Am Samstag findet in der St.Galler Innenstadt das «Musig uf de Gass» statt. Das vom OpenAir St.Gallen durchgeführte Festival ist schon fast 40 Jahre lang ein fester Bestandteil der städtischen Konzertagenda und gibt jungen Ostschweizer Musiker:innen und Bands eine Bühne. Und seit jeher gilt es als «Sprungbrett» für jene Acts, die noch zu klein fürs grosse OpenAir im Sittertobel sind. So treten in diesem Jahr etwa die BandXOst-Gewinner von 2022 und 2024, Unlsh und 2kmafia, Olive Black, Batbait, San Silvan, Jeffi Lou, Janus Christus oder Subaqua auf.
Und der Sprung ist inzwischen etwas kleiner geworden: Seit das OpenAir 2015 die «Startrampe» – eine Bühne für Nachwuchsacts – eingeführt und diese 2022, im ersten Jahr nach der Pandemie, durch die Intro-Stage abgelöst hatte, spielen viele dieser Nachwuchsacts bereits im folgenden oder sogar im selben Jahr an beiden Festivals. Dieses Jahr sind Lea Wildhaber, Vianne und 2kmafia sowohl am «Musig uf de Gass» als auch im Sittertobel zu sehen.
Nebst der 2014 eigeführten Open-Air-Bühne in der Marktgasse, die das Waaghaus als Veranstaltungsort ersetzt hatte, findet das «Musik uf de Gass» auch indoor in verschiedenen Clubs statt: Palace, Talhof, Flon und Øya. Viele Jahre lang gehörte auch die Grabenhalle dazu, seit 2023 allerdings nicht mehr.
Der Grund dafür sei die Einverleibung des OpenAir St.Gallen beziehungsweise der Dachorganisation Wepromote durch den multinationalen Unterhaltungskonzern CTS Eventim Anfang 2020, sagt Barnabas Németh von der Grabenhalle. «Das löste bei uns Diskussionen aus, die letztlich zum Entschluss führten, dass das ‹Musig uf de Gass› keinen Platz mehr in unserer Halle haben soll.»
Teil eines multinationalen Grosskonzerns
Um diese Begründung einordnen zu können, braucht es einen kurzen Rückblick: 2015 wurde die E-Maxx Holding AG – die Mutterfirma des OpenAir St.Gallen und des Summerdays Festivals in Arbon – in Wepromote Entertainment Group AG umbenannt. Unter diesem Dach schlossen sich, nebst der OpenAir St.Gallen AG und der Summerdays Festivals AG, die Incognito Productions AG (Agentur von OASG-Geschäftsführer Christof Huber), die Gadget GmbH in Zürich und die Wildpony AG in Bern, die für das Booking des Gurtenfestivals zuständig war, zusammen.
Das Ziel war, in einem sich immer stärker konzentrierenden Markt die Unabhängigkeit der beteiligten Veranstalter zu sichern. So sagte Christof Huber nach der Übernahme des Openairs Frauenfeld durch den amerikanischen Grosskonzern Live Nation zur Gefahr einer Übernahme des OpenAir St.Gallen im «St.Galler Tagblatt»: «Die Wepromote Entertainment Group Switzerland ist kein börsenkotiertes Unternehmen. Daher können wir auch nicht übernommen werden.»
Wepromote wurde zwar nicht übernommen, aber Anfang 2020 stieg der deutsche Konzern CTS Eventim als Mehrheitsaktionär mit einem Anteil von 60 Prozent ein und hat faktisch das Sagen. Wepromote wurde in Gadget abc Entertainment Group umbenannt (heute: Gadget Entertainment Group). CTS Eventim zählt neben Live Nation, der 2018 auch die Schweizer Konzertagentur Mainland aufkaufte, zu den zwei grössten Playern weltweit im Konzertbusiness und ist in der Schweiz unter anderem mit den Agenturen Act Entertainment und Takk AB Entertainment (AB steht für André Béchir, einer der einfluss- und erfolgreichsten Schweizer Konzertveranstalter) oder den Tickethändlern Ticketcorner und See Tickets präsent. Auch FKP Scorpio, das in der Schweiz das Greenfield Festival oder in Deutschland die beiden Schwesterfestivals Southside und Hurricane organisiert, gehört dazu. CTS Eventim betreibt im Ausland sogar eigene Konzerthallen, etwa die Arena Milano, das Eventim Apollo in London, die Lanxess Arena in Köln oder die Waldbühne Berlin.

2020 riss sich CTS Eventim unter anderem das OpenAir St.Gallen und damit auch das «MuG» unter den Nagel.
Gadget organisiert in der Schweiz neben dem OpenAir St.Gallen und dem Summerdays Festival in Arbon auch dessen Schwesterfestival Seaside Festival in Spiez, das Unique Moments in Zürich, das Stars In Town Festival in Schaffhausen und das Radar Festival in Zürich sowie zahlreiche Konzerte.
So deckt der Riesenkonzern CTS Eventim – wie Live Nation – die ganze Nahrungskette selber ab: Er agiert als Management, Bookingagentur, Veranstalter, Tickethändler und Auftrittsort. Diese Machtkonzentration auf wenige Grosse führt dazu, dass viele kleinere Veranstalter:innen und Agenturen am Hungertuch nagen oder gar verhungern. So gab die Schweizer Agentur Glad We Met (unter anderem Stahlberger, Lord Kesseli & The Drums, Pyrit, One Sentence. Supervisor) Anfang Mai bekannt, Ende Jahr den Betreib einzustellen.
«Eine Investition in die regionale Musikszene»
Zurück zu «Musig uf de Gass»: Fabienne Wolfschläger, Head of Projects bei Gadget, bestätigt, dass die Grabenhalle den Rückzug vom «Musig uf de Gass», aber auch vom Honky-Tonk-Festival mit dem Einstieg von CTS Eventim bei Wepromote beziehungsweise Gadget begründet habe. «In der Mitteilung wurde uns erklärt, dass ‹ihr mit dem Verkauf der WePromote an Eventim als Veranstalter:innen nicht mehr mit unserem politischen Manifest vereinbar seid›.»
Die Verantwortlichen von Gadget nahmen den Entscheid der Grabenhalle nicht einfach so hin, sondern versuchten, diese nochmal zum Umdenken zu bewegen. Sie hätten das Gespräch gesucht und ihre Sichtweise sowie Argumente dargelegt, insbesondere im Hinblick auf den Mehrwert für junge Musiker:innen aus der Region, sagt Fabienne Wolfschläger. «Wir haben argumentiert, dass wir seit bald vier Jahrzehnten mit dem ‹Musig uf de Gass› gezielt regionale Nachwuchskünstler:innen fördern und viele Acts über diese Plattform den Weg auf unsere grösseren Bühnen am OpenAir St.Gallen oder anderen von uns organisierten Festivals finden.»
Das «Musig uf de Gass» sei zudem nicht gewinnorientiert – «im Gegenteil, es war immer defizitär», so Wolfschläger –, sondern gemeinnützig, «eine Investition des OpenAir St.Gallen in die regionale Musikszene». Ein Rückzug der Grabenhalle aus diesem Format würde vor allem die jungen Musiker:innen treffen, für die das «Musig uf de Gass» eine wichtige Plattform darstelle. Die Grabenhalle sei immer sehr gut besucht gewesen, meist sogar ausverkauft, sie sei also eine sehr wichtige und beliebte Plattform für Bands, sich zu präsentieren.
Die Grabenhalle habe daraufhin ihren Entscheid an einer weiteren Sitzung diskutiert, aber nicht revidiert. «Wir respektieren den Entscheid der Grabenhalle, auch wenn wir ihn bedauern», sagt Fabienne Wolfschläger. Sie möchte die Diskussion nicht weiter vertiefen. «Für uns ist das Thema mittlerweile abgeschlossen und wir richten den Blick nach vorne.»
Am Ziel vorbeigeschossen?
Bei allem Verständnis für die Vorbehalte gegenüber den grossen Konzernen, die mit ihrem Gebaren einen massiven Einfluss auf die Schweizer Konzertszene haben – schiesst die Grabenhalle nicht am Ziel vorbei, wenn sie einen lokal verankerten Anlass wie das «Musig uf de Gass» vor die Tür setzt? Oder anders gefragt: Trifft sie mit diesem Entscheid nicht die Falschen, nämlich die Nachwuchsmusiker:innen, denen eine attraktive Auftrittsmöglichkeit genommen wird?
Genau diese Fragen seien in der Betriebsgruppe, die sich aus «Abgeordneten» der insgesamt sieben Gruppen (Büro, Programm, Bar, Garderobe, Licht, Politgruppe und Hauswartung) zusammensetzt, intensiv und kontrovers diskutiert worden, sagt Barnabas Németh. Der Entscheid sei ihnen entsprechend sehr schwergefallen und auch knapp ausgefallen. Denn grundsätzlich sei man sich einig, dass das «Musig uf de Gass» eine gute Sache sei, auch wenn das OpenAir St.Gallen damit eine Art «Kultur-Greenwashing» betreibe. Kleine, sympathische Events kaschierten, dass im Hintergrund ein Riesenkonzern den Ton angebe.
«Wenn Kultur am Ende nur noch möglich ist mit der Unterstützung und Gnade solcher Konzerne, haben wir ein Problem.»
Ähnlich argumentiert Matthias Fässler, der in der Politgruppe der Grabenhalle aktiv ist. Auch er sprach sich gegen eine Weiterführung des «Musig uf de Gass» aus, obwohl er ebenfalls die Wichtigkeit dieser Plattform für die unbekannteren Acts anerkennt. «Das Problem ist aber nicht die Grabenhalle, sondern die zunehmende Verstrickung mit und Abhängigkeiten von Kulturanlässen von solchen Konzernen. Wenn Kultur, auch grössere Anlässe, am Ende nur noch möglich ist mit der Unterstützung und Gnade solcher Konzerne, haben wir ein Problem.»
Es sei deshalb wichtig, auch in diesem Fall kritisch hinzuschauen. Das «Musig uf de Gass» sei nicht nur ein Sprungbrett für Nachwuchsmusiker:innen, sondern auch eine Werbeplattform fürs OpenAir St.Gallen, und dieses sei Teil einer multinationalen, profitorientierten Aktiengesellschaft. «Natürlich glauben wir ihnen, dass ihnen dieser Anlass wichtig ist und nicht nur ökonomisches Kalkül dahintersteckt. Aber sie machen ihn auch nicht ausschliesslich aus Liebe zur Kultur», sagt Fässler. «Gerade als Grabenhalle, als ein nicht-kommerzieller Ort, müssen wir uns die Frage stellen, wie wir eigenständig bleiben können – das ist unsere Art des Kapitals und unsere Haltung.»
Spagatklubfestival als Alternative ins Leben gerufen
Das Nein zu «Musig uf de Gass» begünstigt habe auch die Tatsache, dass sich das OpenAir St.Gallen überhaupt nicht um die städtische Clubszene kümmere, sagt Németh. «Sie ploppen mit ‹Musig uf de Gass› einmal im Jahr in der Innenstadt auf, aber eine Vernetzung oder gar Verbundenheit mit den Clubs gibt es nicht.» Andere Festivals hingegen, beispielsweise die Musikfestwochen Winterthur, würden die städtischen Lokale einbeziehen. «Das OpenAir könnte beispielsweise das Programm auf der Intro-Stage zusammen mit den Clubs buchen oder im Sittertobel auf deren Technik-Crew zurückgreifen. Aber nichts dergleichen passiert.»
Németh betont ausserdem, dass man sich von «Musig uf de Gass» nicht getrennt hätte, ohne eine Alternative anzubieten. Auf Initiative der Grabenhalle wurde deshalb zusammen mit Palace, Flon und Talhof das Spagatklubfestival ins Leben gerufen, das seit 2023 jeweils Anfang Jahr in den vier Lokalen stattfindet. Dieses ist jedoch im Gegensatz zum «Musig uf de Gass» nicht nur regionalen Bands vorbehalten, im Line-up finden sich auch nationale und internationale Musiker:innen. «Wir wollten nicht ihren Anlass kopieren, sondern ein anderes Format entwickeln», sagt Németh.
Zusammenarbeit mit Gadget besteht weiterhin
Konsequent ist das Vorgehen der Grabenhalle allerdings nicht. Denn sie veranstaltet weiterhin Konzerte von Acts, die bei Gadget unter Vertrag stehen. Ausserdem verkauft sie, parallel zum üblichen Kanal Petzi, für ausgewählte Konzerte ein kleineres Kontingent an Eintrittskarten über See Tickets. CTS Eventim übernahm den Tickethändler, der seit 2020 und der Übernahme von Starticket in der Schweiz aktiv ist, 2024. Dieser gehörte zuvor (genauer: seit 2011) zum französischen Medienkonzern Vivendi, der vom rechtskonservativen Geschäftsmann Vincent Bolloré geleitet wird und auf dessen TV-Sender Canal+ beispielsweise der Rechtsradikale Éric Zemmour, 2022 Präsidentschaftskandidat in Frankreich, ein gerngesehener Gast war. Wie passt das also zusammen mit der erwähnten Haltung und dem Rauswurf von «Musig uf de Gass»?

Die Grabenhalle will das «MuG» seither nicht mehr bei sich durchführen.
Németh und Fässler räumen beide ein, dass die Grabenhalle natürlich nicht frei von Widersprüchen sei. Es gehe um die Frage, wo man wie viele Kompromisse eingehe, sagt Fässler. Das bestreffe etwa das Buchen von Konzerten, aber auch Werbung auf Plattformen wie Instagram, das zum Zuckerberg-Imperium Meta gehört.
Im Kollektiv gebe es unterschiedliche Ansichten dazu, wo die Schmerzgrenze sei. Die Grabenhalle müsse aber je länger, je mehr einen Spagat zwischen Pragmatismus und Haltung schaffen. Denn auch als nicht-kommerzielles Konzertlokal könne man die finanziellen Rahmenbedingungen nicht ignorieren. «Wir werden immer mit der Frage konfrontiert sein, ob wir aus finanziellen Gründen unsere Haltung ein Stückweit aufgeben müssen.»
Oder wie es Barnabas Németh sagt: «Ein Stückweit sind wir den Mechanismen des Marktes ausgeliefert. Würden wir uns dem ganz verweigern, könnten wir praktisch keine Konzerte mehr veranstalten oder fast nur solche von lokalen Bands. Die Konzertsituation ist ohnehin schwieriger geworden. Und wir brauchen auch Konzerte, die uns die Halle füllen.» Was See Tickets betreffe, wäre er persönlich dafür, sich von diesem Portal zu trennen. Gleichzeitig sei es ein wichtiger Kanal für die Programmgruppe, um die Sichtbarkeit der Konzerte zu erhöhen.
«Musig uf de Gass»: 31. Mai, ab 17.30 Uhr, Innenstadt St.Gallen (Marktgasse, Palace, Flon, Talhof und Øya).
musigufdegass.ch