Der Baum sieht merkwürdig aus. Seine Äste wachsen im nahezu rechten Winkel aus dem Stamm und stehen waagerecht nach allen Seiten ab. Die Zweige hängen nach unten, kraftlos und an ihren Enden gekappt. Blätter oder Knospen sind nicht zu sehen. Wie eine Zeichnung steht das Geflecht vor dem blauen Himmel.
Mit diesem Sujet bewirbt der Kulturort Galerie Weiertal seine diesjährige Sommerausstellung. Es ist das 25-jährige Jubiläum dieser privaten Kunstinitiative am Rande von Winterthur. Am Rand heisst hier nicht «kurz hinter den letzten Häusern der Grossstadt», sondern wirklich entfernt von deren Geräuschen, ihrem Tempo, ihrer Betriebsamkeit.
Kunst statt Pferde
Wer ins Weiertal fährt, fährt in eine andere Welt. Vom S-Bahnhof Winterthur Wülflingen ist es noch eine halbe Stunde zu Fuss. Die letzten Gewerbebauten sind rasch passiert und dann gibt es bis auf ein paar wenige Häuser nur noch Grün. Der Weg ins Weiertal ist eine Reise in die Idylle. Ist es auch eine Reise zurück zu den Wurzeln?
Der Ausstellungstitel «Back to the Roots» verheisst eine Rückkehr zu den Ursprüngen und lässt grossen Interpretationsspielraum. Sind die Wurzeln eines jeden Individuums gemeint, diejenigen der Menschheit oder – noch umfassender – des Universums? Der Eintritt in dieses Gedankengebäude ist ebenso offen wie einladend.
Der St.Galler Alex Hanimann hat ein Holztor gestaltet und in ebenfalls hölzernen Buchstaben das Ausstellungsmotto darüber gesetzt: Wer hier eintritt, kommt den Wurzeln näher, auch denen des Kulturortes selbst. Denn das Tor gleicht jenen, wie sie im amerikanischen Westen auf Pferdekoppeln zu finden sind, und hier, wo jetzt zeitgenössische Kunst zu sehen ist, weideten vor sehr langer Zeit Pferde.
Eine Zelle in der Wiese
Jetzt, im Frühsommer, steht das Gras üppig, der Mülibach führt reichlich Wasser, an den Apfelbäumen fangen die Früchte an zu wachsen – und dazwischen ist die Kunst. Manche Werke nehmen das Motto wörtlich, andere versuchen die Metapher herauszustellen.
Axel Reinhard Böhme beispielsweise visualisiert mit weissen Schwingen und einem Wurzelgeflecht Goethes Spruch: «Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.» Markus Fehr hat eine hölzerne Zelle konstruiert, die einladend und schön platziert ist – da hätte es die kleinen Hefte mit in Kunststoff eingeschweissten Sinnsprüchen nicht gebraucht, hier wäre weniger mehr gewesen.
Baum steht Kopf
Ein paar Dutzend Schritte weiter kommt der Baum in Sicht, der die Ausstellung auf Plakaten, dem kleinen Katalog und den Flyern bebildert. Schnell wird klar, was anders ist an ihm: Das Künstlerduo Com&Com hat einen Baum ausgegraben und kopfüber wieder eingepflanzt. Statt Äste und Zweige gen Himmel zu strecken, lässt er etwas müde die Wurzeln hängen.
Es ist der siebente einer Serie, die seit 15 Jahren entsteht, und der erste, der im Aussenraum zu sehen ist. Alle diese Bäume mussten an ihrem eigentlichen Standort weichen, wären also ohnehin entwurzelt worden, so nun also auch das Exemplar im Weiertal. Verkehrtherum lässt es sich als Statement gegen die Umformung der Natur lesen und zu deren fatalen Folgen. Längst ist auch das Weiertal nicht mehr unangetastete, sondern stark gestaltete Natur. Der idyllische Garten ist von Menschenhand entworfen und gepflanzt.

Andrea Vogels Megabite (Bild: pd)
Unter einem der Apfelbäume arbeitet sich die St.Gallerin Andrea Vogel an einem grossen Haufen Äpfel ab. Das Video zeigt, wie sie immer wieder eine der rotbackigen Früchte nimmt, hineinbeisst und sie beiseitelegt. Konsumverhalten, Genuss, Gier und Gleichgültigkeit – die inhaltlichen Referenzen der künstlerischen Arbeit sind zahlreich.
Das gilt auch für Cocoon der Winterthurerin Katharina Henking. Sie hat ein Objekt aus 2500 gebrauchten und getrockneten Teebeutel in das kleine Gartenhäuschen des Kulturortes gehängt. Es verströmt sanften Fenchelduft und thematisiert Aspekte der Zeit, der Vergänglichkeit, des Heilens und Erinnerns.
Denkstösse statt Antworten
Der Rundgang durch den Garten – vorbei an weiteren zwölf künstlerischen Positionen – endet bei Alex Hannimans Tor. Hier nun fordert eine zweite Zeile, rückwärtig zur ersten, sich «Forward into the Future» zu bewegen. Wem das zu schnell geht, kann bei «Out in the Wild» verweilen. So heisst die Parallelausstellung im Kulturort.
Sie findet in den Galerieräumen statt: Die Wildnis ist nach drinnen geholt. Hier thematisieren Porträts von Tieren, Pflanzen und Wolken, Arbeiten auf Papier, aus Keramik und Gemälde den Widerstreit zwischen ungebändigter und ausgenutzter Natur.
Wie weit lässt sie sich zähmen? Was ist der Preis dafür? Was kann die Kunst tun? Allgemeingültige Antworten liefert sie nicht, aber gute Denkanstösse.
«Back to the Roots» und «Out in the Wild», bis 7. September, jeweils donnerstags bis samstags von 14 bis 18 Uhr und sonntags von 11 bis 17 Uhr, Galerie Weiertal, Winterthur.
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