Auf dünnem Eis, mit warmem Blick

Der Autor Peter Stamm (Bild: pd/Anita Affentranger)

Liebe, Reue, Schicksalsschläge – Peter Stamms neues Buch Auf ganz dünnem Eis vereint acht Erzählungen, die uns in verschiedene Länder und Lebenswelten mitnehmen. Was sie eint, ist ein zutiefst menschlicher Ton.

Nach­dem Pe­ter Stamm in sei­nem letz­ten Buch In ei­ner dun­kel­blau­en Stun­de den My­thos ei­nes Au­tors her­auf­be­schwo­ren hat, wid­met er sich in sei­nem neus­ten Werk wie­der nach­voll­zieh­ba­ren Fi­gu­ren, an de­ren Schick­sa­le man schnell an­knüp­fen kann. Vie­le Fi­gu­ren sind auf der Su­che nach et­was und ste­hen an ei­nem Wen­de­punkt. Stamm ver­steht es meis­ter­haft, sie zu um­reis­sen: Durch Ge­dan­ken, Ge­füh­le, Be­ob­ach­tun­gen, Sze­nen aus der Ver­gan­gen­heit, Be­geg­nun­gen oder Ge­sichts­aus­drü­cken schafft er Men­schen, die zwar nicht im­mer al­les von sich preis­ge­ben, aber im­mer be­merk­bar ma­chen, dass sich da ei­ne Tie­fe ver­birgt – ein klei­ner Mi­kro­kos­mos an Be­zie­hun­gen und Ge­schich­ten.

So han­delt die Er­zäh­lung Auf dün­nem Eis von ei­ner Schau­spie­le­rin, die dar­um kämpft, end­lich in ei­nem En­sem­ble auf­ge­nom­men zu wer­den. An Ta­lent scheint es ihr nicht zu man­geln. Sie ver­mischt ge­zielt ih­re per­sön­li­chen Ge­füh­le mit je­nen ih­rer Rol­le, so­dass dar­aus ein Ge­samt­kunst­werk ent­steht, wie es Stamm mit sti­lis­ti­scher Bra­vour be­schreibt. Die Schau­spie­le­rin ist ge­nerv­ter von ih­rem Freund, als sie ei­nen jun­gen Arzt in Aus­bil­dung ken­nen­lernt und et­was Neu­es ent­steht. 

Ob­wohl sie den an­ge­hen­den Arzt we­der be­son­ders at­trak­tiv noch sym­pa­thisch fin­det, be­gin­nen sie ei­ne Af­fä­re – aber nur in Ge­dan­ken. Ih­re Fan­ta­sie wird zur Flucht aus dem de­pri­mie­ren­den Le­ben, das von Pas­si­vi­tät ge­kenn­zeich­net ist. Stamm geht da­bei nie wer­tend mit sei­nen Fi­gu­ren um, son­dern zeigt ein­fühl­sam und mit ei­ner Lie­be fürs De­tail, was in ih­nen vor­geht. In die­ser Ge­schich­te ist es ei­ne Frau, die die Un­kon­trol­lier­bar­keit des Le­bens ak­zep­tie­ren und das Tref­fen von ei­ge­nen Ent­schei­dun­gen mit al­len Kon­se­quen­zen ler­nen muss.

Vom Aus­bre­chen

Ähn­lich geht es der Prot­ago­nis­tin aus Jump and Run. Ihr feh­len­der Le­bens­sinn und die ein­ge­staub­te Ehe ver­an­las­sen sie da­zu, sich ei­ner Frie­dens­trup­pe in Al­ba­ni­en an­zu­schlies­sen, nur um zu mer­ken, dass der All­tag auch an­dern­orts grau sein kann. Die­ser Wech­sel stösst al­ler­lei ge­sell­schafts­kri­ti­sche Re­fle­xio­nen an. Die Prot­ago­nis­tin hin­ter­fragt die eta­blier­ten Re­geln, die sie von klein auf ver­in­ner­licht hat. War­um man hei­ra­ten und Kin­der be­kom­men muss, war­um man Au­to und Haus ha­ben soll­te. Sie er­kennt, wie al­lein und ent­frem­det sie in der Ehe ist: «Ich hat­te vom ers­ten Mo­ment an das Ge­fühl, dass er mir das Kind an­ge­hängt hat­te, dass es sein Kind war, das er in mir aus­ge­setzt hat­te, um mei­nen Kör­per zu ko­lo­ni­sie­ren.» Sie wird ei­ne Ent­schei­dung tref­fen müs­sen.

Auch die Ge­schich­te Elins Äp­fel blickt kri­tisch auf den Sta­tus Quo. Elin ist ei­ne jun­ge Frau, die in ei­ner ver­lot­ter­ten Hüt­te ihr ei­ge­nes Ge­mü­se an­pflanzt. Ei­nes Ta­ges ent­deckt ei­ne am­bi­tio­nier­te Ge­schäfts­frau eben die­se Hüt­te und er­kennt in die­ser be­son­de­ren At­mo­sphä­re, dass sie im­mer auf et­was war­tet, was nie kommt. Nie kom­men kann. Erst durch die me­di­ta­ti­ve Ru­he des Ge­mü­se­gar­tens kann sie in­ne­ren Frie­den fin­den, weil sie ver­steht, dass die Reiz­über­flu­tung der mo­der­nen Welt ei­nem nie­mals Er­fül­lung brin­gen wird. Erst in der Zeit­lo­sig­keit geht sie auf. Es ist ei­ne Rück­be­sin­nung auf die Na­tur und die Stil­le in ei­ner Leis­tungs­ge­sell­schaft.

Kin­der und Kli­ma

Ei­ne an­de­re Ge­schich­te, Mars, liest sich wie ei­ne Me­ta­pher auf das El­tern­sein. Ein Sohn iso­liert sich, um dem Welt­raum na­he zu sein. Die Dy­na­mik der El­tern än­dert sich dar­auf­hin völ­lig: «Es ist, als hät­te Laurins Schwei­gen auf uns ab­ge­färbt.» Das wirft vie­le Fra­gen auf. Was macht man, wenn ein Kind sich zu­neh­mend zu­rück­zieht? Wie viel Frei­heit muss man zu­las­sen, da­mit Wachs­tum ge­lin­gen kann? Und bis zu wel­chem Grad un­ter­stützt man Plä­ne, die man ei­gent­lich nicht gut heisst? Ge­nau sol­chen sen­si­blen The­men geht Stamm in sei­nem Er­zähl­band in kur­zen, wir­kungs­vol­len Sät­zen nach.

Die­ses Ge­spür zeigt Pe­ter Stamm auch, wenn es um die Zu­kunft geht. Bei der letz­ten Ge­schich­te han­delt es sich näm­lich um cli­ma­te fic­tion. Sie spielt in ei­ni­gen Jahr­zehn­ten in ei­ner dys­to­pi­schen – viel­leicht auch uto­pi­schen – Welt, in der vie­le Tä­ler des Wal­lis von La­wi­nen be­gra­ben sind. Die Men­schen ha­ben den Ort schon längst ver­las­sen. Nur ein Letz­ter wohnt noch auf ei­ner si­che­ren An­hö­he in ei­nem Schloss und un­ter­nimmt, oh­ne dass es ei­nen Zweck hät­te, geo­lo­gi­sche Mes­sun­gen. Das Al­lein­sein bringt ihn in ei­nen Zu­stand der Ver­schmel­zung mit al­lem, so als wür­de die Zeit still­ste­hen und er sich auf­lö­sen. Doch ei­nes Ta­ges spürt er, dass er end­lich wie­der mu­tig sein muss. Es ist ei­ne Er­zäh­lung über mensch­li­che Selbst­über­schät­zung und die Macht der Na­tur, ein­ge­bet­tet in ge­fühl­vol­le Sät­ze.

Poetisch, lustig, nachdenklich

Sowieso weiss Stamm, wie man gute Sätze schreibt. Der Stil, der sich durch all die Erzählungen zieht, ist einfach zu verstehen, aber niemals banal. Er hat immer etwas Tragendes und Stimmungsvolles. Manchmal entdeckt man Poetisches – «Wir sind in die Nacht hineingefahren wie in einen dunklen Raum» –, manchmal Lustiges – «Die Hälfte der Kinder heisst inzwischen wie Protagonisten in Science-Fiction-Filmen» und manchmal etwas, das zum Nachdenken anregt – «Alles hat eine Funktion, alles erfüllt einen Zweck, auch wir, aber nichts ist schön».

Auf ganz dünnem Eis ist ein liebevolles Buch. Voller Empathie, voller Anknüpfungspunkte für das eigene Leben. Man sieht Menschen, die sich freuen, Menschen, die scheitern, die bessere oder schlechtere Entscheidungen treffen, die flüchten oder sich stellen, die füreinander da sind oder für sich selbst. Der Autor macht das ohne Kitsch und Pathos, ganz unaufgeregt, aber auch ungeschönt. Beobachtend und sanft.

Peter Stamm: Auf ganz dünnem Eis. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025.

Lesung mit Autor: 22. Oktober, 19.30 Uhr, Orell Füssli , Winterthur und 17. November, 19.30 Uhr, Kantonsbibliothek Thurgau, Frauenfeld.

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