Nachdem Peter Stamm in seinem letzten Buch In einer dunkelblauen Stunde den Mythos eines Autors heraufbeschworen hat, widmet er sich in seinem neusten Werk wieder nachvollziehbaren Figuren, an deren Schicksale man schnell anknüpfen kann. Viele Figuren sind auf der Suche nach etwas und stehen an einem Wendepunkt. Stamm versteht es meisterhaft, sie zu umreissen: Durch Gedanken, Gefühle, Beobachtungen, Szenen aus der Vergangenheit, Begegnungen oder Gesichtsausdrücken schafft er Menschen, die zwar nicht immer alles von sich preisgeben, aber immer bemerkbar machen, dass sich da eine Tiefe verbirgt – ein kleiner Mikrokosmos an Beziehungen und Geschichten.
So handelt die Erzählung Auf dünnem Eis von einer Schauspielerin, die darum kämpft, endlich in einem Ensemble aufgenommen zu werden. An Talent scheint es ihr nicht zu mangeln. Sie vermischt gezielt ihre persönlichen Gefühle mit jenen ihrer Rolle, sodass daraus ein Gesamtkunstwerk entsteht, wie es Stamm mit stilistischer Bravour beschreibt. Die Schauspielerin ist genervter von ihrem Freund, als sie einen jungen Arzt in Ausbildung kennenlernt und etwas Neues entsteht.
Obwohl sie den angehenden Arzt weder besonders attraktiv noch sympathisch findet, beginnen sie eine Affäre – aber nur in Gedanken. Ihre Fantasie wird zur Flucht aus dem deprimierenden Leben, das von Passivität gekennzeichnet ist. Stamm geht dabei nie wertend mit seinen Figuren um, sondern zeigt einfühlsam und mit einer Liebe fürs Detail, was in ihnen vorgeht. In dieser Geschichte ist es eine Frau, die die Unkontrollierbarkeit des Lebens akzeptieren und das Treffen von eigenen Entscheidungen mit allen Konsequenzen lernen muss.
Vom Ausbrechen
Ähnlich geht es der Protagonistin aus Jump and Run. Ihr fehlender Lebenssinn und die eingestaubte Ehe veranlassen sie dazu, sich einer Friedenstruppe in Albanien anzuschliessen, nur um zu merken, dass der Alltag auch andernorts grau sein kann. Dieser Wechsel stösst allerlei gesellschaftskritische Reflexionen an. Die Protagonistin hinterfragt die etablierten Regeln, die sie von klein auf verinnerlicht hat. Warum man heiraten und Kinder bekommen muss, warum man Auto und Haus haben sollte. Sie erkennt, wie allein und entfremdet sie in der Ehe ist: «Ich hatte vom ersten Moment an das Gefühl, dass er mir das Kind angehängt hatte, dass es sein Kind war, das er in mir ausgesetzt hatte, um meinen Körper zu kolonisieren.» Sie wird eine Entscheidung treffen müssen.
Auch die Geschichte Elins Äpfel blickt kritisch auf den Status Quo. Elin ist eine junge Frau, die in einer verlotterten Hütte ihr eigenes Gemüse anpflanzt. Eines Tages entdeckt eine ambitionierte Geschäftsfrau eben diese Hütte und erkennt in dieser besonderen Atmosphäre, dass sie immer auf etwas wartet, was nie kommt. Nie kommen kann. Erst durch die meditative Ruhe des Gemüsegartens kann sie inneren Frieden finden, weil sie versteht, dass die Reizüberflutung der modernen Welt einem niemals Erfüllung bringen wird. Erst in der Zeitlosigkeit geht sie auf. Es ist eine Rückbesinnung auf die Natur und die Stille in einer Leistungsgesellschaft.
Kinder und Klima
Eine andere Geschichte, Mars, liest sich wie eine Metapher auf das Elternsein. Ein Sohn isoliert sich, um dem Weltraum nahe zu sein. Die Dynamik der Eltern ändert sich daraufhin völlig: «Es ist, als hätte Laurins Schweigen auf uns abgefärbt.» Das wirft viele Fragen auf. Was macht man, wenn ein Kind sich zunehmend zurückzieht? Wie viel Freiheit muss man zulassen, damit Wachstum gelingen kann? Und bis zu welchem Grad unterstützt man Pläne, die man eigentlich nicht gut heisst? Genau solchen sensiblen Themen geht Stamm in seinem Erzählband in kurzen, wirkungsvollen Sätzen nach.
Dieses Gespür zeigt Peter Stamm auch, wenn es um die Zukunft geht. Bei der letzten Geschichte handelt es sich nämlich um climate fiction. Sie spielt in einigen Jahrzehnten in einer dystopischen – vielleicht auch utopischen – Welt, in der viele Täler des Wallis von Lawinen begraben sind. Die Menschen haben den Ort schon längst verlassen. Nur ein Letzter wohnt noch auf einer sicheren Anhöhe in einem Schloss und unternimmt, ohne dass es einen Zweck hätte, geologische Messungen. Das Alleinsein bringt ihn in einen Zustand der Verschmelzung mit allem, so als würde die Zeit stillstehen und er sich auflösen. Doch eines Tages spürt er, dass er endlich wieder mutig sein muss. Es ist eine Erzählung über menschliche Selbstüberschätzung und die Macht der Natur, eingebettet in gefühlvolle Sätze.
Poetisch, lustig, nachdenklich
Sowieso weiss Stamm, wie man gute Sätze schreibt. Der Stil, der sich durch all die Erzählungen zieht, ist einfach zu verstehen, aber niemals banal. Er hat immer etwas Tragendes und Stimmungsvolles. Manchmal entdeckt man Poetisches – «Wir sind in die Nacht hineingefahren wie in einen dunklen Raum» –, manchmal Lustiges – «Die Hälfte der Kinder heisst inzwischen wie Protagonisten in Science-Fiction-Filmen» und manchmal etwas, das zum Nachdenken anregt – «Alles hat eine Funktion, alles erfüllt einen Zweck, auch wir, aber nichts ist schön».
Auf ganz dünnem Eis ist ein liebevolles Buch. Voller Empathie, voller Anknüpfungspunkte für das eigene Leben. Man sieht Menschen, die sich freuen, Menschen, die scheitern, die bessere oder schlechtere Entscheidungen treffen, die flüchten oder sich stellen, die füreinander da sind oder für sich selbst. Der Autor macht das ohne Kitsch und Pathos, ganz unaufgeregt, aber auch ungeschönt. Beobachtend und sanft.
Peter Stamm: Auf ganz dünnem Eis. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025.
Lesung mit Autor: 22. Oktober, 19.30 Uhr, Orell Füssli , Winterthur und 17. November, 19.30 Uhr, Kantonsbibliothek Thurgau, Frauenfeld.