Herr Kinzer, Sie haben in Ihrer Arbeit als Kulturchef der Stadt Lausanne viel für die Kulturschaffenden erreicht. Wie wichtig für diesen Erfolg war in den vergangenen Jahren die Einbindung der Kulturszene in kulturpolitische Arbeit?
Für mich war es wichtig in all unseren Massnahmen, dass es wirklich Bedürfnisse der Szene sind oder die Massnahmen der Szene dienen sollen. Die Kulturverwaltung und die Politik sollten bescheiden bleiben: Wir können nur etwas aufbauen, wenn es der Kulturszene entspricht.
Partizipation, Teilhabe, die Einbindung von Kulturszene - das klingt oft super. In der Umsetzung ist es aber meist nicht ganz so einfach, weil die Szene oft zersplittert ist und es sehr unterschiedliche Interessen gibt. Wie ist es Ihnen gelungen diese Prozesse so aufzugleisen, dass sich die Kulturschaffenden gesehen und gehört gefühlt haben?
Das erste wichtige Ziel eines Partizipationsprozesses ist es, dass die Akteurinnen und Akteure ihre eigenen Überzeugungen und Projekte einbringen. Das heisst auch, dass sie allen anderen Projekten begegnen werden. Ein Beispiel: Wenn man sich der ganzen Theater- und Tanzszene widmet, kommen 100 Personen und jede sagt was anderes. Aber genau das hilft zu verstehen, ein Teil einer Gesamtheit zu sein. Wenn man mit einzelnen Menschen redet, werden sie vor allem ihre persönlichen Bedürfnisse artikulieren und nicht unbedingt das Gesamtbild der Kulturszene vertreten.
Teilhabe bedeutet oft auch unterschiedliche Meinungen, manchmal auch Konflikte. Wie gehen Sie damit um?
Das ist richtig. Es sind nicht immer leichte Gespräche, weil manche Entscheidungen auch zu Enttäuschungen führen. Aber da darf man keine Angst haben vor Gegenwind und sollte bereit sein, Kritik einzustecken. Ganz ehrlich: Wenn wir das nicht zulassen, können wir das mit der Teilhabe gleich lassen.
«Man darf keine Angst haben vor Gegenwind und sollte bereit sein, Kritik einzustecken. Wenn wir das nicht zulassen, können wir das mit der Teilhabe gleich lassen.»
Wie eng ist Ihr Austausch mit der Kulturszene aktuell?
Wir treffen die Szene viermal im Jahr. Zweimal mit kulturpolitischen Themen und zweimal mit Blick auf die kulturelle Teilhabe. Hinzu kommen weitere Beteiligungsprozesse bei spezifischen Projekten. Bei der Neuaufstellung unserer Unterstützung für die Musik haben wir erst genau zugehört und eine Untersuchung gemacht. Wir haben Best-Practice-Beispiele aus anderen Städten vorgestellt und alle Key Player angehört, teilweise einzeln, teilweise gemeinsam. Wir haben zudem einen Fragebogen entwickelt, den jede und jeder ausfüllen und sich so einbringen konnte. Aus den Ergebnissen der Befragung haben wir eine Skizze erstellt, die wir in einem weiteren Treffen mit der Szene besprochen haben. Aus diesen Diskussionen haben wir ein konkretes Papier erarbeitet. Auch darauf konnten die Kulturschaffenden nochmals schriftlich reagieren. So sind schliesslich die Veränderungen unserer Politik entstanden. Das zeigt, dass ein partizipativer Prozess über mehrere Etappen gehen muss, auch damit Vertrauen aufgebaut wird. Wenn man nur eine Etappe macht, kann der Eindruck entstehen, dass sie nur ein Alibi ist.
Das ist ein immenser Aufwand. Wie können Sie das bei jedem Projekt leisten?
Klar, das ist aufwändig. Wir sind zu zehnt hier in der Abteilung, fünf davon arbeiten vor allem inhaltlich. Aber es muss nicht alles innerhalb kurzer Zeit passieren. Das sind oft Prozesse, die sich über viele Jahre erstrecken. Grundsätzlich sollten Verwaltung und Politik agil bleiben, um auf Bedürfnisse der Kulturszene reagieren zu können. Und manchmal ist es auch ganz einfach: Man kann das Telefon nehmen, mit vielen Leuten reden und dann entscheiden.
Während Sie die Kulturszene also gut einbinden, droht das Publikum in manchen kulturpolitischen Prozessen oft vergessen zu werden. Werden die Menschen, für die Kunst gemacht wird, bislang zu wenig berücksichtigt?
Ja, das Publikum wird bisweilen vergessen. Man kann die Bedeutung der Kultur aber nicht nur verteidigen, indem man sagt, sie sei ein Spiegelbild der Gesellschaft. Das ist zwar richtig: Kultur denkt zu Werten, Haltungen und gesellschaftlichen Zusammenhängen oft voraus. Und es ist teilweise auch sehr wichtig, Kulturprojekte zu fördern, die nicht unbedingt ein grosses Publikum ansprechen. Kluge Kulturpolitik bedient beides: Nischen und Populäres.
Nun arbeiten Sie mit Lausanne in einer grossen Stadt. Der Thurgau ist als Kanton sehr heterogen, sehr ländlich geprägt und es gibt kein eindeutiges Zentrum. Wie unterscheiden sich die Voraussetzungen für Kulturförderung zwischen Stadt und Land?
Die Bedingungen sind überall ein wenig anders. Der Thurgau ist nicht dasselbe wie ländliche Gebiete in der Waadt, Wallis oder in Genf. Grosse Städte prägen teilweise die Kulturpolitik einer ganzen Gegend. Teilweise entfaltet die ländliche Region eine stärkere Wirkung. Ich glaube, es geht um das Verständnis der jeweiligen Stärken einer Region. Es gibt nicht die eine richtige Kulturpolitik. Im Wallis ist der Kanton sehr stark, in Genf hat die Stadt eine sehr prägende Rolle bei Kulturinstitutionen. Interessant ist auch das Modell aus Fribourg, wo sich der Kanton eher der Produktion von Kultur widmet und die Städte eher der Animation, also dem, was dann in den Städten präsentiert wird.

Muss Kulturförderung im ländlichen Raum anders agieren als in einer Stadt?
Ja, ich finde schon. Die Kulturpolitik muss sich immer den Herausforderungen und Besonderheiten ihrer Region anpassen. Die Herausforderungen sind oft ähnlich: Angemessene Entschädigung für Künstler:innen, Möglichkeiten zu arbeiten, Arbeitsräume, Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten, aber die Realität der jeweiligen Szene ist dann von Ort zu Ort eben doch sehr verschieden.
Hier im Thurgau ist die ehrenamtliche Kulturarbeit ein wichtiger Teil des Kulturlebens. Wie geht man damit um?
In vielen ländlichen Regionen prägen Ehrenämter das Kulturleben stärker als in Städten. Das muss man entsprechend in der kulturpolitischen Arbeit berücksichtigen.
Neben Ihrer Arbeit in Lausanne waren Sie bis vor kurzem auch Präsident der Städtekonferenz Kultur. Funktioniert der Austausch dort oder achtet doch nur jeder auf sich selbst?
Der Austausch funktioniert sehr gut und ist wichtig. Genau das ist die Rolle der Städtekonferenz Kultur: Sie soll gute Beispiele sichtbar machen, von denen alle lernen können. So kann einmal Lausanne Frauenfeld helfen und ein anderes Mal Frauenfeld Lausanne. Wir müssen nicht immer alles neu erfinden. Wir haben dieselben Probleme und dieselben Herausforderungen, deshalb ist dieser Ort wichtig.
Was sind die besten Argumente für Kulturprojekte in Zeiten knapper werdender öffentlicher Gelder?
Ich finde es wichtig, dass man versteht, dass Kulturpolitik nicht nur Geld ist. Man muss viel über Arbeitsräume reden, und darüber Möglichkeiten zu finden, die es Kulturschaffenden leichter machen. Beispielsweise haben wir in Lausanne die Prozesse für Kulturschaffende erleichtert, die Gesuchstellung vereinfacht, namentlich damit auch jüngere Menschen einreichen können, ohne 30-seitige Dossiers schreiben zu müssen. Auf der politischen Ebene braucht es immer aufs Neue Überzeugungsarbeit. Wir müssen das Verständnis für Kultur verstärken, sagen, was die Kulturszene ist, erklären, wie Künstler:innen heute arbeiten. Schlicht gesagt: Da zählt wirklich einfach Lobbying. Das Wichtigste ist es, über die Worte hinauszugehen und den Leuten zu zeigen, was es wirklich heisst, Kulturschaffender zu sein.
Sie sind seit Anfang Juli Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Wie sehr helfen Ihre Erfahrungen aus der kulturpolitischen Arbeit der vergangenen Jahre für die neue Rolle?
Wichtig ist mir, Kulturpolitik muss als Ganzes zu betrachten. Generell sind die Fördergelder in der Schweiz so verteilt, dass 50 Prozent aus den Städten, 40 Prozent von den Kantonen und zehn Prozent vom Bund kommen. Diese 100-prozentige Unterstützung ist für die ganze Kulturszene zentral. Und da ist es wichtig, dass Städte, Kantone und Bund komplementär arbeiten und dass wir auch verstehen, wer welche Rolle spielt und wir nicht eigenständige Player sind.
Was bedeutet das für Pro Helvetia?
Als Kulturstiftung des Bundes sollte Pro Helvetia verstehen, was die Städte und Kantone bewirken, wo Lücken sind und sie spezifische Stärken und Missionen entwickeln kann, auch im Hinblick auf die Visibilität der Schweizer Kultur im Ausland. Pro Helvetia kann Potenziale nutzen, um auch dort etwas zu bewirken, wo noch Mangel herrscht.
War der Schritt zu Pro Helvetia auch ein Stück weit eine logische Fortsetzung ihrer Karriere – vom Kulturschaffenden zum Kulturamtsleiter zum Stiftungspräsidenten?
Bei mir war es immer ein Zufall. Ich hatte beruflich nie einen klaren Plan, sondern bin immer aus Leidenschaft von einer Station zur nächsten gegangen. Gelegenheiten haben sich gezeigt und ich hatte das Privileg, ihnen folgen zu können. Wenn ich 25 Jahre zurückschaue und sehe, wo ich heute bin, hätte ich das damals nie für möglich gehalten. Ich war leidenschaftlich gerne ein Kulturschaffender und Kulturorganisator. Ich konnte in Lausanne miterleben und mitgestalten, wie man mit Kultur eine Stadt lebenswert und attraktiv machen kann. Und ja, wahrscheinlich ist es eine logische Weitersetzung. Man lebt nur einmal. Auch wenn ich jetzt in Lausanne sehr glücklich bin, ist eine neue Erfahrung immer eine Möglichkeit, Neues zu entdecken.
Dieses Interview erschien erstmals bei thurgaukultur.ch.