Aus dem Jura gegen das Patriarchat

Im neuen Roman Gaslicht von Jessica Jurassica geht es um Trauma, Selbstheilung und die Dekonstruktion patriarchaler Strukturen. Ein herausfordernder, radikaler Text. 

Die Autorin Jessica Jurassica (Bild: Mia Naegeli)

Gas­licht. Bes­ser be­kannt als Gas­light oder to gas­light. Be­schreibt ei­ne Form von psy­chi­scher Ge­walt. Ge­nau­er: Das ge­ziel­te Ab­spre­chen von Emo­tio­nen und Er­fah­run­gen, bis Be­trof­fe­ne an ih­rer Wahr­neh­mung zwei­feln. Aus der Psy­cho­lo­gie ent­lehnt wird der Be­griff im po­pu­lär­kul­tu­rel­len Sprach­ge­brauch längst in­fla­tio­när ver­wen­det. Und viel­leicht ge­ra­de des­halb wählt die Schwei­zer Au­torin Jes­si­ca Ju­ras­si­ca, die ja sonst ein Fai­ble für An­gli­zis­men hat, das deut­sche Wort Gas­licht als Ti­tel für ihr Buch. Und: Der Ti­tel ist Pro­gramm.

Mehr zur Autorin

Jes­si­ca Ju­ras­si­ca (1993), auf­ge­wach­sen im Ap­pen­zel­ler­land, wohnt der­zeit in Ba­sel und ist Au­torin, Mu­si­ke­rin und Künst­le­rin. Ei­ner brei­ten Öf­fent­lich­keit wur­de sie im Jahr 2020 be­kannt: Im Selbst­ver­lag pu­bli­zier­te sie die ero­ti­sche Fan-Fik­ti­on Die ver­bo­tenste Frucht im Bun­des­haus, in der es um die se­xu­el­len Aben­teu­er des Bun­des­rats An­dré Bé­ret geht. Ihr ei­gent­li­ches Ro­man­de­büt Das Ide­al des Ka­put­ten er­schien 2021, jetzt hat sie mit Gas­licht ihr drit­tes Buch ver­öf­fent­licht, das die Wei­ter­ent­wick­lung ei­ner gleich­na­mi­gen Per­for­mance aus dem Jahr 2022 ist, wie die Au­torin auf An­fra­ge er­klärt.

Wie schon in Das Ide­al des Ka­put­ten steht im Zen­trum ei­ne na­men­lo­se Prot­ago­nis­tin mit un­ver­kenn­ba­ren Par­al­le­len zur Au­torin. Den­noch bleibt auch Gas­licht ein Ro­man und da­mit Fik­ti­on. Und ge­ra­de da­durch schafft sich Ju­ras­si­ca ei­nen Schutz­raum, um Trau­ma­ta li­te­ra­risch zu ver­ar­bei­ten, zu ent­gren­zen und zu sor­tie­ren, oh­ne sich da­bei selbst zu ent­blös­sen.

Sprung­haft und frag­men­ta­risch

In ge­wohnt lo­cke­rem Ton mit zahl­rei­chen pop­kul­tu­rel­len Re­fe­ren­zen und ei­nem Über­mass an An­gli­zis­men re­kon­stru­iert die Prot­ago­nis­tin ih­re ver­gan­ge­nen Ge­walt­er­fah­run­gen: ei­ne über­grif­fi­ge Be­zie­hung, Grenz­über­schrei­tun­gen im Be­rufs­le­ben, ih­re Rol­le in ei­nem Me­Too-Skan­dal, der die Schwei­zer Me­di­en we­nigs­tens tem­po­rär er­schüt­ter­te. 

Da­bei ver­wei­gert der Text je­de li­nea­re Ord­nung. Ort und Zeit sprin­gen schein­bar will­kür­lich hin und her: Von den Hoch­häu­sern Man­hat­tans geht es di­rekt zu den Hü­geln im Ap­pen­zel­ler­land. Sel­ten ist ein­deu­tig, wie die Er­eig­nis­se auf­ein­an­der­fol­gen, aber viel­leicht ist das auch völ­lig egal. Al­les hat ei­ne ge­wis­se Gleich­zei­tig­keit.

Die­se ra­di­ka­le Frag­men­tie­rung ist nicht Bei­werk, son­dern er­zäh­le­ri­sches Prin­zip. «Aber die Na­tur des Trau­mas war un­be­re­chen­bar ana­chro­nis­tisch, manch­mal war Trau­ma­ti­siert­sein wie Zeit­rei­sen – aber nicht das coo­le, auf­re­gen­de Zeit­rei­sen», heisst es ein­mal. Ju­ras­si­ca macht den psy­chi­schen Zu­stand des Trau­mas sprach­lich er­fahr­bar, doch so in­ten­diert die­se Er­zähl­form sein mag, sie macht es an­stren­gend, der Ge­schich­te zu fol­gen.

Trau­ma-Ar­chäo­lo­gie

Die Viel­zahl in­halt­li­cher Ebe­nen er­schwert den Zu­gang zum Text wei­ter: Ge­nea­lo­gie, Rei­sen, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, Selbst­re­fle­xi­on, Pop­kul­tur, fe­mi­nis­ti­sche Li­te­ra­tur und sach­buch­ar­ti­ge Kon­tex­tua­li­sie­run­gen. 

Es geht um vie­les. Und das ist viel­leicht auch die gros­se Schwä­che des Ro­mans. Denn längst nicht al­les gibt der Er­zäh­lung wirk­lich mehr Ge­halt. Strän­ge wie et­wa die ge­nea­lo­gi­schen Ex­kur­se wir­ken bei­läu­fig ein­ge­streut und fast schon über­flüs­sig. 

Be­son­ders ir­ri­tie­rend sind zu­nächst die wie­der­keh­ren­den Ein­schü­be, in de­nen sich die Prot­ago­nis­tin als ur­zeit­li­ches We­sen aus dem Ju­ra ima­gi­niert. Das ab­surd an­mu­ten­de Bild er­weist sich aber als stim­mi­ge Me­ta­pher: Die Prot­ago­nis­tin wird zur Ar­chäo­lo­gin ih­rer selbst und legt Schicht um Schicht Er­in­ne­run­gen frei, in de­ren Über­res­ten sich per­sön­li­che wie ge­sell­schaft­li­che Mus­ter ab­zeich­nen.

Dia­gno­se: Gas­light­ing

Letzt­end­lich ist die li­te­ra­ri­sche Auf­ar­bei­tung ih­rer Ge­schich­te für die Prot­ago­nis­tin ei­ne Form von Trau­ma­be­wäl­ti­gung. Mit je­der me­ta­pho­ri­schen Schicht, die sie ab­trägt, be­freit sie sich mehr und fin­det wie­der zu sich selbst. «Eins war ich und ich war Eins (…).»

Mit einer Klarheit, die der Erzählung sonst stellenweise fehlt, verknüpft Jurassica die persönlichen Erfahrungen mit struktureller Gesellschaftsanalyse. Und genau diese Transferleistung ist es, was letztendlich den Text ausmacht. Die Traumata der Protagonistin sind keine isolierten Einzelereignisse, sondern Symptome patriarchaler Machtverhältnisse: Strukturen, die Gewalt begünstigen, Täter schützen und diskriminierendes Verhalten normalisieren. 

Zugleich zeigt Jurassica, wie vermeintliche «Frauenthemen» in der öffentlichen Debatte oftmals eine Abwertung erfahren. Niemand spricht einem Fussballfan die Enttäuschung über den Abstieg seines Vereins ab. Ein erlebter Übergriff dagegen wird rasch relativiert, die Erfahrung als übertrieben abgetan und die betroffene Person als empfindlich dargestellt. Diese Abwertung ist Teil der Gewalt: Sie sorgt dafür, dass Betroffene verstummen – und genau hier setzt Gaslicht an.

Die literarische Form wird zum Widerstand. Sie macht sichtbar, wie sich gesellschaftliche Mechanismen auf subjektive Erfahrungen auswirken. Programmatisch skizziert Jurassica die Gesellschaft als «Gaslighting-Nation»: Eine, die lieber wegsieht, um sich dann kurz empört zu geben, bevor alles wieder seinen gewohnten Lauf nimmt. Die Diagnose sitzt und ist so radikal und unversöhnlich, wie der Roman selbst.

Jessica Jurassica: Gaslicht. Lectorbooks, Zürich 2025.
Performance von Jessica Jurassica, 20. September, 20 Uhr, Palace St.Gallen
saiten.ch/kalender

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