentierten Gesellschaft wichtig. Gerade das Kino sei ein öffentlicher Ort, der allen offenstehe und an dem sich die sozialen Schichten mischten. Es sei ein Ort für alle – ein Treffpunkt, ein Fluchtort, ein Reflexionsort und ein Ort für Debatten in einem.
40 Jahre Kinok Jubiläumsfeier: 14. November, 20 Uhr
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