Acht Kurzgeschichten verspricht der Band Das kleine Lied der Freiheit von Ursula Trunz, und bereits nach der ersten bleibt man ein wenig ratlos zurück, denn sie endet abrupt. Doch dieses Gefühl verfliegt beim Weiterlesen sofort, denn man versteht, dass sie längst noch nicht abgeschlossen ist – sie wird weitergeführt, nur aus einer anderen Perspektive. Und so verwebt Trunz ihre Geschichten, die nicht isoliert voneinander stehen, aber doch von verschiedenen Personen handeln, sich zwar immer wieder treffen, überschneiden, ergänzen. Ein ausgesprochen intelligenter Erzählstil, der an Daniel Kehlmanns Ruhm erinnert, aber bei Weitem besser gelingt. Was bei Kehlmann hölzern und konstruiert erscheint, gelingt Trunz mit Eleganz und Leichtigkeit.
So treffen wir auf diesen 200 Seiten verschiedene Charaktere, die alle einen Bezug zu der kleinen Stadt «am Rande der Alpen», St. Gallen, haben. Eine Stadt, die «so nüchtern» sei, «dass es manchmal knistere». Und doch schreibt Trunz eine Liebeserklärung, gespickt mit historischen Fakten führt sie durch die Gassen, über Treppen, vorbei an Brunnen, durch Schluchten und über Plätze und lädt damit ein, St. Gallen noch einmal neu, durch ihren Blick, zu entdecken.
Unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche Generationen
Wir treffen hier auf Professor Wolfsberger, der an Demenz erkrankt, und seine Frau Gertrud, die in Reisereportagen ihrem tristen Hausfrauenalltag entflieht. Wir reisen mit ihnen gemeinsam nach Rom und wieder zurück, dann wechselt die Erzählperspektive zu Doris, die in London und Paris Karriere als Grafikerin machte und mit ihrer Partnerin Severin nach St. Gallen zurückkehrte – Doris ist die beste Freundin von Gertrud. Von ihr springt die Erzählung zu Lara, Gertruds Enkelin, die für ein Auslandsemester an die Universität St. Gallen kommt und bei ihrem Onkel lebt. Er heisst Lukas, ist Physik-lehrer und scheint ein wenig verloren in seiner eigenen Biografie, die ihren Tiefpunkt in einer Nacht im Gefängnis findet. Man fragt sich, warum ausgerechnet seine Geschichte aus der Ich-Perspektive verfasst wird, während alle anderen eine neutrale Erzählperspektive erhalten. Vielleicht ist es deshalb, weil letztlich bei ihm alle Fäden zusammenlaufen? Am Ende treffen wir nämlich noch auf Ada, eine Filmemacherin, die im Norden mit ihrem Mann Joseph eine kleine Pension führt.
Es irritiert, dass Lukas, einem Mann, diese Hervorhebung zugesprochen wird. Denn eigentlich erzählen diese Geschichten von Frauenleben in ihren unterschiedlichen Facetten. Sie zeigen uns verschiedene Ängste und Einschränkungen, führen uns durch Lebensentwürfe der unterschiedlichen Art und zeigen Themen der verschiedenen Generationen auf. Andererseits: Warum auch nicht? Ein feministischer Text muss männliche Ansichten ja nicht zwangsläufig aussortieren oder abschwächen, sondern kann sich gut von ihnen tragen lassen. Es ist also sehr verbindend und doch wird ein feministischer Ton immer wieder sehr konkret und auch auf der Metaebene deutlich.
Während sich Gertrud für ihre Familie aufopfert und nicht nur um ihren Mann trauert, den sie immer mehr an die Demenz verliert, sondern «vielleicht auch um das Leben, das sie nicht geführt hat». In ihrer Freundin Doris lernen wir einen Gegenentwurf kennen, eine Frau, die sich mit aller Kraft aus den Fesseln ihrer katholischen Erziehung befreit, die ihr einbläut: «Glaubt ja nicht, ihr seid etwas Besonderes!» Und die zeit ihres Lebens in der Angst lebt, «nicht zu genügen».
Ada verkörpert eine neue Generation, sie könnte die Tochter der beiden vorhin Genannten sein. Und auch sie kennt diese Angst des Nicht-Genügens und kompensiert mit einem verbissenen Karrierismus, der sich erst legt, als sie ihre grosse Liebe Joseph trifft. Dieses zarte Kennenlernen und deren Liebe werden wahnsinnig schön und warm beschrieben, ohne in kitschige Romanzen abzuschweifen. Auch hier zeigt sich die psychologische Ebene, die sich durch den gesamten Text zieht, und man bekommt quasi nebenbei das Geheimrezept für eine gelungene Beziehung geschenkt: «Eine Behutsamkeit, die nicht auf bewusster Absprache beruht, sondern die sich einfach durch das Zusammensein ergibt und dadurch kostbar wird.» Und letztlich sehen wir in Lara, die der Generation Z angehört, die Ziellosigkeit und Unsicherheit, die es erschweren, den eigenen Weg zu finden.
Anregungen über den Text hinaus
Neben diesen psychologischen Analysen, die sehr einfühlsam und warmherzig erfolgen, gibt es im Text immer wieder kleine Kulturtipps. So gibt es neben historischen Fakten zur Geschichte St. Gallens auch Buchempfehlungen wie Arno Geigers Der alte König in seinem Exil oder Verweise auf die Lyrikerin Hilde Domin. Es gibt musikalische Hinweise von Schostakowitsch über die Beatles bis hin zum lokalen Liedermacher Manuel Stahlberger. Literarisch lesenswert machen diesen Text aber die wunderbar bildhaften Beschreibungen, in die man sich hineinträumen möchte. Ein kleiner Teaser? Bitteschön: «Ein ziemlich starker Wind treibt an diesem späten Vormittag ausgefranste Wolkenfetzen wie ungewaschene Hemden vor sich her und drückt die Gräser, kaum sind sie aufgestanden, wieder flach, ihre Unterseiten glänzen silbern.»
Mit Das kleine Lied der Freiheit ist Trunz ein intelligenter und vielseitiger Text gelungen, dessen Herz in der Heimat schlägt und der weit darüber hinaus fliegt, durch verschiedene Zeitebenen und über Landesgrenzen hinweg. Er zeigt das Altern, das Sterben, das Leben und das Lieben auf, ist erzähltechnisch spannend komponiert und trotz seiner Kürze an keiner Stelle zu wenig. Eine absolute Empfehlung!
Ursula Trunz: Das kleine Lied der Freiheit. edition 8, Zürich 2025. Vernissage: 22. Oktober, 19 Uhr, Raum für Literatur, Hauptpost, St.Gallen (moderiert von Richard Butz).
edition8.ch