Der freie Markt – ein Mythos mit Geschichte

Jacob Soll (rechts) im Gespräch mit Dr. Wolfram Eilenberger sowie Prof. Claudia Brühwiler, die Gastgeberin des HSG-Podcasts "Grüezi Amerika", die hier nicht auf dem Bild zu sehen ist. (Bild: pd)

Jacob Soll, Professor für Geistes- und Wirtschaftswissenschaften aus Kalifornien, gab als «Personality in Residence» im Square an der Uni St.Gallen Studierenden und dem interessierten Publikum Einblicke in die Geschichte des freien Marktes. Moralische Verantwortung und Bildung sieht er als zentrale Punkte für die Zukunft eines humanen Wirtschaftssystems.

Ja­cob Solls Stim­me klingt tief und leicht hei­ser. Die ver­gan­ge­nen Ta­ge in St.Gal­len hat er sehr viel ge­re­det: Un­zäh­li­ge Lec­tures, Po­di­ums­dis­kus­sio­nen, Pod­cast-Auf­nah­men, Abend­essen und per­sön­li­che Ge­sprä­che mit HSG-Stu­die­ren­den ha­ben sei­nen Stimm­bän­dern zu­ge­setzt, ent­schul­digt er sich. Kein Wun­der: Soll er­zählt en­thu­si­as­tisch und prä­zi­se vom My­thos des frei­en Mark­tes – ei­ner Idee, die seit der An­ti­ke un­un­ter­bro­chen bis ins 21. Jahr­hun­dert wei­ter­ge­ge­ben und im­mer wie­der neu in­ter­pre­tiert wird.

Un­se­re heu­ti­ge Vor­stel­lung ei­nes «frei­en Mark­tes», der Un­ter­neh­men und Fi­nanz­ak­teu­ren gren­zen­lo­se Frei­heit er­mög­licht, hat ge­mäss Soll nur noch we­nig mit der ur­sprüng­li­chen Idee von Mo­ral, Ver­ant­wor­tung und Ver­trau­en zu tun. Aber der Rei­he nach.

Schon ein Blick in die An­ti­ke zeigt den Un­ter­schied: Be­reits im al­ten Rom, sagt Soll, war der Markt kein Raum gren­zen­lo­ser Frei­heit, son­dern an ethi­sche Re­geln ge­bun­den. Staat und Ge­mein­schaft sorg­ten da­für, dass der Han­del auf den Markt­plät­zen des Reichs fair blieb.

Auch im Mit­tel­al­ter war der Markt kein rechts­frei­er Raum, son­dern ein­ge­bet­tet in mo­ra­li­sche und re­li­giö­se Vor­stel­lun­gen, die stark von der Kir­che ge­prägt wa­ren. Reich­tum war nicht per se ver­bo­ten, galt aber als pro­ble­ma­tisch, wenn er nur der per­sön­li­chen Gier dien­te oder die Pflich­ten ge­gen­über Ge­mein­schaft und Ar­men miss­ach­te­te. Fran­zis­ka­ni­sche Mön­che dis­ku­tier­ten zum Bei­spiel, was ein «ge­rech­ter Preis» sei und ab wann Reich­tum ei­ne Sün­de ist.

Ab dem spä­ten 13. Jahr­hun­dert – be­son­ders im 14. – be­gann sich das Bild zu wan­deln: Reich­tum galt nicht mehr au­to­ma­tisch als Sün­de, son­dern konn­te auch dem Ge­mein­wohl die­nen. In Städ­ten wie Flo­renz, Si­en­na oder Ve­ne­dig ent­stan­den neue Han­dels­for­men, die auf Ver­trau­en und Ver­ant­wor­tung be­ruh­ten. In sei­nem Buch Free Mar­ket: The Histo­ry of an Idea nennt Soll die­se Ent­wick­lung Com­mer­cial Re­pu­bli­ca­nism – die Ver­bin­dung von wirt­schaft­li­cher Frei­heit und bür­ger­li­cher Ver­ant­wor­tung.

My­thos Na­tur­ge­setz

Im 17. und 18. Jahr­hun­dert ver­la­ger­te sich die Dis­kus­si­on über den Markt hin zur klas­si­schen Öko­no­mie. Den­kern wie Jean-Bap­tis­te Col­bert oder Adam Smith ging es nicht um un­ein­ge­schränk­te Frei­heit, son­dern um ein aus­ge­wo­ge­nes Zu­sam­men­spiel von Markt und Staat. Noch heu­te se­hen vie­le An­hän­ger:in­nen des frei­en Mark­tes in Smith den Be­grün­der von Lais­sez-fai­re. Soll wi­der­spricht: Das stim­me so nicht. Der schot­ti­sche Mo­ral­phi­lo­soph und Auf­klä­rer des 18. Jahr­hun­derts warn­te viel­mehr vor Gier und Macht­miss­brauch. Be­reits Smith ver­stand Märk­te als mo­ra­lisch ein­ge­bet­te­te Sys­te­me, die oh­ne staat­li­che und ethi­sche Re­gu­lie­rung nicht funk­tio­nie­ren. Sein Mo­nu­men­tal­werk Der Reich­tum der Na­tio­nen sei ein Pro­dukt sei­ner Zeit und soll­te nicht als uni­ver­sel­le Blau­pau­se für mo­der­ne Wirt­schafts­po­li­tik gel­ten, er­klärt Soll. «Den­noch ist das Buch auch heu­te noch äus­serst le­sens­wert.»

Die Veranstaltungsreihe «Personality in Residence» des Square soll Perspektiven eröffnen. Dazu stellte Prof. Claudia Brühwiler zusammen mit Dr. Wolfram Eilenberger Fragen an Jacob Soll. (Bild: pd)

Un­ser heu­ti­ges Bild ei­nes frei­en, un­ge­zähm­ten Mark­tes, der sich geis­ter­haft durch ei­ne un­sicht­ba­re Hand selbst re­gu­liert und we­der ge­gen­über Bür­ger:in­nen noch dem Staat Ver­ant­wor­tung trägt, ent­wi­ckel­te sich ab dem 19. Jahr­hun­dert. Mit In­dus­tria­li­sie­rung und Ka­pi­ta­lis­mus wur­de die­se Idee zum Ide­al, im 20. Jahr­hun­dert dank der Im­pul­se von Mil­ton Fried­man und Fried­rich Hay­ek zum Neo­li­be­ra­lis­mus so­gar zum un­um­stöss­li­chen My­thos und zu ei­nem schein­bar gott­ge­ge­be­nen Na­tur­ge­setz. «Der freie Markt ist aber kein Na­tur­ge­setz», be­tont Soll, der als Pro­fes­sor Phi­lo­so­phie, Ge­schich­te und Rech­nungs­we­sen an der Uni­ver­si­ty of Sou­thern Ca­li­for­nia un­ter­rich­tet.. «Er ist ein mensch­li­ches Kon­strukt – und er funk­tio­niert nur, wenn Bil­dung, Mo­ral und re­pu­bli­ka­ni­sche Wer­te ihn tra­gen.»

Bil­dung, Bil­dung, Bil­dung…

Im Ge­spräch mit Sai­ten wird deut­lich: Bil­dung ist für Ja­cob Soll der Schlüs­sel – nicht nur für öko­no­mi­sche, son­dern auch für mo­ra­li­sche, po­li­ti­sche und ge­sell­schaft­li­che Sta­bi­li­tät. Seit der Jahr­tau­send­wen­de be­ob­ach­tet er ei­ne Ver­schie­bung: Noch in den 1990er-Jah­ren stu­dier­te die Mehr­heit der jun­gen Ame­ri­ka­ner:in­nen geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Fä­cher wie Ge­schich­te, Phi­lo­so­phie oder Spra­chen. «Seit den frü­hen 2000ern ver­schiebt sich der Schwer­punkt hin zu Stu­di­en­gän­gen mit Fi­nanz­be­zug.» Mo­ra­li­sche und ge­sell­schaft­li­che Ver­pflich­tun­gen wür­den zu­guns­ten der Hoff­nung auf schnel­le Ge­winn­ma­xi­mie­rung und Reich­tum ge­op­fert.

Jun­ge Men­schen müss­ten sich wie­der ver­stärkt für Ge­schich­te, Spra­che, Phi­lo­so­phie oder Kunst in­ter­es­sie­ren, so Solls hoff­nungs­vol­ler Wunsch. Ge­nau die­se The­men, aus de­nen Eu­ro­pa phi­lo­so­phie­ge­schicht­lich her­vor­ge­gan­gen und gross ge­wor­den ist. Eu­ro­pa flo­rier­te wäh­rend der Re­nais­sance und in den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten, weil Dich­ter, Den­ker und Phi­lo­so­phen recht­li­che und mo­ra­li­sche Nor­men dis­ku­tier­ten und da­mit den Grund­stein für Wohl­stand und ge­sell­schaft­li­chen Auf­bruch leg­ten.

Ja­cob Soll, der selbst den Gross­teil sei­ner Kind­heit in Frank­reich ver­bracht hat­te, ver­weist da­bei auf sei­nen Va­ter, den Zell­bio­lo­gen Da­vid R. Soll, der ab den 1970er Jah­ren Grund­la­gen für die RNA-For­schung leg­te. «Mein Va­ter sag­te mir: Die gröss­ten Ent­de­ckun­gen kom­men oft von Men­schen mit ei­nem Hin­ter­grund in Geis­tes­wis­sen­schaf­ten oder Kunst. Ich den­ke, wir müs­sen dort­hin zu­rück.»

Fra­gi­le Ge­gen­wart

Seit Do­nald Trump sei die­ser Wunsch noch mehr zur Il­lu­si­on ge­wor­den. Trump streicht nicht nur Gel­der von Uni­ver­si­tä­ten und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen, son­dern flir­tet auch un­ver­hoh­len mit an­de­ren Au­to­kra­ten – und möch­te selbst ei­ner sein. «Ame­ri­ka wird nie mehr das sein, was es war», stellt Soll be­dau­ernd fest. «Wir ha­ben ei­ne Par­tei, die nicht nur of­fen mit Au­to­ri­ta­ris­mus flir­tet, son­dern die De­mo­kra­tie und die Märk­te ge­fähr­det.» Em­pa­thie, mo­ra­li­sches Den­ken und kri­ti­sches Hin­ter­fra­gen ge­hör­ten nicht zu den Prio­ri­tä­ten der Trump-Agen­da.

Eu­ro­pa, be­son­ders die Schweiz, sieht er sta­bi­ler. «Hier stüt­zen Bil­dung, In­sti­tu­tio­nen und po­li­ti­sche Kul­tur die Ge­sell­schaft, auch wenn die Men­schen im­mer ex­tre­me­re Par­tei­en wäh­len. Ei­nen Kol­laps der De­mo­kra­tie möch­te aber nie­mand wirk­lich.»

Ja­cob Soll war nur ei­ni­ge Ta­ge in St.Gal­len, aber er ist si­cher, dass er bald wie­der­kom­men wird. «Der Aus­tausch mit den HSG-Stu­die­ren­den hat mir wirk­lich sehr ge­fal­len.» Gleich­zei­tig gibt es noch viel zu tun. Ge­ra­de an ei­ner Uni­ver­si­tät wie der HSG sind mo­ra­li­sche Über­le­gun­gen und ge­sell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung in stür­mi­schen und un­si­che­ren Zei­ten wich­ti­ger denn je. Wirt­schaft­li­cher Fort­schritt ge­lingt nur mit mensch­li­cher Ver­ant­wor­tung – nicht mit ei­ner ego­is­ti­schen «Win­ner-Ta­ke-All»-Phi­lo­so­phie.

Ja­cob Soll ver­bin­det in sei­ner For­schung Geis­tes- und Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten und fo­kus­siert da­bei auf po­li­ti­sche Ver­ant­wor­tung und Fi­nanz­sys­te­me. Er ist Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie, Ge­schich­te und Rech­nungs­we­sen an der Uni­ver­si­ty of Sou­thern Ca­li­for­nia und Au­tor von Pu­bli­shing The Prin­ce (2005) oder Free Mar­ket: The Histo­ry of an Idea (2022).
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