Saiten: Im Herbst 2019 seid ihr angetreten, um das Museum Henry Dunant umfassend zu erneuern. Vor einem Jahr war grosse Wiedereröffnung. Seid ihr zufrieden mit dem Ergebnis?
Nadine Schneider: Sehr! Ich glaube, wir haben sogar unsere eigenen Erwartungen übertroffen. Die Rückmeldungen sind sehr gut, zum inhaltlichen Umgang ebenso wie zur Szenografie.
Kaba Rössler: Der Umwandlungsprozess ist zu 100 Prozent gelungen. Wenn man ein Museum neugestaltet – dieses Haus war ja nicht unser erstes –, schwingt immer eine gewisse Unsicherheit mit, ob die Analysen, die wir vorgenommen haben, zutreffen oder unsere Schlussfolgerungen daraus die richtigen sind. Es ist wie bei einem Massanzug, wo von der Stoffwahl über den Schnitt bis zur Näharbeit alles zusammenpassen muss.
Was für ein Haus habt ihr angetroffen, als ihr erstmals nach Heiden gekommen seid?
NS: Es war ein semiprofessionell geführtes Haus, das vor allem auf die Heldenfigur Dunant ausgerichtet war. Zum Beispiel war hier Dunants Arbeitszimmer nachgestellt, es hatte aber sehr wenig mit den Realitäten des Protagonisten zu tun, sondern war eine Art historisierende Kulissenausstellung.
KR: In diesem sogenannten «Dunant-Zimmer» gab es nur gerade eine Handvoll Originalobjekte wie Dunants roten Samtsessel oder seinen Spazierstock. Wir fragten uns, wie die Werte, die Dunant vertrat oder für die er zumindest so gerne zitiert wird, gezeigt werden könnten. Diese Inhalte wurden völlig unter ihrem Wert vermittelt.
NS: Ich sagte zunächst: Kaba, vergiss es, nicht mit mir. Diese Vitrinenausstellung, diese Art des Displays stammt aus dem vorletzten Jahrhundert. Wir entschieden uns dann doch dafür, uns zu bewerben, aber nur unter der Bedingung einer Co-Leitung – ausgeschrieben war lediglich eine 60-Prozent-Stelle – und dass wir das Museum gänzlich neu denken durften.
KR: Wir haben für diesen Auftrag auch Lohneinbussen und weitere Arbeitswege in Kauf genommen. (Kaba Rössler lebt im Kanton Glarus, Nadine Schneider in Zürich, beide arbeiteten zuvor in Aarau, Anm. d. Red.) Es gab praktisch kein Team, das Depot war irgendwo. Beim damaligen Vize- und heutigen Vereinspräsidenten und dem Vorstand stiessen wir auf offene Ohren. Sie haben sich darauf eingelassen.
… und waren auch bereit, entsprechend Gelder für eine Neuausrichtung aufzutreiben?
NS: Naja, das war zu einem stattlichen Teil schon auch unsere Aufgabe. Da konnten wir auch von unserem bisherigen Netzwerk profitieren.
KR: Eigentlich ist das nicht unsere Kernkompetenz, aber es war halt nötig, um konkret anfangen zu können.
Wie seid ihr vorgegangen? Wie erneuert man ein Museum?
KR: Auch auf unseren Vorschlag, den Prozess zu etappieren, ist der Vorstand überraschenderweise eingetreten. Im ersten Schritt analysierten und entwickelten wir eine Vision davon, was wir uns für das Museum in Zukunft vorstellten. Im zweiten Schritt projektierten wir einen Umbau, weil die bis dahin unzusammenhängenden Räume einen Museumsbetrieb erschwerten. Und im dritten Schritt kam die Neugestaltung der Ausstellung. Das ist ein unschweizerisches Vorgehen. Normalerweise organisiert man zuerst das Geld und dann fängt man an. Wir sind mit gerade mal 100'000 Franken gestartet.
NS: In einer Zwischennutzung während des Umbaus konnten wir mit verschiedenen Formaten experimentieren. Teilweise sind wir da recht weit gegangen und haben das Publikum vielleicht auch mal überfordert.
KR: Eine Künstlerin, die sich mit der Tierwürde auseinandersetzt, wollte Wachteln im Schaufenster halten, was aber aufgrund der Vogelgrippe nicht ging. Sie hat dann eine Art abstrakten Hühnerstall installiert. Das war vergleichsweise doch sehr weit entfernt von der traditionellen Vitrinenausstellung von früher.
NS: Ich würde ohne zu zögern wieder mit dieser Künstlerin zusammenarbeiten. Aber mittlerweile haben wir auch die neue, entschlackte und sehr zugängliche Dauerausstellung, da verträgt es vielleicht das eine oder andere Experiment mehr.
War die Kunstinstallation im Dunant-Plaza zu erklärungsbedürftig?
KR: Wir haben viel gelernt in der Aufbau- und Experimentierphase. Man kann zwar weit gehen, muss aber entsprechend Einstiegshilfe bieten.
Unser Verhältnis zu Dunant ist etwa so gespalten wie sein eigener Lebenslauf.
Seid ihr in den letzten sechseinhalb Jahren in eurer Arbeit der historischen Figur Henry Dunant nähergekommen? Oder ist sein Zauber verflogen? Habt ihr ihn vielleicht sogar bewusst entzaubert?
KR: Mit jedem Thema, mit dem man sich länger beschäftigt, hat man so seine Hochs und Tiefs. Wenn du dich fünf Jahre so intensiv mit einer Person beschäftigst, hast du irgendwann die Nase voll. Dunant hatte durchaus auch eine nervige Ader, er insistierte, stellte sich gerne in den Vordergrund.
NS: Den Nobelpreis erhielt der Rotkreuzgründer nicht einfach so. Er hat dafür geweibelt. Das kommt uns gerade in der heutigen Zeit bekannt vor ...
KR: Handkehrum haben wir uns auch immer wieder in seiner gebrochenen Persönlichkeit gefunden. Er hat erkannt, dass er Fehler gemacht hatte in seinem Leben. Er musste auch unten durch, hatte fast 20 Jahre lang keinen festen Wohnsitz, nächtigte bei Freund:innen oder in Paris auch mal unter den Brücken. Das macht ihn dann auch wieder nahbar.
NS: Seine Geschichte gibt auch Hoffnung. Eigene Fehler anerkennen, wieder aufstehen. Man kann als Einzelperson Grosses erreichen, wenn man andere von seiner Idee überzeugen kann. Irgendwann hat Dunant gemerkt, dass er kein geborener Geschäftsmann ist, sondern vielmehr ein Netzwerker, der das Feuer einer humanitären Idee in sich trägt. Ausserdem war er – in seiner eigenen paternalistischen Art – ein Frühfeminist. Er hat sich zum Beispiel immer für ein Frauenstimmrecht ausgesprochen.
KR: Aus heutiger Perspektive muss man diese Dinge auch relativieren. Aber aufgrund seiner familiären, vermutlich vor allem der mütterlichen Prägung, hatte er ein Herz für die Schwachen. Diese Menschlichkeit nehme ich ihm ab.
NS: Du siehst, unser Verhältnis zu Dunant ist etwa so gespalten wie sein eigener Lebenslauf.
Also wird es aus eurer Küche kein weiteres Dunant-Museum geben?
NS: Ich würde lieber zum Beispiel was über Bertha von Suttner machen, die österreichische Schriftstellerin und Pazifistin, die Henry Dunant ebenso stark inspiriert hat wie etwa Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Krankenpflege. Von Suttner war es im Übrigen auch, die den Dynamit-Erfinder Alfred Nobel dazu bewegte, nebst den Wissenschaftspreisen auch einen Friedenspreis zu stiften. Dunant verdankt ihr also sehr viel. Solche Frauenfiguren finde ich sehr spannend.
Man spürt es im Gespräch und sieht es auch in der Ausstellung: Ihr nehmt aktuelle Diskurse auf – Genderfragen, Kolonialismusdebatte etc. – und holt das historische Thema immer wieder in die Gegenwart. Man sieht den Direktor des St.Galler Kulturmuseums förmlich die Nase rümpfen. Kam nie der Vorwurf: «Ihr beackert bloss Modethemen, gebt uns den guten alten Dunant wieder zurück!»?
KR: Ich denke, wir gehen mit einer solchen Sorgfalt an die Themen heran, dass man uns diesen Vorwurf nicht machen kann. Abgesehen davon finde ich es ohnehin falsch, die Kolonialismusdebatte als Modethema zu betiteln. Ich glaube, wir gehen als Gesellschaft oft noch sehr unbedarft mit diesen Themen um.
NS: Und dass wir den Kolonialismus aufgreifen, liegt in erster Linie an Dunants Vita. Du musst dich damit auseinandersetzen, um seiner Biografie gerecht zu werden.
KR: Natürlich gabs die eine oder andere kritische Stimme von Leuten, die gerne wieder die reine Heldenerzählung im Museum vorgefunden hätten. Umgekehrt bekommen wir gerade von Rotkreuz-Engagierten, die seine humanitären Ideale leben, sehr schöne Rückmeldungen zu unserem kritischen Umgang mit Dunant.
NS: In den 1960ern war Dunant noch hip, alle wussten, wer er war. Wenn du heute Kinder nach ihm fragst, denken sie im besten Fall noch an den General mit ähnlichem Namen.
KR: Dass wir die historische Figur und ihr Werk in der Gegenwart verhandeln und an aktuellen Debatten spiegeln, trägt dazu bei, dass die humanitären Werte, für die Dunant bis heute steht, nicht verloren gehen.
NS: Das Dunant-Museum ist aber kein politischer Ort, wir können nur vermitteln, was auf der Welt passiert. Wir können es kommentieren oder kommentieren lassen.
Es ist gut, wenn das jemand anderes macht. Wir haben unseren Job hier getan.
Zurück zu euch: War von Anfang an vorgesehen, dass ihr nach sechseinhalb Jahren aufhört?
KR: Wir kamen ohne Ablaufdatum her. Wir hatten einfach grosse Lust, etwas für uns total Neues zu machen. Dann fanden wir mit der Vorarlbergerin Andrea Gassner eine tolle Szenografin, die uns noch weiter gepusht hat. In diesem Rahmen haben wir nie gesagt, wir sind nach fünf oder sieben Jahren weg.
NS: Wir entwickeln Ideen, schreiben Konzepte und setzen diese dann auch um. Das zeichnet unsere Arbeit aus. Oft werden diese Schritte an verschiedene Beteiligte verteilt. Wir wollten unsere angefangene Arbeit unbedingt abschliessen.
KR: Es gab diverse Herausforderungen. Corona kam, das Spital Heiden wurde geschlossen, weshalb eine Zeit lang unklar war, wie es mit der Liegenschaft des Dunant-Hauses weitergeht. Dafür heisst die Postautohaltestelle vor dem Haus jetzt nicht mehr «Heiden, Spital», sondern «Heiden, Dunant Museum». Die Strukturen der Trägerschaft sind seit Anbeginn ein Thema, das darf man auch mal sagen. Wir haben ein paar Zyklen durchgespielt und den Auftrag, das Museum neu zu kreieren und zu positionieren, erfolgreich abgeschlossen – mission accomplished.
NS: Und das, ohne gross Abstriche bei unseren Ideen machen zu müssen. Da müssen wir auch dem Vorstand ein Kränzlein winden, der immer mitgezogen hat.
Per Ende August ist definitiv Schluss für euch. Wie geht es eigentlich weiter mit dem Museum?
KR: Nach der Neugestaltung kommt die Konsolidierungsphase. Der Betrieb läuft. Man muss jetzt Mitarbeiter:innen mitnehmen und schulen, Kontakte ins Netzwerk pflegen, die Sammlung betreuen und inventarisieren, ein Programm erstellen – ein Museum führen! Die fortdauernde Finanzierung des Betriebs ist auch immer ein Thema. Es ist gut, wenn das jemand anderes macht. Wir haben unseren Job hier getan.
NS: Der reine Museumsbetrieb ist nicht, was uns reizt. Das haben wir lange gemacht. Allein in Heiden haben wir 13 Sonderausstellungen realisiert und rund 125 Veranstaltungen konzipiert.
Ist schon bekannt, wer die Leitung übernehmen wird?
KR: Der Vorstand bedingt sich hier noch ein bisschen Zeit aus. Aktuell wird ein Organisationsentwicklungsprozess durchgeführt, dabei geht es auch um die langfristige Finanzierung und um die neue Leitung.
NS: Die Mitarbeiter:innen können den Betrieb eine Zeit lang auch so aufrechterhalten. Es braucht jetzt auch nicht gleich eine neue Sonderausstellung.
Ihr seid damals von Aarau nach Heiden gekommen und habt mittlerweile euer Büro in St.Gallen eingerichtet. Ihr lebt aber in Glarus respektive in Zürich. Was hält euch in der Ostschweiz?
KR: Die Neupositionierung konnten wir ja nicht in diesen zweimal 30 Stellenprozent bewältigen. Einen grossen Teil haben wir über unsere Firma Imachine realisiert. Das Büro in St.Gallen ist unsere Homebase, es liegt geografisch gut für uns. Und wir haben die Stadt richtig liebgewonnen.
NS: Absolut, die Stadt hat kulturell und auch sonst viel zu bieten. Und ich habe imfall auch mal in Paris gearbeitet ...
Wie sehen eure Pläne aus?
KR: Dem Kultur- und Museumsbereich bleiben wir sicher verbunden. Wir haben einen Rucksack voll Projekte und Ideen. Wir müssen auch Geld verdienen, wollen uns aber erstmal ein bisschen Zeit lassen, und verschiedene Optionen prüfen. Diesen Zustand der Leere wollen wir auch aushalten, ja sogar geniessen, und nicht unbedacht ins nächste Projekt hineinspringen.
NS: Wir haben beide 150 Prozent gearbeitet in Heiden. Ein kleiner Break tut uns beiden gut.

Auf zu neuen Ufern: Nadine Schneider und Kaba Rössler bleiben der Ostschweiz erhalten, ihr Büro haben sie nach wie vor in St.Gallen.