Wurzeln und Wildnis

Das Werk Baum #7 von Com & Com (Bild: pd)

Seit 25 Jahren ist im Winterthurer Weiertal Kunst zu sehen. Die beiden aktuellen Sommerausstellungen im Kulturort Galerie Weiertal führen zurück zu den Wurzeln und hinaus in die Wildnis. Sie werden in der Galerie und im Garten präsentiert.

Der Baum sieht merk­wür­dig aus. Sei­ne Äs­te wach­sen im na­he­zu rech­ten Win­kel aus dem Stamm und ste­hen waa­ge­recht nach al­len Sei­ten ab. Die Zwei­ge hän­gen nach un­ten, kraft­los und an ih­ren En­den ge­kappt. Blät­ter oder Knos­pen sind nicht zu se­hen. Wie ei­ne Zeich­nung steht das Ge­flecht vor dem blau­en Him­mel. 

Mit die­sem Su­jet be­wirbt der Kul­tur­ort Ga­le­rie Wei­er­tal sei­ne dies­jäh­ri­ge Som­mer­aus­stel­lung. Es ist das 25-jäh­ri­ge Ju­bi­lä­um die­ser pri­va­ten Kunst­in­itia­ti­ve am Ran­de von Win­ter­thur. Am Rand heisst hier nicht «kurz hin­ter den letz­ten Häu­sern der Gross­stadt», son­dern wirk­lich ent­fernt von de­ren Ge­räu­schen, ih­rem Tem­po, ih­rer Be­trieb­sam­keit. 

Kunst statt Pfer­de

Wer ins Wei­er­tal fährt, fährt in ei­ne an­de­re Welt. Vom S-Bahn­hof Win­ter­thur Wülf­lin­gen ist es noch ei­ne hal­be Stun­de zu Fuss. Die letz­ten Ge­wer­be­bau­ten sind rasch pas­siert und dann gibt es bis auf ein paar we­ni­ge Häu­ser nur noch Grün. Der Weg ins Wei­er­tal ist ei­ne Rei­se in die Idyl­le. Ist es auch ei­ne Rei­se zu­rück zu den Wur­zeln? 

Der Aus­stel­lungs­ti­tel «Back to the Roots» ver­heisst ei­ne Rück­kehr zu den Ur­sprün­gen und lässt gros­sen In­ter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum. Sind die Wur­zeln ei­nes je­den In­di­vi­du­ums ge­meint, die­je­ni­gen der Mensch­heit oder – noch um­fas­sen­der – des Uni­ver­sums? Der Ein­tritt in die­ses Ge­dan­ken­ge­bäu­de ist eben­so of­fen wie ein­la­dend. 

Der St.Gal­ler Alex Hani­mann hat ein Holz­tor ge­stal­tet und in eben­falls höl­zer­nen Buch­sta­ben das Aus­stel­lungs­mot­to dar­über ge­setzt: Wer hier ein­tritt, kommt den Wur­zeln nä­her, auch de­nen des Kul­tur­or­tes selbst. Denn das Tor gleicht je­nen, wie sie im ame­ri­ka­ni­schen Wes­ten auf Pfer­de­kop­peln zu fin­den sind, und hier, wo jetzt zeit­ge­nös­si­sche Kunst zu se­hen ist, wei­de­ten vor sehr lan­ger Zeit Pfer­de.

Ei­ne Zel­le in der Wie­se

Jetzt, im Früh­som­mer, steht das Gras üp­pig, der Mü­li­bach führt reich­lich Was­ser, an den Ap­fel­bäu­men fan­gen die Früch­te an zu wach­sen – und da­zwi­schen ist die Kunst. Man­che Wer­ke neh­men das Mot­to wört­lich, an­de­re ver­su­chen die Me­ta­pher her­aus­zu­stel­len. 

Axel Rein­hard Böh­me bei­spiels­wei­se vi­sua­li­siert mit weis­sen Schwin­gen und ei­nem Wur­zel­ge­flecht Goe­thes Spruch: «Zwei Din­ge sol­len Kin­der von ih­ren El­tern be­kom­men: Wur­zeln und Flü­gel.» Mar­kus Fehr hat ei­ne höl­zer­ne Zel­le kon­stru­iert, die ein­la­dend und schön plat­ziert ist – da hät­te es die klei­nen Hef­te mit in Kunst­stoff ein­ge­schweiss­ten Sinn­sprü­chen nicht ge­braucht, hier wä­re we­ni­ger mehr ge­we­sen. 

Baum steht Kopf

Ein paar Dut­zend Schrit­te wei­ter kommt der Baum in Sicht, der die Aus­stel­lung auf Pla­ka­ten, dem klei­nen Ka­ta­log und den Fly­ern be­bil­dert. Schnell wird klar, was an­ders ist an ihm: Das Künst­ler­duo Com&Com hat ei­nen Baum aus­ge­gra­ben und kopf­über wie­der ein­ge­pflanzt. Statt Äs­te und Zwei­ge gen Him­mel zu stre­cken, lässt er et­was mü­de die Wur­zeln hän­gen. 

Es ist der sie­ben­te ei­ner Se­rie, die seit 15 Jah­ren ent­steht, und der ers­te, der im Aus­sen­raum zu se­hen ist. Al­le die­se Bäu­me muss­ten an ih­rem ei­gent­li­chen Stand­ort wei­chen, wä­ren al­so oh­ne­hin ent­wur­zelt wor­den, so nun al­so auch das Ex­em­plar im Wei­er­tal. Ver­kehrt­her­um lässt es sich als State­ment ge­gen die Um­for­mung der Na­tur le­sen und zu de­ren fa­ta­len Fol­gen. Längst ist auch das Wei­er­tal nicht mehr un­an­ge­tas­te­te, son­dern stark ge­stal­te­te Na­tur. Der idyl­li­sche Gar­ten ist von Men­schen­hand ent­wor­fen und ge­pflanzt.

Andrea Vogels Megabite (Bild: pd)

Un­ter ei­nem der Ap­fel­bäu­me ar­bei­tet sich die St.Gal­le­rin An­drea Vo­gel an ei­nem gros­sen Hau­fen Äp­fel ab. Das Vi­deo zeigt, wie sie im­mer wie­der ei­ne der rot­ba­cki­gen Früch­te nimmt, hin­ein­beisst und sie bei­sei­te­legt. Kon­sum­ver­hal­ten, Ge­nuss, Gier und Gleich­gül­tig­keit – die in­halt­li­chen Re­fe­ren­zen der künst­le­ri­schen Ar­beit sind zahl­reich. 

Das gilt auch für Co­coon der Win­ter­thu­re­rin Ka­tha­ri­na Hen­king. Sie hat ein Ob­jekt aus 2500 ge­brauch­ten und ge­trock­ne­ten Tee­beu­tel in das klei­ne Gar­ten­häus­chen des Kul­tur­or­tes ge­hängt. Es ver­strömt sanf­ten Fen­chel­duft und the­ma­ti­siert Aspek­te der Zeit, der Ver­gäng­lich­keit, des Hei­lens und Er­in­nerns. 

Denk­stös­se statt Ant­wor­ten

Der Rund­gang durch den Gar­ten – vor­bei an wei­te­ren zwölf künst­le­ri­schen Po­si­tio­nen – en­det bei Alex Han­ni­mans Tor. Hier nun for­dert ei­ne zwei­te Zei­le, rück­wär­tig zur ers­ten, sich «For­ward in­to the Fu­ture» zu be­we­gen. Wem das zu schnell geht, kann bei «Out in the Wild» ver­wei­len. So heisst die Par­al­lel­aus­stel­lung im Kul­tur­ort. 

Sie fin­det in den Ga­le­rie­räu­men statt: Die Wild­nis ist nach drin­nen ge­holt. Hier the­ma­ti­sie­ren Por­träts von Tie­ren, Pflan­zen und Wol­ken, Ar­bei­ten auf Pa­pier, aus Ke­ra­mik und Ge­mäl­de den Wi­der­streit zwi­schen un­ge­bän­dig­ter und aus­ge­nutz­ter Na­tur. 

Wie weit lässt sie sich zäh­men? Was ist der Preis da­für? Was kann die Kunst tun? All­ge­mein­gül­ti­ge Ant­wor­ten lie­fert sie nicht, aber gu­te Denk­an­stös­se.

«Back to the Roots» und «Out in the Wild», bis 7. Sep­tem­ber, je­weils don­ners­tags bis sams­tags von 14 bis 18 Uhr und sonn­tags von 11 bis 17 Uhr, Ga­le­rie Wei­er­tal, Win­ter­thur.
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