Herr Kinzer, Sie waren viele Jahre Kulturschaffender und Kulturorganisator, Sie sind seit 2017 Kulturchef der Stadt Lausanne und haben Stadt und Kulturszene auf verschiedenen Wegen geprägt. Aus ihrer Erfahrung: Welche Rolle kann Kultur in der Entwicklung von Städten und Gemeinden spielen?
Kultur kann unser Zusammenleben prägen. Deshalb ist es wichtig, Kultur in alle Stadtentwicklungsprozesse einzubeziehen. Kultur schafft Dialog, Begegnung und Austausch, all das, was wir in der heutigen Gesellschaft dringend brauchen. Ausserdem profitieren Städte und Gemeinden auch wirtschaftlich davon, wenn sie in Kultur investieren. Wir haben in Lausanne eine Studie gemacht, die gezeigt hat, dass jeder investierte Franken in die Kultur mehr als drei Franken zurückbringt in die Region.
Macht Kultur in diesem Sinne eine Region attraktiver?
Ja, absolut. Attraktivität ist aber immer mehrdimensional. Sie wird touristisch gedacht, um Menschen in die Region zu locken. Aber natürlich ist die Attraktivität auch wichtig für die Leute, die bereits dort wohnen. Kultur ist in Sachen Lebensqualität und Wohlfühlfaktor ganz sicher ein Schlüsselakteur. Ich kann Ihnen das an einem Beispiel erklären, das mich sehr geprägt hat.
Sehr gerne. Welches war das?
Das Kulturzentrum Le Centquatre in Paris. Es ist eine Umnutzung der Stadt in einer durchmischten Nachbarschaft. Dort werden sehr zeitgenössische Positionen präsentiert und da kommen verschiedenste Publika zusammen. Dort tauscht man Bücher aus, besucht zeitgenössische Tanzperformances oder Kunstausstellungen. Dort treffen sich Familien aber auch einfach mit ihren Kindern und Freunden, es gibt Sportmöglichkeiten und dieses Zusammenleben und Zusammenbringen von sehr verschiedenen Aktivitäten ist sicher eine ganz grosse Stärke, die die Kultur leisten kann.
Wie schwierig war es für Sie in Ihren verschiedenen Aufgaben, diese Bedeutung von Kultur auch in die Politik zu vermitteln?
In Lausanne gibt es ein sehr gutes Verständnis von der Bedeutung der Kultur für unser Zusammenleben. Es ist hier schon vor Jahren gelungen, Kultur als etwas zu etablieren, das Teilhabe ermöglicht, das für alle Bevölkerungsgruppen und -schichten zugänglich ist und dass der Gesellschaft einen ganz speziellen Wert bringt. Wenn ich auf die Schweiz insgesamt blicke, dann sehe ich, dass dieses Verständnis für Kultur vor allem in den Städten eher gross ist. Von allen politischen Parteien. Viele alternative Kulturprojekte wurden lange auch von der politischen Rechten unterstützt.
Es gibt aber auch alternative Projekte, die von rechtsorientierten Politikern eher kritisch gesehen werden. Siehe die Reitschule in Bern zum Beispiel.
Das stimmt. Wenn man die Politik generell betrachtet, geht es auch um eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Ich glaube, dieses Misstrauen liegt in einem Missverständnis begründet – in einer Vorstellung, die das Kulturschaffen mit dem Bild des Zirkus verbindet Das wird der Kulturszene jedoch nicht gerecht. Natürlich sind Künstlerinnen und Künstler auf den Bühnen auch Akrobaten. Aber sie stehen auch für hochprofessionelle, wirtschaftliche Unternehmen. Dieses Verständnis vom Kulturbetrieb als einem Sektor von kleinen mittelständischen Unternehmen (KMU), die sich den heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu stellen haben, muss man immer wieder betonen. Lausanne bot dafür von Anfang an eher ein gutes Terrain.
«Natürlich sind Künstlerinnen und Künstler auf den Bühnen auch Akrobaten. Aber sie stehen auch für hochprofessionelle, wirtschaftliche Unternehmen.»
Wenn man ein solches Terrain noch nicht hat: Wie kann es gelingen, den Boden für Kultur besser zu bereiten in Politik und Gesellschaft?
Es ist ein Mix aus verschiedenen Methoden. Manchmal reichen auch Wörter allein nicht aus. Man muss erklären, was Kultur ist. Sie ist nicht nur elitär, man findet sie nicht nur auf institutionellen Bühnen. Kultur ist ein sehr breiter Begriff – auch Sprache, Gastronomie oder Journalismus sind Teile von Kultur. Sich darüber zu verständigen, dass die Unterstützung von Kultur sehr breit angelegt ist und viele Bereiche betrifft, das ist sicher ein zentrales Argument. Die spezifische, traditionelle Kulturförderung ist eigentlich nur ein Teil davon.
Wie geht’s weiter, wenn man sich darüber verständigt hat?
Man muss dann auch konkrete Fakten beisteuern können. Zum Beispiel zu Publikumszahlen und Besucherinteresse. Wir haben zum Beispiel in Lausanne eine Million Menschen, die in die Museen gehen und eine Million, die Musik, Theater und sonstige Bühnenproduktionen besuchen. Jede Stadt ist anders, aber die Politik muss sensibilisiert werden, dass das Interesse des Publikums an Kultur sehr breit ist. Die Zahlen zeigen, dass wir nicht von einer Minderheit von elitären Kunstfreunden sprechen, die diese Einrichtungen nutzt. Wir machen Angebote für eine sehr breite Mehrheit der Bevölkerung.
Sie haben schon das Stichwort KMUs genannt. Wird Kultur zu wenig als Wirtschaftsfaktor gesehen?
Oft leider ja. Die Studie zu den drei Franken, die man bekommt, wenn man einen Franken investiert in Kultur hatte ich bereits erwähnt. Dazu kommt: Man weiss, dass im Schnitt in der Schweizer Bevölkerung ca. sieben Prozent der Menschen im weitesten Sinne in der Kulturindustrie arbeiten. In den Städten und den urbanen Zentren geht diese Zahl schnell bis zu zehn Prozent hoch. Das ist nicht wenig. Auch wenn man diesen Sektor vergleicht mit anderen eher traditionellen Wirtschaftssektoren, die es oft leichter haben in der Politik.
Wie wichtig sind empirische Daten und belastbare Zahlen für die Überzeugungsarbeit in der Politik?
Sehr, sehr wichtig. Auch wenn sie nicht immer gelesen werden. Allein die Tatsache, uns darauf stützen zu können, finde ich sehr wichtig. Wie erwähnt: Wir dienen in der Kulturpolitik auch der Kulturszene. Darum sollten wir die Szene auch gut kennen. Zwar verfügen alle, die wir in der Kulturförderung arbeiten über ein gutes Verständnis der Milieus, aber wir überblicken eben immer nur einen Teil. Wenn man mit der Szene und den Experten vor Ort spricht, kommt es vor, dass sich Überzeugungen als falsch herausstellen. Es gilt bescheiden zu sein und zu akzeptieren, dass unsere Überzeugungen und unser Verständnis zumindest unvollkommen sind.

Schauen wir nochmal auf ihre konkrete Arbeit in Lausanne: Wie lief die Arbeit zwischen Stadtentwicklung und Kultur bei Ihnen ab?
Es gab kein festes Muster. Jedes Projekt wurde individuell betrachtet und manchmal war es auch Zufall. Doch Stadtentwicklungsprozesse mit Kultur zu begleiten ist politisch oft sinnvoll. Lausanne hat aktuell grosse Bau- und Entwicklungsprojekte auf dem Tisch, bei denen Kultur von Anfang an eine wichtige Rolle spielt. Beispielsweise sollen Festivals eingebettet werden und kleine Kulturlocations der Belebung dienen.
Welche Rolle spielt dabei die Kulturszene vor Ort?
Eine grosse. Die Dynamik der Kulturszene ist wichtig. Es liegt eben nicht alles an der Politik. Eine Szene, die sich mobilisiert und einbringt, so dass die Gesellschaft und die Stadt darauf reagieren können, ist ebenso relevant. Ich würde also sagen: Zwischen politischer Entscheidung, Dynamik der Kulturszene und ein bisschen Zufall liegt der heilige Gral, der Stadtentwicklung und Kultur zusammenführt. Aber allgemeine Antworten gibt es kaum. Man muss die einzelnen Projekte betrachten.
Gibt es ein herausragendes Projekt Ihrer Amtszeit, woran man das beispielhaft erklären könnte?
Wenn man über ein Projekt reden kann, das eine echter Weichenstellung war, dann ist es natürlich das Projekt «Plateform 10», das neue grosse Museumsquartier in Lausanne. Auf dem Areal gibt es heute drei Museen, die in einem neuen Quartier direkt neben dem Bahnhof in Neubauten beheimatet sind. Solche Bauprojekte ändern die ganze Dynamik eines Quartiers. Die Potenziale und Resultate dieses Areals werden wir erst in zwanzig Jahren richtig beurteilen können. Das erste Museum hat 2019 eröffnet, die anderen 2022. Die Geschichte ist also noch sehr jung. Aber ganz sicher ist mit diesem Projekt ein komplett neues Kapitel für die Kulturpolitik und das Kulturleben der Stadt geschrieben worden.
Was konkret hat das Projekt gebracht?
Die drei Museen hatten im letzten Jahr über 400’000 Besucher:innen, das ist deutlich mehr als sie früher zusammen früher an ihren jeweils eigenen Standorten verzeichneten. Bei solchen Grossprojekten mit Stadt und Kanton braucht es auch pragmatisches Denken: Die Bereitschaft, zu skizzieren, was für die Kultur und was für das Publikum wichtig ist und sich dann darauf zu einigen. Man muss über den eigenen Horizont hinaus schauen. Sonst gelingen keine grossen Würfe.
Wie haben Sie sich in Lausanne der Szene über Studien angenähert?
Als ich hier angefangen habe, haben wir sehr schnell mehrere Studien aufgegleist über das Wirtschaftssystem in der Musik oder über die Theater- und Tanzlandschaft. Auch in den Visuellen Künsten haben wir zwei Untersuchungen lanciert. Das Wichtigste, wenn man eine solche Studie veranlasst, ist: Man muss auch die Überzeugung und die Möglichkeit haben, sie zu nutzen. Schlimm sind Untersuchungen, die bald irgendwo in der Schublade verschwinden und nichts daraus entsteht. Man muss die Überzeugung haben, dass man etwas bewirken kann, und man muss es wollen.
Was konkret haben Sie mit Hilfe von Studien erreicht?
Wir haben beispielsweise für die Musikszene sehr viel bewirkt. Wir haben 30 neue Proberäume geschaffen, wir haben drei neue Clubs gegründet und wir haben unsere Förderinstrumente neu aufgesetzt. Wir haben neue Fördergefässe für junge Künstler:innen und auch für die Kulturindustrie geschaffen. Diese Massnahmen stützen sich zum grossen Teil auf Studien, die wir in Auftrag gegeben haben. So werden Projekte greifbar.
Die Studien sind das eine, aber geht es nicht auch darum, dass Politiker:innen und Bürger:innen selbst erleben müssen, was Kultur eigentlich bedeutet?
Absolut. Das ist ein wichtiger Aspekt. Was heisst es, Kultur zu produzieren und etwas dem Publikum zu zeigen? Es geht darum, die Menschen mitzunehmen und alle Facetten der künstlerischen Arbeit zu zeigen. Beispielsweise mit Einladungen hinter die Kulissen um Einblicke zu geben, wie man ein Bühnenbild baut, was es heisst, eine Aufführung auf die Bühne zu bringen für eine öffentliche Vorstellung, was es heisst, in einem Museum zu arbeiten, was es heisst die Sammlungen zu bewirten. Es ist wichtig, konkret zu zeigen, was Kultur macht und wie sie arbeitet. Wenn man nur mit Worten arbeitet, dann besteht die Gefahr, auf einer theoretischen Ebene zu bleiben und die Menschen nicht vollends überzeugen zu können.
Das heisst, Kultur- und Kunstschaffende müssen transparenter werden in ihrer Arbeitsweise?
Genau. Denn was bedeutet es heute überhaupt, Künstler:in zu sein? Wie arbeiten die Kulturschaffenden über das Jahr? Wie kann man als Schauspieler einen Text erarbeiten, im Wissen darum, dass die Arbeit erst ab den Proben bezahlt werden wird? Dann sollte der Text im Grunde schon sitzen. Das Verständnis dafür, was es wirklich heisst, kulturschaffend zu sein, gilt es zu steigern.
Folgt das dem Prinzip, dass man erst dann etwas wirklich zu schätzen weiss, wenn man versteht, unter welchen Bedingungen und nach welchen Kriterien diese Dinge entstehen?
Ja. Das ist im Grunde in allen Bereichen so. Sowohl in der internationalen Politik, in der Gewerkschaftsarbeit oder in einem Restaurant. Wenn man nicht wirklich versteht, was die Leute in diesen Bereichen machen, wenn man Sachen nicht anfassen und mit den Menschen in diesem Betrieb nicht reden oder Prozesse selbst erleben kann, dann geht etwas an uns vorbei. Es ist ein emotionaler Faktor, der sich verstärken lässt.
«Man muss über den eigenen Horizont hinaus schauen. Sonst gelingen keine grossen Würfe.»
Wie kann man so ein visionäres Denken, das es ja für solche grosse Projekte braucht, auch in die Politik vermitteln? Gerade in diesen Zeiten, wo es schnell heisst, dafür haben wir eigentlich kein Geld.
Das braucht erstmal Zeit. Wir nahmen verschiedene Anläufe und es hat nicht auf Anhieb geklappt. Ein Vorgängerprojekt am Seeufer wurde von der Bevölkerung abgelehnt. Aus diesem enttäuschenden Resultat entstand eine neue Chance, denn der ursprüngliche Plan sah nur einen Museumsneubau vor. Heute sind es drei Museen, hinzu kommen weitere Bauten, über deren Nutzung noch nicht abschliessend entschieden wurde.
Was war ausschlaggebend dafür, dass dieses Projekt gelungen ist?
Es gab eine starke Überzeugung in der lokalen Politik, dazu gehört auch der Kanton, dass dieses Projekt richtig und sinnvoll ist. Es braucht ein Verständnis von der Wichtigkeit der Kultur, politische Courage, den Glauben an die Projekte und die Fähigkeit, Zweifel auszuräumen.
Ein klares Plädoyer für mehr Mut in der Politik?
Ja. Manchmal braucht es einfach die politische Courage zu sagen, wir gehen dieses Risiko ein. Denn es geht um zehn Prozent der Bevölkerung, die in der Kulturindustrie arbeiten, um einen wichtigen Teil des Zusammenlebens, um einen wichtigen Beitrag an die Attraktivität der Region.
Dieses Interview erschien erstmals bei thurgaukultur.ch.
Im zweiten Teil des Interviews geht es nächste Woche um Teilhabe, den Unterschied zwischen Kulturförderung in der Stadt und auf dem Land sowie die Rolle des Publikums.