Jacob Solls Stimme klingt tief und leicht heiser. Die vergangenen Tage in St.Gallen hat er sehr viel geredet: Unzählige Lectures, Podiumsdiskussionen, Podcast-Aufnahmen, Abendessen und persönliche Gespräche mit HSG-Studierenden haben seinen Stimmbändern zugesetzt, entschuldigt er sich. Kein Wunder: Soll erzählt enthusiastisch und präzise vom Mythos des freien Marktes – einer Idee, die seit der Antike ununterbrochen bis ins 21. Jahrhundert weitergegeben und immer wieder neu interpretiert wird.
Unsere heutige Vorstellung eines «freien Marktes», der Unternehmen und Finanzakteuren grenzenlose Freiheit ermöglicht, hat gemäss Soll nur noch wenig mit der ursprünglichen Idee von Moral, Verantwortung und Vertrauen zu tun. Aber der Reihe nach.
Schon ein Blick in die Antike zeigt den Unterschied: Bereits im alten Rom, sagt Soll, war der Markt kein Raum grenzenloser Freiheit, sondern an ethische Regeln gebunden. Staat und Gemeinschaft sorgten dafür, dass der Handel auf den Marktplätzen des Reichs fair blieb.
Auch im Mittelalter war der Markt kein rechtsfreier Raum, sondern eingebettet in moralische und religiöse Vorstellungen, die stark von der Kirche geprägt waren. Reichtum war nicht per se verboten, galt aber als problematisch, wenn er nur der persönlichen Gier diente oder die Pflichten gegenüber Gemeinschaft und Armen missachtete. Franziskanische Mönche diskutierten zum Beispiel, was ein «gerechter Preis» sei und ab wann Reichtum eine Sünde ist.
Ab dem späten 13. Jahrhundert – besonders im 14. – begann sich das Bild zu wandeln: Reichtum galt nicht mehr automatisch als Sünde, sondern konnte auch dem Gemeinwohl dienen. In Städten wie Florenz, Sienna oder Venedig entstanden neue Handelsformen, die auf Vertrauen und Verantwortung beruhten. In seinem Buch Free Market: The History of an Idea nennt Soll diese Entwicklung Commercial Republicanism – die Verbindung von wirtschaftlicher Freiheit und bürgerlicher Verantwortung.
Mythos Naturgesetz
Im 17. und 18. Jahrhundert verlagerte sich die Diskussion über den Markt hin zur klassischen Ökonomie. Denkern wie Jean-Baptiste Colbert oder Adam Smith ging es nicht um uneingeschränkte Freiheit, sondern um ein ausgewogenes Zusammenspiel von Markt und Staat. Noch heute sehen viele Anhänger:innen des freien Marktes in Smith den Begründer von Laissez-faire. Soll widerspricht: Das stimme so nicht. Der schottische Moralphilosoph und Aufklärer des 18. Jahrhunderts warnte vielmehr vor Gier und Machtmissbrauch. Bereits Smith verstand Märkte als moralisch eingebettete Systeme, die ohne staatliche und ethische Regulierung nicht funktionieren. Sein Monumentalwerk Der Reichtum der Nationen sei ein Produkt seiner Zeit und sollte nicht als universelle Blaupause für moderne Wirtschaftspolitik gelten, erklärt Soll. «Dennoch ist das Buch auch heute noch äusserst lesenswert.»
Die Veranstaltungsreihe «Personality in Residence» des Square soll Perspektiven eröffnen. Dazu stellte Prof. Claudia Brühwiler zusammen mit Dr. Wolfram Eilenberger Fragen an Jacob Soll. (Bild: pd)
Unser heutiges Bild eines freien, ungezähmten Marktes, der sich geisterhaft durch eine unsichtbare Hand selbst reguliert und weder gegenüber Bürger:innen noch dem Staat Verantwortung trägt, entwickelte sich ab dem 19. Jahrhundert. Mit Industrialisierung und Kapitalismus wurde diese Idee zum Ideal, im 20. Jahrhundert dank der Impulse von Milton Friedman und Friedrich Hayek zum Neoliberalismus sogar zum unumstösslichen Mythos und zu einem scheinbar gottgegebenen Naturgesetz. «Der freie Markt ist aber kein Naturgesetz», betont Soll, der als Professor Philosophie, Geschichte und Rechnungswesen an der University of Southern California unterrichtet.. «Er ist ein menschliches Konstrukt – und er funktioniert nur, wenn Bildung, Moral und republikanische Werte ihn tragen.»
Bildung, Bildung, Bildung…
Im Gespräch mit Saiten wird deutlich: Bildung ist für Jacob Soll der Schlüssel – nicht nur für ökonomische, sondern auch für moralische, politische und gesellschaftliche Stabilität. Seit der Jahrtausendwende beobachtet er eine Verschiebung: Noch in den 1990er-Jahren studierte die Mehrheit der jungen Amerikaner:innen geisteswissenschaftliche Fächer wie Geschichte, Philosophie oder Sprachen. «Seit den frühen 2000ern verschiebt sich der Schwerpunkt hin zu Studiengängen mit Finanzbezug.» Moralische und gesellschaftliche Verpflichtungen würden zugunsten der Hoffnung auf schnelle Gewinnmaximierung und Reichtum geopfert.
Junge Menschen müssten sich wieder verstärkt für Geschichte, Sprache, Philosophie oder Kunst interessieren, so Solls hoffnungsvoller Wunsch. Genau diese Themen, aus denen Europa philosophiegeschichtlich hervorgegangen und gross geworden ist. Europa florierte während der Renaissance und in den folgenden Jahrhunderten, weil Dichter, Denker und Philosophen rechtliche und moralische Normen diskutierten und damit den Grundstein für Wohlstand und gesellschaftlichen Aufbruch legten.
Jacob Soll, der selbst den Grossteil seiner Kindheit in Frankreich verbracht hatte, verweist dabei auf seinen Vater, den Zellbiologen David R. Soll, der ab den 1970er Jahren Grundlagen für die RNA-Forschung legte. «Mein Vater sagte mir: Die grössten Entdeckungen kommen oft von Menschen mit einem Hintergrund in Geisteswissenschaften oder Kunst. Ich denke, wir müssen dorthin zurück.»
Fragile Gegenwart
Seit Donald Trump sei dieser Wunsch noch mehr zur Illusion geworden. Trump streicht nicht nur Gelder von Universitäten und Bildungseinrichtungen, sondern flirtet auch unverhohlen mit anderen Autokraten – und möchte selbst einer sein. «Amerika wird nie mehr das sein, was es war», stellt Soll bedauernd fest. «Wir haben eine Partei, die nicht nur offen mit Autoritarismus flirtet, sondern die Demokratie und die Märkte gefährdet.» Empathie, moralisches Denken und kritisches Hinterfragen gehörten nicht zu den Prioritäten der Trump-Agenda.
Europa, besonders die Schweiz, sieht er stabiler. «Hier stützen Bildung, Institutionen und politische Kultur die Gesellschaft, auch wenn die Menschen immer extremere Parteien wählen. Einen Kollaps der Demokratie möchte aber niemand wirklich.»
Jacob Soll war nur einige Tage in St.Gallen, aber er ist sicher, dass er bald wiederkommen wird. «Der Austausch mit den HSG-Studierenden hat mir wirklich sehr gefallen.» Gleichzeitig gibt es noch viel zu tun. Gerade an einer Universität wie der HSG sind moralische Überlegungen und gesellschaftliche Verantwortung in stürmischen und unsicheren Zeiten wichtiger denn je. Wirtschaftlicher Fortschritt gelingt nur mit menschlicher Verantwortung – nicht mit einer egoistischen «Winner-Take-All»-Philosophie.
Jacob Soll verbindet in seiner Forschung Geistes- und Wirtschaftswissenschaften und fokussiert dabei auf politische Verantwortung und Finanzsysteme. Er ist Professor für Philosophie, Geschichte und Rechnungswesen an der University of Southern California und Autor von Publishing The Prince (2005) oder Free Market: The History of an Idea (2022).
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