Wo ist mein Platz in dieser Welt?

Die Fotografin Thi My Lien Nguyen  (Bild: Michael Lünstroth)

Kann man mit etwas verbunden und gleichzeitig frei davon sein? Die Fotografin Thi My Lien Nguyen zeigt im Kunstmuseum Thurgau die bitter-süssen Momente der Rückkehr in vergangene Heimaten. 

Wenn wir an ei­nen Ort zu­rück­keh­ren, den wir frü­her mal Hei­mat ge­nannt ha­ben, dann brei­tet sich sehr oft ein ziem­lich wil­der Ge­fühls­mix tief in der Ma­gen­gru­be aus: Ir­gend­was zwi­schen süss und bit­ter, lus­tig und trau­rig, weh­mü­tig und skep­tisch. Am tref­fends­ten um­schreibt es wohl das eng­li­sche Wort «awk­ward», das so viel mehr als «selt­sam» oder «schräg» be­deu­tet. Weil es auch den Weg be­schreibt, das ir­gend­was in die fal­sche Rich­tung ge­lau­fen ist. Oder an­ders ge­sagt: Dass et­was, das mal pass­te, sich jetzt viel­leicht nicht mehr zu­sam­men­fügt. Rück­kehr – das kann ein sehr kom­pli­zier­ter Ge­fühls­cock­tail sein. Mal wohl­schme­ckend, mal eher so, dass man da­von auf­stos­sen muss. 

Um all die­se sehr uni­ver­sell nach­fühl­ba­ren Fa­cet­ten der Rück­kehr dreht sich auch die neue Aus­stel­lung der Fo­to­gra­fin Thi My Li­en Nguy­en im Kunst­mu­se­um Thur­gau. «Ges­tu­res of Re­turn» heisst die ers­te Ein­zel­aus­stel­lung der 30-jäh­ri­gen Fo­to- und Vi­deo­gra­fin in ih­rem Hei­mat­kan­ton. 1995 kam sie in Münst­leringen zur Welt, auf­ge­wach­sen ist sie in Am­ris­wil. Ei­gent­lich woll­te sie Jour­na­lis­tin wer­den, aber die Ar­beits­be­din­gun­gen in der Me­di­en­bran­che ha­ben sie da­von ab­ge­bracht. Heu­te lebt und ar­bei­tet sie in Win­ter­thur. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren hat sie un­ter an­de­rem im Kunst(Zeug)Haus Rap­pers­wil-Jo­na, in der Co­al­mi­ne Win­ter­thur und im Kunst­mu­se­um St. Gal­len aus­ge­stellt.

Wie ei­ne Neu­ent­de­ckung der al­ten Hei­mat

Im Thur­gau­er Kunst­mu­se­um zeigt Thi My Li­en Nguy­en nun Fo­to­gra­fien, die über meh­re­re Jah­re hin­weg an ver­schie­de­nen Or­ten ent­stan­den sind. Prä­gend da­für war, so er­klärt es die Fo­to­gra­fin bei ei­nem Rund­gang durch die Aus­stel­lung, ein Auf­ent­halt in Viet­nam im Rah­men ei­nes Ar­tist-in-Re­si­den­cy-Pro­gramms von Pro Hel­ve­tia. «Wäh­rend die­ser Zeit frag­te ich mich: Wie kann Mensch über­haupt zu­rück­keh­ren be­zie­hungs­wei­se heim­keh­ren? Wo­hin kehrt Mensch zu­rück? Und was oder wen ha­be ich zu­rück­ge­las­sen?»

Thi My Lien Nguyens  Gestures of Return I (Bild:ProLitteris, Zürich)

Tat­säch­lich muss das für die 30-Jäh­ri­ge ein ein­schnei­den­des Er­leb­nis ge­we­sen sein. Schliess­lich ist sie in der Schweiz ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen. Ih­re El­tern wa­ren 1979 samt Gross­el­tern vor dem Viet­nam­krieg aus La­os ge­flo­hen und stan­den da­mals – nach dra­ma­ti­schen Er­leb­nis­sen auf der Flucht und in Flücht­lings­la­gern – vor ei­nem neu­en Le­ben. Zwar brach­ten ih­re El­tern und Gross­el­tern ihr die Sit­ten und Bräu­che der viet­na­me­si­schen Kul­tur auch in der neu­en Hei­mat bei, aber trotz­dem blieb Thi My Li­en Nguy­en im­mer ei­ne Wand­le­rin zwi­schen den Kul­tu­ren. Denn so sehr sie die Tra­di­tio­nen ih­rer Vor­fah­ren re­spek­tie­ren und pfle­gen woll­te, so sehr woll­te sie doch auch in ih­rem Le­ben in der Schweiz an­kom­men.

Die Fo­tos, die Nguy­en jetzt im Thur­gau­er Kunst­mu­se­um zeigt, sind viel­leicht auch des­halb von ei­nem ge­wis­sen Ent­de­cker­geist ge­prägt. «Ich bin ei­ne Samm­le­rin von Spu­ren», wird die Künst­le­rin in der eben­falls zur Aus­stel­lung ge­hö­ren­den Vi­deo­ar­beit «Fruits to of­fer» sa­gen. Und das trifft es ziem­lich gut.

Be­wuss­ter Ver­zicht auf Rah­men

Die Fo­to­gra­fin be­ob­ach­tet Ri­tua­le, hält Mo­men­te und Si­tua­tio­nen fest und zeigt den Vi­be der viet­na­me­si­schen Kul­tur und Tra­di­ti­on auf ih­re ganz ei­ge­ne Wei­se. Nicht exo­ti­sie­rend, aber auch nicht rein do­ku­men­ta­risch. Nguy­ens Blick ist eher neu­gie­rig, stau­nend und mit­füh­lend. «Mit der Ka­me­ra zu ar­bei­ten, be­deu­tet für mich im­mer auch in­ne­zu­hal­ten - ei­nen Schritt zu­rück­zu­ma­chend und mich zu fra­gen: Was be­deu­tet die­se Sze­ne, die­se Ges­te für mich? Für an­de­re? Für mei­ne Fa­mi­lie? Wenn ich Ar­bei­ten aus­wäh­le, sie in Be­zie­hung zu­ein­an­der set­ze und öf­fent­lich zei­ge be­ginnt ei­ne neue Aus­ein­an­der­set­zung», sagt Thi My Li­en Nguy­en.

Die ein­zel­nen Ar­bei­ten sind we­der ge­rahmt, noch hin­ter Glas. Sie hän­gen wie Fah­nen von der Wand her­ab. Ei­ne be­wuss­te Ent­schei­dung, wie die Fo­to­gra­fin er­klärt. «Ich woll­te da­mit kei­ne fes­te Set­zung ma­chen, son­dern eher das Pro­zess­haf­te her­vor­he­ben. Die Ar­bei­ten sol­len un­mit­tel­bar zu­gäng­lich sein und kör­per­lich spür­bar wer­den, oh­ne Glas und Kas­ten da­zwi­schen», sagt Thi My Li­en Nguy­en.

Wie kehrt man an ei­nen Ort zu­rück, an dem man noch nie war?

Die Aus­stel­lung zeigt De­tail­auf­nah­men von Trau­er­ri­tua­len wie dem Ver­bren­nen von Papp­ma­ché-Klei­dung oder von so ge­nann­tem «Joss mo­ney» aus Pa­pier. Bei­des Hand­lun­gen, die in der viet­na­me­si­schen Kul­tur si­cher­stel­len sol­len, dass die oder der Ver­stor­be­ne im Jen­seits aus­rei­chend ver­sorgt ist. Ei­ne Form der tran­szen­den­ta­len Für­sor­ge, ei­ne Ges­te des Re­spekts, wenn man so will. 

Und ge­nau dar­um geht es der Fo­to­gra­fin ja auch in der Aus­stel­lung - die klei­nen Ges­ten des All­tags. Des­halb der Ti­tel der Aus­stel­lung «Ges­tu­res of Re­turn». «Ich bin in ei­ner Kul­tur auf­ge­wach­sen, in der nicht so viel ge­re­det wird, aber über Ges­ten sehr viel aus­ge­drückt wird», er­klärt die 30-Jäh­ri­ge ih­ren Zu­gang zum The­ma. 

Das stärks­te Bild der Aus­stel­lung hat was Su­per­hel­den­haf­tes

Ne­ben den re­li­giö­sen Sze­nen zeigt die Fo­to­gra­fin in It­tin­gen aber auch at­mo­sphä­ri­sche All­tags­sze­nen. Ge­deck­te Steh­ti­sche vor ei­nem Fest, ei­ne Bar ir­gend­wo in Viet­nam mit fröh­li­chen Men­schen oder auch der nächt­li­che Mo­ment, in dem Nguy­en am viet­na­me­si­schen Neu­jahrs­fest mit ih­rer Tan­te durch ei­ne men­schen­lee­re Gas­se geht. Die Tan­te vor­aus, den Ba­de­man­tel um­ge­hängt, er weht fast wie ein Su­per­hel­den-Cape. 

untitled aus dem Jahr 2024 (Bild: Thi My Lien Nguyen)

Ein flüch­ti­ger Mo­ment nur und doch ei­ner der im Ge­dächt­nis der Be­trach­ter:in­nen blei­ben wird. Es liegt so viel in die­sem Fo­to: Nä­he und Fremd­heit, Zu­nei­gung und Skep­sis, Dun­kel­heit und Hel­lig­keit. Viel­leicht das stärks­te Fo­to der Aus­stel­lung, weil es wie die Es­senz der ge­sam­ten Schau wirkt.

Die im ers­ten Saal im­pli­zit ge­stell­ten Fra­gen («Al­le Bil­der sind Ein­la­dun­gen an die Be­trach­ter:in­nen, es selbst zu se­hen», sagt die Fo­to­gra­fin), ver­tieft die Künst­le­rin in den wei­te­ren Ar­bei­ten der Aus­stel­lung. Wäh­rend sie in der Fo­to­se­rie «Long Re­turns» über fa­mi­liä­re Ver­bin­dun­gen und Zu­ge­hö­rig­keit über geo­gra­fi­sche Di­stan­zen nach­denkt, fasst sie in dem Vi­deo «Fruits to of­fer» so et­was wie ih­re ei­ge­ne klei­ne Phi­lo­so­phie der Rück­kehr zu­sam­men. 

Ei­ne poe­ti­sche Phi­lo­so­phie über die Kom­ple­xi­tät von Rück­kehr­pro­zes­sen

Sze­nen aus dem viet­na­me­si­schen All­tag und von be­son­de­ren Ri­tua­len kon­tras­tiert sie mit ih­rer Stim­me aus dem Off über ih­re sehr per­sön­li­chen Ge­dan­ken und Ge­füh­le vor der Rück­kehr in die Hei­mat ih­rer Fa­mi­lie. Sie ver­sucht dar­in auch ih­ren ei­ge­nen Platz in der Welt zu fin­den.

Thi My Li­en Nguy­en bei die­sem Rin­gen um die ei­ge­ne Selbst­be­stim­mung zu­zu­hö­ren, be­rührt un­mit­tel­bar. Weil es au­then­tisch ist, weil ih­re Spra­che poe­tisch ist und weil sie Fra­gen auf­wirft, die wir uns al­le stel­len (Wo­her kom­me ich? Wie fin­de ich mei­nen Platz auf die­ser Welt? Wie kann ich mit et­was ver­bun­den und gleich­zei­tig frei da­von sein?) «Rück­kehr be­zieht sich manch­mal nicht auf ei­nen Ort. Son­dern eher dar­auf, ei­ne frü­he­re Ver­si­on von dir selbst wie­der zu tref­fen.» 

Viel bes­ser kann man die am­bi­va­len­te Kom­ple­xi­tät von Rei­sen in die ei­ge­ne Ver­gan­gen­heit nicht be­schrei­ben.

(Die­ser Ar­ti­kel er­schien am 5. Ju­ni 2025 auf Thur­gau Kul­tur)

Thi My Li­en Nguy­en – «Ges­tu­res of Re­turn»: bis 9. No­vem­ber, Kunst­mu­se­um Thur­gau 
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