, 2. Oktober 2021
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«Wir müssen etwas tun»

Netto Null bis 2050 – so steht es im Energiekonzept der Stadt St.Gallen. Die Stadt hat in einer «Roadmap» dazu eine Vielzahl von Massnahmen aufgelistet. Aber es braucht Menschen, die sie umsetzen. Leute wie Judith und Ben Stokvis, Christian Huber, Toni Braun und Fredy Zaugg.

2050? Das werde ich aller Voraussicht nach nicht mehr erleben. Judith und Ben Stokvis und ihre beiden Mädchen Irma und Meret, drei und fünf Jahre alt, hingegen schon. Netto Null, da geht es um ihre Zukunft, um eine lebenswerte Stadt, um einen lebenstauglichen Planeten. Manchmal mache sie sich schon Sorgen, sehr grundsätzliche, um die Kinder, um diesen Planeten und seine Bewohnerinnen und Bewohner, sagt Judith. Aber besser als sich zu sorgen findet sie: handeln.

Wir stehen im prächtigen Garten an der Lilienstrasse im Sömmerliquartier. Die Äpfel sind reif, die Bohnen ranken sich den Maisstengeln entlang, Beeren, Wildkräuter, Blumen, Gemüse wechseln sich ab, eine Prachtsgurke leuchtet hervor. Gezüpfelt und gepützelt ist hier nichts, dafür wächst die Natur kraftvoll, nährt den Boden, die Insekten, Vögel und Menschen. Und erfreut auch die Nachbarskinder, die zum Beispiel den Nestbau der Wespenspinne mit Interesse verfolgt haben.

Judith und Ben Stockvis in ihrem Garten. (Bilder: Su.)

Permakultur heisst das Zauberwort. Noch seien sie am Herausfinden, was sich womit verträgt, wie man mit den Schnecken zurechtkommt, bei welchem Gemüse alle Liebesmüh vergeblich ist. «Broccoli und Fenchel pflanzen wir nur noch für die Raupen», lacht Judith Stokvis. Der Garten ist ihre Leidenschaft – und zugleich mehr als ein Stück Natur. Permakultur sei eine Haltung: pfleglich, nachhaltig, ressourcenschonend mit der Umwelt und mit den Menschen umzugehen.

Ökologisch, aber nicht missionarisch

Diese Haltung umfasst bei der Familie Stokvis alle Lebensbereiche. Fleisch gebe es einmal pro Woche – dafür können die Kinder auswählen, was es sein soll. Über dem Tisch brennen LED-Lampen, die Stromschienen sind nachts ausgeschaltet, Putzmittel und Shampoo ökologisch, das Essen saisonal und regional, die Temperatur im Schlafzimmer gedrosselt, weggeworfen wird möglichst nichts. Und im Quartier wird Teilen, Reparieren und Leihen grossgeschrieben. Auf einem Chat tauschen die Nachbar:innen Angebote aus. Die Devise heisst: Man muss nicht alles selber haben.

Weniger Platzverschleiss geht auch. Gerade einmal rund 60 Quadratmeter Wohnfläche umfasst das Haus der Bavo-Genossenschaft, in dem Ben und Judith mit ihren Kindern seit 2019 leben. Was beim Bau der einstigen Arbeiterhäuschen in den 1940er-Jahren zur Schonung der schmalen Portemonnaies gedacht war – wenig Wohnraum, aber ein grosser Garten zur Selbstversorgung –, ist heute aktueller denn je und trifft den ökologischen Nerv.

«Wir sind relativ pragmatisch und überhaupt nicht missionarisch unterwegs», sagt Judith. Es sei, in ihrem luzernischen Herkunftsdialekt ausgedrückt, «rüde» wichtig, das Leben zu geniessen und – gerade mit Kindern – keinen Murx aus dem Alltag zu machen. «Wir sind nicht Tag und Nacht daran, unser Verhalten zu analysieren. Und Kinder wollen ja Dinge ausprobieren.» Die Regel könnte ganz einfach heissen: «Lebe so, dass es dir gut geht, ohne dass es anderen schlecht geht.»

Etwas bürokratischer zwar im Tonfall, mahnt auch die Stadt dieses Prinzip Eigenverantwortung an: «Technische Massnahmen und politische Entscheide können viel bewirken. Letztlich benötigt effektiver Klimaschutz aber das Mitwirken der ganzen Gesellschaft wie auch jeder und jedes Einzelnen.»

Der Satz stand im Text des Stadtrats zur Abstimmung vom 27. September 2020 über einen Klimaartikel in der Gemeindeordnung. Der Artikel verpflichtet die Stadt dazu, das Ziel Netto Null CO2-Emissionen 2050 verbindlich festzulegen und Massnahmen zum Schutz vor den Folgen des Klimawandels zu ergreifen. Die Zustimmung der Stadtbevölkerung war überwältigend: 79,1 Prozent sagten Ja. Seither ist das Klimaziel verschärft: auf Null Tonnen, statt wie zuvor 1 Tonne CO2 pro Person und Jahr.

«Eine Stadt, die Fernwärme hat, hat grosse Vorteile»

Wie dieses Null-Emissionsziel zu erreichen ist, zeigt die zum Energiekonzept gehörige «Roadmap» auf, im Parlament im Mai 2020 gutgeheissen. In Fünf-Jahres-Schritten legt sie die Massnahmen auf den drei Hauptfeldern Wärme, Strom und Mobilität fest. Beim Strom etwa heisst es anno 2030: «Der Atomstrom wird auf null reduziert.» Und die Leistung der Photovoltaik-Anlagen auf Stadtgebiet steigt bis 2050 sukzessive auf rund das Zehnfache der heutigen Leistung. Von den benötigten 640 Gigawattstunden (GWh) pro Jahr 2050 soll die Hälfte aus Schweizer Wasserkraft, 150 GWh aus lokaler Solarenergie, 70 GWh aus Wärme-Kraft-Koppelungsanlagen und 100 GWh aus importiertem erneuerbarem Strom, insbesondere Windenergie kommen. Die Mobilität, privat und öffentlich, soll zu 100 Prozent dekarbonisiert sein. Und fossile Heizungen werden ab 2030 nicht mehr bewilligt – die Wärme liefern Wärmepumpen und Fernwärmekraftwerke, dazu Biogas.

Ben und Judith Stokvis sind wenig begeistert über die Aussicht, demnächst an die Fernwärme-Versorgung der Stadt angeschlossen zu werden als Ersatz für die heutige elektrische Heizung, die zwar auch nicht ideal sei, bei der man sich jedoch wenigstens für Ökostrom entscheiden und den Verbrauch genau steuern könne. Von ihrer Stube aus sind die Kamine der Fernwärmezentrale Waldau zu sehen – dass dort mit fossilen Brennstoffen zugeheizt werden muss, sobald der Verbrauch im Winter steigt, sei wenig zukunftsträchtig, ebenso wie die Tatsache, dass Fernwärme-Anlagen insgesamt auf einer Abfall-Logik aufbauen.

Ben hätte sich drum eine Solarheizung oder Erdwärme erhofft, die Genossenschaft hatte dafür jedoch kein Gehör. Mieter:innen-Schicksal…

Ja, bestätigt an der Vadianstrasse, in der Dienststelle Umwelt und Energie der Stadt St.Gallen deren Leiter Fredy Zaugg: «Als Mieterin oder Mieter hat man kaum einen Hebel in der Hand, wenn es um die Heizung geht.» Das Sagen haben die Besitzerinnen und Besitzer von Liegenschaften. Zaugg berät sie hier im Büro in allen Fragen rund um Wärme und Stromversorgung. Und Fernwärme ist nach seiner Überzeugung eine zentrale Voraussetzung zur Erreichung des Netto-Null-Ziels.

Die Stadt nimmt dafür auch Geld in die Hand: Im Energiefonds liegen jährlich knapp 4 Millionen Franken (gespiesen aus einer Abgabe auf den Strombezug von 0.95 Rp./kWh), mit denen Umstellungen auf erneuerbare Energie subventioniert werden können. Ein vergleichbares Förderprogramm hat auch der Kanton; für jeden Franken, den der Kanton zahlt, legt der Bund zwei Franken drauf.

Freddy Zaugg im Sitzungszimmer der Fachstelle Energie und Umwelt.

«Eine Stadt, die Fernwärme hat, hat bezüglich der zukünftigen Wärmeversorgung grosse Vorteile» sagt Zaugg. Die Technik sei attraktiv, statt Ölbrenner und Tankräume braucht es nur noch einen Wärmetauscher im Keller. Und ökologisch intelligent, weil die Wärme aus der Verbrennung von Abfall kommt, die sonst in die Luft verpufft. Inzwischen hängen, laut Geschäftsbericht der Stadtwerke, gut 17’000 oder rund vier von zehn städtischen Haushalten am Fernwärmenetz, gespiesen durch die Kehrichtverbrennungsanlage im Sittertobel und die Fernwärmezentralen in der Waldau, der Olma, der Stadtsäge und demnächst in der Lukasmühle bei St.Fiden.

Damit sind allerdings aktuell erst circa 15 Prozent des städtischen Wärmebedarfs gedeckt – bis 2050 sollen es 45 Prozent sein, weitere 45 Prozent sollen durch Wärmepumpen geheizt werden, der Rest sind kleinere Nahwärmeverbunde, die mit Blockheizkraftwerken betrieben werden.

Fossil nachfeuern in Spitzenzeiten? Dafür gebe es aktuell keine Alternative, sagt Zaugg, doch spätestens ab  2050 werde auch das Nachfeuern mit 100 % erneuerbaren Energien erfolgen. Und wenn die Plastikabfälle wegfallen, was ökologisch wünschbar ist – und damit der Superbrennstoff in der Kehrichtverbrennung? Plastikrecycling im grossen Stil scheitere daran, dass hierzulande die Sortierung (noch) nicht rentiert. Aber das werde wohl kommen.

Für zusätzliche Fernwärme-Leistung und Plastik-Ersatz soll dereinst ein Altholzheizkraftwerk sorgen. Das Entsorgungsunternehmen Max Müller AG in der Martinsbrugg dränge seit langem darauf, die Stadt müsste aber mitinvestieren. Bis der politische Wille dafür da ist, fährt Müller das Altholz ins Südtirol – kommt das Altholz-Kraftwerk nicht, dann fehlen für die Erfüllung der Energie-Roadmap rund 60 Gigawattstunden jährlich.

Der springende Punkt: Wärme kann man nicht weit transportieren. Städte mit Seeanstoss wie Zürich oder Luzern bauen deshalb Seewasser-Kraftwerke. Städte wie St.Gallen setzen auf Verbrennung, ein Prozess, der als CO2-neutral taxiert wird, weil der Abfall so oder so verbrannt werden muss – und bauen künftig auf eine Technologie, die sich «Power to Gas» nennt. Den Prozess erklärt Fredy Zaugg so: Das bei der Verbrennung in den Wärmezentralen entstehende CO2 wird mit Wasserstoff zusammengefügt, dadurch entsteht Methan, das direkt ins Gasnetz eingespiesen werden kann. Den Wasserstoff wiederum gewinnt man durch Elektrolyse, die Spaltung von Wasser in seine H- und O-Moleküle. Das braucht Strom – ökologisch vertretbar ist diese Technik also dann, wenn man sie mit Überschussstrom aus erneuerbaren Stromquellen umsetzen kann.

Und da schliesst sich der Kreis zu den Photovoltaikanlagen auf Stadtgebiet: Sobald davon genügend vorhanden ist, fällt in Spitzenzeiten Strom an, der nicht anderweitig benötigt wird.

Wärme aus dem Boden, Strom vom Dach

Zum Beispiel bei Toni und Rita Braun am Schoretshuebweg, im äussersten Westen der Stadt. Schmuckes Einfamilienhausquartier, Sackgasse, dahinter Wiesen und Wald. Hier kommt demnächst eine solche Photovoltaik-Anlage aufs Dach. Bereits realisiert ist der Hauptbrocken der energetischen Sanierung: die Erdwärmebohrung. Nur eine kleine Delle in der Zufahrt zum Haus verrät, wo gebohrt worden ist, 240 Meter in die Tiefe.

Es gehe ihm ums Ideelle, sagt Toni Braun drinnen am Stubentisch. Der Förderbeitrag aus den Energiefonds von Stadt und Kanton sei natürlich willkommen, aber habe für ihn nicht den Ausschlag gegeben. Erst vor acht Jahren hatten die Brauns ihre Ölheizung erneuert, notgedrungen, weil mitten im eiskalten Februar der alte Kessel den Geist aufgegeben hatte. Der konnte zwar schnell ersetzt werden – für eine nachhaltige Umrüstung fehlte jedoch die Zeit.

Hier geht es 240 Meter in die Tiefe: Toni Braun vor seinem Haus in Winkeln.

Toni Braun, pensionierter Baufachmann, hätte schon damals lieber umgestellt. Auch jetzt wäre die Investition nicht zwingend gewesen; schon bisher verfeuerten die Brauns vergleichsweise wenig Öl, ihr 40-jähriges Haus war von Beginn weg gut isoliert, der neue Kessel auf dem modernsten Stand. «Aber man muss seinen Beitrag leisten.» Und rechnen lohne sich auch: Die Ölkosten fallen weg, der Service wird günstiger, die CO2-Bilanz stimmt. Die PV-Anlage auf dem Dach – mit in Europa hergestellten Modulen – werde sich innert etwa zehn Jahren amortisieren. Und der Strom fliesst erst noch für einen guten Zweck: Bei Brauns laufen Herd und Ofen regelmässig heiss, weil sie für das Restaurant «Drahtseilbähnli», das Tochter und Sohn im St.Galler Klosterviertel betreiben, backen.

Nachhaltigkeit sei ihm ein Anliegen, sagt Toni Braun – und dies nicht erst, seit es alle gemerkt hätten. Und korrigiert dann: «fast alle». Oder eben auch: noch lange nicht alle… «Viele Einfamilienhaus-Besitzer wollen einfach nicht und jammern über die Kosten. Absurd, bei den tiefen Hypozinsen und bei der schnellen Amortisation von PV-Anlagen.»

Besonders «auf den Keks gegangen» sei ihm der Hauseigentümerverband, als dieser, noch nicht lange her, seine Mitglieder dazu gedrängt hatte, alte durch neue Ölheizungen zu ersetzen, solange dies noch ohne weitere Auflagen erlaubt sei. «Und die Firmen sind nicht mehr nachgekommen mit Liefern.» Solches ärgert ihn klimapolitisch, aber auch persönlich.

Ebenso wenig Verständnis hat er für das Argument von rechts, als Einzelner könne man sowieso nichts ausrichten. «Wir müssen gopferteckel alles tun, damit wir die CO2-Neutralität hinkriegen», insistiert Toni Braun. «Die Erde ist doch kein Konsumgut, das wir einfach aufbrauchen können.» Und die Schweiz als reichstes Land müsse vorangehen – beziehungsweise in Sachen Photovoltaik erstmal ihren Rückstand aufholen. Die Klimajugend ist Brauns Hoffnung: «Die hat mehr bewirkt, als viele wahrhaben wollen.»

3,4 Tonnen pro Person müssen weg

Was kann man als einzelne und einzelner bewirken? Was ist mit all den Anstrengungen gewonnen mit Blick auf das Netto-Null-Ziel? Gerade hat die Stadtverwaltung eine neue Kampagne zum Thema gestartet, ihr Titel: «Watt bin ich?» Rasenmähen mit der Sense? Auto-Sharing? Selber gärtnern? Alles gut und löblich, aber erst die Summe machts.

Die Aktion Watt-bin-ich

Unter dem Stichwort «Watt für eine Heldentat!» porträtiert die Stadt St.Gallen vier Personen in Comics als «Watt-Superheld:innen». Die Bevölkerung soll damit eingeladen werden, ihren eigenen Beitrag an die Klimaziele des Energiekonzepts 2050 zu leisten und zu teilen. Watt-Taten, Tipps und Tricks können bis Mitte Dezember 2021 eingereicht werden mit der Chance, einen Preis zu gewinnen.

watt-bin-ich.ch

Den ökologischen Fussabdruck pro Stadtbewohner:in beziffert das Energiekonzept auf insgesamt 13,3 Tonnen pro Jahr. Rund 7 Tonnen entstehen durch unser Konsumverhalten, hinzu kommen Emissionen aus der Industrie und Landwirtschaft. Was im engeren Sinn in der Stadt selber an Emissionen anfällt, sind rund 3,4 Tonnen. Das ist der Wert, der gemäss dem im Pariser Klimaabkommen definierten Territorialprinzip als selbstverursacht gilt und für das Netto-Null-Ziel massgeblich ist. Für dieses Ziel fühlen sich die Stadtwerke zuständig.

Anders sieht es mit den Emissionen aus Konsumverhalten und Ressourcenverschleiss aus, bis hin zur Fliegerei. Die daraus errechneten rund 7 Tonnen pro Kopf und Jahr könnten mit rein technischen Lösungen nicht weggezaubert werden. «Das geht nur mit dem Einsatz aller. Diese Emissionen betreffen direkt unser Alltagsverhalten», sagt Fredy Zaugg.

Bis Ende Jahr will die Stadt auch dazu einen Bericht vorlegen und aufzeigen, mit welchem «Verhaltenstyp» welche Verbesserung fürs Klima erreicht werden kann. Entscheidend dabei, und nach Zauggs Überzeugung «Bremsklotz Nummer eins» auf dem Weg zu einem besseren Klima: das Auto. «In der Gebäudetechnik und beim Strom sind wir weit voran. Das Energiegesetz gibt hohe ökologische Standards vor. Aber in Sachen Mobilität haben wir bisher gar nichts erreicht.»

Stadt der Hügel – Stadt für Velos

Der Nordhang der Stadt St.Gallen ist legendär stotzig, der Aufstieg zur Schneebergstrasse schweisstreibend, die Aussicht über die Dächer der Altstadt dafür fantastisch. Christian Huber ist die Steigung gewöhnt, sie ist sein täglicher Arbeitsweg mit dem Velo. «Ich schaffe es grad noch in der aeroben Phase», lacht er. Huber wohnt hier seit rund eineinhalb Jahren mit seiner Partnerin, unterrichtet an der Kanti am Burggraben und in Herisau Geschichte und Politik, sitzt für die Grünen im Stadtparlament und präsidiert die Stadtpartei.

Schon als Kind sei er bei jedem Wetter mit dem Velo unterwegs gewesen, damals am Rosenberg. A propos Hügel: Natürlich sei St.Gallen mit seinen engen Platzverhältnissen und den vielen Steigungen kein ideales Pflaster fürs Velo. Aber andrerseits falle dieser Einwand dank den E-Bikes zunehmend weg. Die Velostadt St.Gallen mache denn auch vorwärts, habe aber noch viel «Optimierungspotential». Entscheidend werde die Veloschnellroute von Ost nach West sein, geplant, aber immer noch mit schmerzlichen Lücken. Zudem gebe es auf den Zufahrtswegen zur Innenstadt zahlreiche gemeingefährliche Stellen für den Veloverkehr, die einfach akzeptiert würden. «Wenn man sieht, was andere Städte im Coronajahr für die Velos getan haben, dann muss man sagen: Da hat St.Gallen eine Chance verspielt.»

«Die Stadt hat in der Pandemie eine Chance fürs Velo verspielt»: Christian Huber.

Huber vermisst auch die Experimentierfreude – die Ruckhalden-Veloroute etwa, auf dem ehemaligen Trassee der Appenzellerbahnen, hätte man ruhig ein paar Jahre betreiben und testen können, damit die stadteinwärts fahrenden Velofahrerinnen und Velofahrer nicht wie heute in den Stosszeiten üblich neben den Autos auf der Teufener Strasse ohne Velospur im Stau stehen müssten.

Immerhin: 15 Millionen Franken für Velomassnahmen wurden auf Druck der Veloinitiative vom Parlament beschlossen – «da muss es jetzt endlich vorwärtsgehen». Und die beiden Stadtklima-Initiativen, von der nationalen Organisation umverkehR und den Grünen lanciert mit dem Ziel, mehr Grün ins Strassenbild und mehr Platz für den Velo- und Fussverkehr zu schaffen, haben nach seiner Einschätzung gute Chancen im Parlament.

Neben baulichen Lösungen, neben erneuerbaren Energien und technischer Effizienz brauche es aber auch Suffizienz, ist Huber überzeugt: ein allgemeines «Weniger» in Sachen Konsum, Verbrauch und Verschleiss. Das versuche er auch seinen Schülerinnen und Schülern an der Kanti und an der Berufsmittelschule zu vermitteln. Eigenverantwortlich handeln zu können, setze nun mal Wissen und Bildung voraus. Passend: Das Haus, in dem Huber wohnt, trägt den schönen Namen «Veritas».

Was die Zukunft betrifft, ist Christian Huber eher pessimistischMit Verbesserungen für den Langsamverkehr sei das Klima natürlich noch nicht gerettet. Und die Elektromobilität schaffe massive neue Probleme: Ressourcenabbau im globalen Süden, noch mehr Landverlust für den Strassenbau bei uns, ungelöste Recyclingfragen… «Der Klimazustand der Erde ist die mit Abstand am besten untersuchte Wissenschaft der Welt», sagt Huber. «Und trotzdem ist kein einziges Land weltweit auf Kurs in Sachen Klimapolitik. Es wird alles auf künftige Generationen abgewälzt, die dann die Katastrophe irgendwie ausbaden sollen. Aber was bleibt anderes übrig, als auf regionaler Ebene das uns Mögliche zu tun?»

Brachen fürs Klima

Da hakt auch der Energiespezialist der Stadt ein. Fredy Zaugg sieht zwar trotz aller Rohstoff-Problematik die Elektromobilität im Vorteil gegenüber dem Benzinmotor, «der mehr heizt als fährt». Aber der Haken bleibe, dass die Infrastruktur landesweit noch immer völlig «autobasiert» sei. Und die Autos werden immer grösser, fressen auch mit E-Motoren immer mehr Land. Beispielhaft dafür: die nach seiner Ansicht überholten Pläne für einen zusätzlichen Autobahnanschluss beim Güterbahnhof. «Es geht in Sachen Mobilität in die falsche Richtung», sagt Zaugg.

In die richtige Richtung könnte es hingegen im Niemandsland von St.Fiden zwischen Autobahn und SBB gehen. Dort im Osten beackern Ben und Judith Stokvis seit diesem Jahr mit zwei weiteren Gartenfreunden ein knapp 1000 Quadratmeter grosses Stück Wiesland. Kartoffeln sind gewachsen, ein Maisfeld, ein paar Apfelbäume gehören dazu. Ihr Traum ist es, mit anderen zusammen solche Brachen zu bewirtschaften. Und der Stadt damit zu mehr Grün und mehr Biodiversität zu verhelfen.

Der im letzten Herbst angenommene Klimaartikel in der Gemeindeordnung sieht ausdrücklich, wenn auch vage vor: «Um den negativen Folgen des Klimawandels entgegenzuwirken, trifft die Stadt geeignete Massnahmen.» Die Gemeinde müsste also solche Brachen-Initiativen stadtweit fördern, findet Judith Stokvis: «Wir helfen ihr, ihre Klimaziele zu erreichen.»

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

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