Während man sich hüben an den ersten «mediterranen» Nächten erfreut und die sonnigen Ferientage herbeisehnt, haut man sich drüben die Köpfe ein. Die lauen Sommergefühle vermischen sich dieser Tage ganz eigenartig mit dem Entsetzen über eine zunehmend kriegerische Welt. Was soll man tun? Einfach zum Wirtschaftsteil umblättern, auf den Schlagerkanal zappen, runterscrollen, bis nichts mehr kommt? Oder einfach nach Australien fliegen? Aber Down Under ist die Nachrichtenlage schliesslich dieselbe.
Wie soll man als im Prinzip unbescholtene:r, privilegierte:r Mitteleuropäer:in angemessen auf die Weltlage reagieren? Wir wissen nur so viel: lesen hilft, reden hilft. Hilft, die Gedanken zu sortieren, kurbelt die Kreativität an, um der eigenen Ohnmacht etwas Positives, etwas Sinnstiftendes entgegenhalten zu können, im eigenen Umfeld Gutes zu bewirken. Ablenkung und Zerstreuung ist wichtig, die Welt um sich herum dabei nicht zu vergessen, aber ebenso.
Unangenehmes einfach auszublenden, hat noch niemanden weitergebracht. Das gilt zum Beispiel auch für Museen. Beim Kulturmuseum St.Gallen wurde schon öfters die Zurückhaltung im Umgang mit dem eigenen historisch belasteten Erbe in der Sammlung kritisiert. Zwar kam es in der Vergangenheit schon zu Rückgaben und wird aktuell die Geschichte der Ostschweizerischen Geographisch-Commerciellen Gesellschaft, deren Sammlung vor über 100 Jahren die Basis für die Museumsgründung bildete, aufgearbeitet. Im Herbst gibt es eine Ausstellung dazu. Auch bei der Benin-Initiative Schweiz ist man beteiligt. Doch nach aussen kommuniziert wird in dieser Hinsicht so gut wie gar nicht, es wirkt, als ob man sich fürs eigene Engagement schäme. Man will offensichtlich kein Modeopfer zeitgeistiger Wokeness-Debatten werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass seit der Einsetzung des neuen Direktoriums 2021 sechs Personen das Museum verlassen haben, darunter die Ethnologin und der Provenienzforscher, die sich beide stark – eventuell zu stark? – für eine kritische fachliche Aufarbeitung der Sammlungsgeschichte engagierten. Für Saiten Grund genug, beim Kulturmuseum und in dessen Umfeld einmal eine Bestandesaufnahme zu versuchen und nachzufragen, wie es tatsächlich um die Bereitschaft zu einem offenen Dialog steht. Die Recherche gibts ab Seite 14.
Ausserdem im Sommerheft: die Auslegeordnung zu den Chancen, welche die aktuelle Frauenfussball-EM für den Sport vor Ort mit sich bringt, die finale Saitenlinie-Kolumne von Nathalie Grand, eine historische Recherche über reichsdeutsche und nationalsozialistische Umtriebe in der Ostschweiz, die Flaschenpost aus Armenien, und – wie gewohnt – die Saiten-Sommerkulturtipps für alle Daheimgebliebenen und Zurückgelassenen, die sich dieser Tage in hiesigen Breiten etwas Gutes tun wollen.
Erspriessliche Lektüre, erbauliche Gespräche und guten Sommer wünscht das Saiten-Team!
Roman Hertler
Der Inhalt:
Positionen
«Bei uns wird das Velo für politische Stimmungsmache missbraucht»
Redeplatz mit Michael Städler
Saitenlinie (zum letzten Mal): Kunterbunt aus dem Abseits
von Nathalie Grand
24/7 Traumacore: I will (never) choose you over medicine </3
von Mia Nägeli
Stimmrecht: Es ist Lesezeit!
von Liliia Matviiv
Perspektiven
Kulturmuseum St.Gallen: In neuem Licht – mit neuen Schatten
Seit dem Stellenantritt von Direktor Peter Fux vor vier Jahren arbeitet das Kulturmuseum St.Gallen an seiner Neuausrichtung. Es verzeichnet erste Erfolge, lässt aber auch Fragen offen– etwa bei der Aufarbeitung des kolonialen Erbes und bei der Personalpolitik. Anmerkungen zum Stand der Dinge im Kulturmuseum. von Roman Hertler


Fussball-EM der Frauen
Eine Chance für den Frauenfussball – wenn man sie nutzt: Im Juli findet die Fussball-Europameisterschaft der Frauen in der Schweiz statt. Die Euphorie ist gross, die Erwartungen sind hoch. Doch wie nachhaltig ist dieses Turnier wirklich für den hiesigen Frauenfussball? von David Gadze
«Es braucht eine Umgebung, in der sich Mädchen und Frauen wohlfühlen»: Wir haben bei Lea Cermusoni, Verantwortliche Mädchen und junge Frauen im Sport beim Bundesamt für Sport, nachgefragt, was es braucht, um Mädchen für Sport zu begeistern und sie nachhaltig zu fördern. von Daria Frick

Foto aus einer «Blick»-Bildreportage vom Hallentraining des DFC Zürich 1976. (Bild: aus dem Buch Das Recht zu kicken - Die Geschichte des Schweizer Frauenfussballs)
Flaschenpost aus Armenien: Eine Tragödie – in den Medien nur eine Randnotiz. von Brigitte Schmid-Gugler
Die Ostschweiz im Dritten Reich (VI): Behördenverbote und Mordanschlag – NS-Organisationen in der Ostschweiz
Trotz der Bereitschaft hierzulande, dem nördlichen Nachbarn entgegenzukommen: Die National-sozialisten hatten es nicht nur leicht im Osten der Schweiz. 1936 wurde der Schweizer NSDAP-Landesleiter in Davos erschossen. von Cenk Akdoganbulut

Mitten im Zweiten Weltkrieg, aber nicht etwa in Deutschland, sondern in St.Gallen: Nationalsozialist:innen feiern 1942 im Schützengarten-Saal den Tag der Deutschen Arbeit. (Bild: Staatsarchiv St.Gallen)
Kultur
Sommertipps
Saiten präsentiert Sommertipps: Rundgänge, Konzerte, Kinoabende, Ausstellungen und Lese-stoff für die Daheimgebliebenen. von Eva Bachmann, Richard Butz, Sandra Čubranović, Daria Frick, David Gadze, Roman Hertler, Andreas Kneubühler, Inge Lütt, Kristin Schmidt, Peter Surber und Florian Vetsch.
Plattentipps: Analog im Juli und August. von Lidija Dragojević, Tobias Imbach und Philipp Buob
Fabriken schauen (IV): Grosse Mocken – frühe Architekten von René Hornung
Boulevard: Weg und doch nicht weg. von Josip Gossip
Abgesang
Kellers Geschichten: Schlossgespenster. von Stefan Keller
Comic (oder eben nicht) von Julia Kubik: Feriengrüsse aus St.Fiden