Wenn wir an einen Ort zurückkehren, den wir früher mal Heimat genannt haben, dann breitet sich sehr oft ein ziemlich wilder Gefühlsmix tief in der Magengrube aus: Irgendwas zwischen süss und bitter, lustig und traurig, wehmütig und skeptisch. Am treffendsten umschreibt es wohl das englische Wort «awkward», das so viel mehr als «seltsam» oder «schräg» bedeutet. Weil es auch den Weg beschreibt, das irgendwas in die falsche Richtung gelaufen ist. Oder anders gesagt: Dass etwas, das mal passte, sich jetzt vielleicht nicht mehr zusammenfügt. Rückkehr – das kann ein sehr komplizierter Gefühlscocktail sein. Mal wohlschmeckend, mal eher so, dass man davon aufstossen muss.
Um all diese sehr universell nachfühlbaren Facetten der Rückkehr dreht sich auch die neue Ausstellung der Fotografin Thi My Lien Nguyen im Kunstmuseum Thurgau. «Gestures of Return» heisst die erste Einzelausstellung der 30-jährigen Foto- und Videografin in ihrem Heimatkanton. 1995 kam sie in Münstleringen zur Welt, aufgewachsen ist sie in Amriswil. Eigentlich wollte sie Journalistin werden, aber die Arbeitsbedingungen in der Medienbranche haben sie davon abgebracht. Heute lebt und arbeitet sie in Winterthur. In den vergangenen Jahren hat sie unter anderem im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona, in der Coalmine Winterthur und im Kunstmuseum St. Gallen ausgestellt.
Wie eine Neuentdeckung der alten Heimat
Im Thurgauer Kunstmuseum zeigt Thi My Lien Nguyen nun Fotografien, die über mehrere Jahre hinweg an verschiedenen Orten entstanden sind. Prägend dafür war, so erklärt es die Fotografin bei einem Rundgang durch die Ausstellung, ein Aufenthalt in Vietnam im Rahmen eines Artist-in-Residency-Programms von Pro Helvetia. «Während dieser Zeit fragte ich mich: Wie kann Mensch überhaupt zurückkehren beziehungsweise heimkehren? Wohin kehrt Mensch zurück? Und was oder wen habe ich zurückgelassen?»

Thi My Lien Nguyens Gestures of Return I (Bild:ProLitteris, Zürich)
Tatsächlich muss das für die 30-Jährige ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein. Schliesslich ist sie in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern waren 1979 samt Grosseltern vor dem Vietnamkrieg aus Laos geflohen und standen damals – nach dramatischen Erlebnissen auf der Flucht und in Flüchtlingslagern – vor einem neuen Leben. Zwar brachten ihre Eltern und Grosseltern ihr die Sitten und Bräuche der vietnamesischen Kultur auch in der neuen Heimat bei, aber trotzdem blieb Thi My Lien Nguyen immer eine Wandlerin zwischen den Kulturen. Denn so sehr sie die Traditionen ihrer Vorfahren respektieren und pflegen wollte, so sehr wollte sie doch auch in ihrem Leben in der Schweiz ankommen.
Die Fotos, die Nguyen jetzt im Thurgauer Kunstmuseum zeigt, sind vielleicht auch deshalb von einem gewissen Entdeckergeist geprägt. «Ich bin eine Sammlerin von Spuren», wird die Künstlerin in der ebenfalls zur Ausstellung gehörenden Videoarbeit «Fruits to offer» sagen. Und das trifft es ziemlich gut.
Bewusster Verzicht auf Rahmen
Die Fotografin beobachtet Rituale, hält Momente und Situationen fest und zeigt den Vibe der vietnamesischen Kultur und Tradition auf ihre ganz eigene Weise. Nicht exotisierend, aber auch nicht rein dokumentarisch. Nguyens Blick ist eher neugierig, staunend und mitfühlend. «Mit der Kamera zu arbeiten, bedeutet für mich immer auch innezuhalten - einen Schritt zurückzumachend und mich zu fragen: Was bedeutet diese Szene, diese Geste für mich? Für andere? Für meine Familie? Wenn ich Arbeiten auswähle, sie in Beziehung zueinander setze und öffentlich zeige beginnt eine neue Auseinandersetzung», sagt Thi My Lien Nguyen.
Die einzelnen Arbeiten sind weder gerahmt, noch hinter Glas. Sie hängen wie Fahnen von der Wand herab. Eine bewusste Entscheidung, wie die Fotografin erklärt. «Ich wollte damit keine feste Setzung machen, sondern eher das Prozesshafte hervorheben. Die Arbeiten sollen unmittelbar zugänglich sein und körperlich spürbar werden, ohne Glas und Kasten dazwischen», sagt Thi My Lien Nguyen.
Wie kehrt man an einen Ort zurück, an dem man noch nie war?
Die Ausstellung zeigt Detailaufnahmen von Trauerritualen wie dem Verbrennen von Pappmaché-Kleidung oder von so genanntem «Joss money» aus Papier. Beides Handlungen, die in der vietnamesischen Kultur sicherstellen sollen, dass die oder der Verstorbene im Jenseits ausreichend versorgt ist. Eine Form der transzendentalen Fürsorge, eine Geste des Respekts, wenn man so will.
Und genau darum geht es der Fotografin ja auch in der Ausstellung - die kleinen Gesten des Alltags. Deshalb der Titel der Ausstellung «Gestures of Return». «Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, in der nicht so viel geredet wird, aber über Gesten sehr viel ausgedrückt wird», erklärt die 30-Jährige ihren Zugang zum Thema.
Das stärkste Bild der Ausstellung hat was Superheldenhaftes
Neben den religiösen Szenen zeigt die Fotografin in Ittingen aber auch atmosphärische Alltagsszenen. Gedeckte Stehtische vor einem Fest, eine Bar irgendwo in Vietnam mit fröhlichen Menschen oder auch der nächtliche Moment, in dem Nguyen am vietnamesischen Neujahrsfest mit ihrer Tante durch eine menschenleere Gasse geht. Die Tante voraus, den Bademantel umgehängt, er weht fast wie ein Superhelden-Cape.

untitled aus dem Jahr 2024 (Bild: Thi My Lien Nguyen)
Ein flüchtiger Moment nur und doch einer der im Gedächtnis der Betrachter:innen bleiben wird. Es liegt so viel in diesem Foto: Nähe und Fremdheit, Zuneigung und Skepsis, Dunkelheit und Helligkeit. Vielleicht das stärkste Foto der Ausstellung, weil es wie die Essenz der gesamten Schau wirkt.
Die im ersten Saal implizit gestellten Fragen («Alle Bilder sind Einladungen an die Betrachter:innen, es selbst zu sehen», sagt die Fotografin), vertieft die Künstlerin in den weiteren Arbeiten der Ausstellung. Während sie in der Fotoserie «Long Returns» über familiäre Verbindungen und Zugehörigkeit über geografische Distanzen nachdenkt, fasst sie in dem Video «Fruits to offer» so etwas wie ihre eigene kleine Philosophie der Rückkehr zusammen.
Eine poetische Philosophie über die Komplexität von Rückkehrprozessen
Szenen aus dem vietnamesischen Alltag und von besonderen Ritualen kontrastiert sie mit ihrer Stimme aus dem Off über ihre sehr persönlichen Gedanken und Gefühle vor der Rückkehr in die Heimat ihrer Familie. Sie versucht darin auch ihren eigenen Platz in der Welt zu finden.
Thi My Lien Nguyen bei diesem Ringen um die eigene Selbstbestimmung zuzuhören, berührt unmittelbar. Weil es authentisch ist, weil ihre Sprache poetisch ist und weil sie Fragen aufwirft, die wir uns alle stellen (Woher komme ich? Wie finde ich meinen Platz auf dieser Welt? Wie kann ich mit etwas verbunden und gleichzeitig frei davon sein?) «Rückkehr bezieht sich manchmal nicht auf einen Ort. Sondern eher darauf, eine frühere Version von dir selbst wieder zu treffen.»
Viel besser kann man die ambivalente Komplexität von Reisen in die eigene Vergangenheit nicht beschreiben.
(Dieser Artikel erschien am 5. Juni 2025 auf Thurgau Kultur)
Thi My Lien Nguyen – «Gestures of Return»: bis 9. November, Kunstmuseum Thurgau
kunstmuseum.tg