Grosse Erzählkunst in acht Etappen

Viola Poli, 1992, zeigt im Bücherherbst Abdrücke von Wildsalbeiblättern auf mit Bienenwachs getränkten Stoffen sowie Biokunststoffe aus Asche und Holzkohle. Damit möchte sie ökologische Fragen thematisieren und eine Perspektive fernab der menschlichen einnehmen.

Mit ihrem literarischen Debüt Das kleine Lied der Freiheit gelingt Ursula Trunz ein kleines Gesamtkunstwerk von einzelnen Geschichten, die geschickt miteinander verwoben sind. Sie erzählen ungemein intelligent, feministisch und warmherzig über unterschiedliche Generationen sowie das Leben im Allgemeinen.

Acht Kurz­ge­schich­ten ver­spricht der Band Das klei­ne Lied der Frei­heit von Ur­su­la Trunz, und be­reits nach der ers­ten bleibt man ein we­nig rat­los zu­rück, denn sie en­det ab­rupt. Doch die­ses Ge­fühl ver­fliegt beim Wei­ter­le­sen so­fort, denn man ver­steht, dass sie längst noch nicht ab­ge­schlos­sen ist – sie wird wei­ter­ge­führt, nur aus ei­ner an­de­ren Per­spek­ti­ve. Und so ver­webt Trunz ih­re Ge­schich­ten, die nicht iso­liert von­ein­an­der ste­hen, aber doch von ver­schie­de­nen Per­so­nen han­deln, sich zwar im­mer wie­der tref­fen, über­schnei­den, er­gän­zen. Ein aus­ge­spro­chen in­tel­li­gen­ter Er­zähl­stil, der an Da­ni­el Kehl­manns Ruhm er­in­nert, aber bei Wei­tem bes­ser ge­lingt. Was bei Kehl­mann höl­zern und kon­stru­iert er­scheint, ge­lingt Trunz mit Ele­ganz und Leich­tig­keit.

So tref­fen wir auf die­sen 200 Sei­ten ver­schie­de­ne Cha­rak­te­re, die al­le ei­nen Be­zug zu der klei­nen Stadt «am Ran­de der Al­pen», St. Gal­len, ha­ben. Ei­ne Stadt, die «so nüch­tern» sei, «dass es manch­mal knis­te­re». Und doch schreibt Trunz ei­ne Lie­bes­er­klä­rung, ge­spickt mit his­to­ri­schen Fak­ten führt sie durch die Gas­sen, über Trep­pen, vor­bei an Brun­nen, durch Schluch­ten und über Plät­ze und lädt da­mit ein, St. Gal­len noch ein­mal neu, durch ih­ren Blick, zu ent­de­cken.

Un­ter­schied­li­che Per­spek­ti­ven, un­ter­schied­li­che Ge­ne­ra­tio­nen

Wir tref­fen hier auf Pro­fes­sor Wolfs­ber­ger, der an De­menz er­krankt, und sei­ne Frau Ger­trud, die in Rei­se­re­por­ta­gen ih­rem tris­ten Haus­frau­en­all­tag ent­flieht. Wir rei­sen mit ih­nen ge­mein­sam nach Rom und wie­der zu­rück, dann wech­selt die Er­zähl­per­spek­ti­ve zu Do­ris, die in Lon­don und Pa­ris Kar­rie­re als Gra­fi­ke­rin mach­te und mit ih­rer Part­ne­rin Se­ve­rin nach St. Gal­len zu­rück­kehr­te – Do­ris ist die bes­te Freun­din von Ger­trud. Von ihr springt die Er­zäh­lung zu La­ra, Ger­truds En­ke­lin, die für ein Aus­land­se­mes­ter an die Uni­ver­si­tät St. Gal­len kommt und bei ih­rem On­kel lebt. Er heisst Lu­kas, ist Phy­sik-leh­rer und scheint ein we­nig ver­lo­ren in sei­ner ei­ge­nen Bio­gra­fie, die ih­ren Tief­punkt in ei­ner Nacht im Ge­fäng­nis fin­det. Man fragt sich, war­um aus­ge­rech­net sei­ne Ge­schich­te aus der Ich-Per­spek­ti­ve ver­fasst wird, wäh­rend al­le an­de­ren ei­ne neu­tra­le Er­zähl­per­spek­ti­ve er­hal­ten. Viel­leicht ist es des­halb, weil letzt­lich bei ihm al­le Fä­den zu­sam­men­lau­fen? Am En­de tref­fen wir näm­lich noch auf Ada, ei­ne Fil­me­ma­che­rin, die im Nor­den mit ih­rem Mann Jo­seph ei­ne klei­ne Pen­si­on führt.

Es ir­ri­tiert, dass Lu­kas, ei­nem Mann, die­se Her­vor­he­bung zu­ge­spro­chen wird. Denn ei­gent­lich er­zäh­len die­se Ge­schich­ten von Frau­en­le­ben in ih­ren un­ter­schied­li­chen Fa­cet­ten. Sie zei­gen uns ver­schie­de­ne Ängs­te und Ein­schrän­kun­gen, füh­ren uns durch Le­bens­ent­wür­fe der un­ter­schied­li­chen Art und zei­gen The­men der ver­schie­de­nen Ge­ne­ra­tio­nen auf. An­de­rer­seits: War­um auch nicht? Ein fe­mi­nis­ti­scher Text muss männ­li­che An­sich­ten ja nicht zwangs­läu­fig aus­sor­tie­ren oder ab­schwä­chen, son­dern kann sich gut von ih­nen tra­gen las­sen. Es ist al­so sehr ver­bin­dend und doch wird ein  fe­mi­nis­ti­scher Ton im­mer wie­der sehr kon­kret und auch auf der Me­ta­ebe­ne deut­lich.

Wäh­rend sich Ger­trud für ih­re Fa­mi­lie auf­op­fert und nicht nur um ih­ren Mann trau­ert, den sie im­mer mehr an die De­menz ver­liert, son­dern «viel­leicht auch um das Le­ben, das sie nicht ge­führt hat». In ih­rer Freun­din Do­ris ler­nen wir ei­nen Ge­gen­ent­wurf ken­nen, ei­ne Frau, die sich mit al­ler Kraft aus den Fes­seln ih­rer ka­tho­li­schen Er­zie­hung be­freit, die ihr ein­bläut: «Glaubt ja nicht, ihr seid et­was Be­son­de­res!» Und die zeit ih­res Le­bens in der Angst lebt, «nicht zu ge­nü­gen».

Ada ver­kör­pert ei­ne neue Ge­ne­ra­ti­on, sie könn­te die Toch­ter der bei­den vor­hin Ge­nann­ten sein. Und auch sie kennt die­se Angst des Nicht-Ge­nü­gens und kom­pen­siert mit ei­nem ver­bis­se­nen Kar­rie­ris­mus, der sich erst legt, als sie ih­re gros­se Lie­be Jo­seph trifft. Die­ses zar­te Ken­nen­ler­nen und de­ren Lie­be wer­den wahn­sin­nig schön und warm be­schrie­ben, oh­ne in kit­schi­ge Ro­man­zen ab­zu­schwei­fen. Auch hier zeigt sich die psy­cho­lo­gi­sche Ebe­ne, die sich durch den ge­sam­ten Text zieht, und man be­kommt qua­si ne­ben­bei das Ge­heim­re­zept für ei­ne ge­lun­ge­ne Be­zie­hung ge­schenkt: «Ei­ne Be­hut­sam­keit, die nicht auf be­wuss­ter Ab­spra­che be­ruht, son­dern die sich ein­fach durch das Zu­sam­men­sein er­gibt und da­durch kost­bar wird.» Und letzt­lich se­hen wir in La­ra, die der Ge­ne­ra­ti­on Z an­ge­hört, die Ziel­lo­sig­keit und Un­si­cher­heit, die es er­schwe­ren, den ei­ge­nen Weg zu fin­den.

An­re­gun­gen über den Text hin­aus

Ne­ben die­sen psy­cho­lo­gi­schen Ana­ly­sen, die sehr ein­fühl­sam und warm­her­zig er­fol­gen, gibt es im Text im­mer wie­der klei­ne Kul­tur­tipps. So gibt es ne­ben his­to­ri­schen Fak­ten zur Ge­schich­te St. Gal­lens auch Buch­emp­feh­lun­gen wie Ar­no Gei­gers Der al­te Kö­nig in sei­nem Exil oder Ver­wei­se auf die Ly­ri­ke­rin Hil­de Do­min. Es gibt mu­si­ka­li­sche Hin­wei­se von Schost­a­ko­witsch über die Beat­les bis hin zum lo­ka­len Lie­der­ma­cher Ma­nu­el Stahl­ber­ger. Li­te­ra­risch le­sens­wert ma­chen die­sen Text aber die wun­der­bar bild­haf­ten Be­schrei­bun­gen, in die man sich hin­ein­träu­men möch­te. Ein klei­ner Teaser? Bit­te­schön: «Ein ziem­lich star­ker Wind treibt an die­sem spä­ten Vor­mit­tag aus­ge­frans­te Wol­ken­fet­zen wie un­ge­wa­sche­ne Hem­den vor sich her und drückt die Grä­ser, kaum sind sie auf­ge­stan­den, wie­der flach, ih­re Un­ter­sei­ten glän­zen sil­bern.»

Mit Das klei­ne Lied der Frei­heit ist Trunz ein in­tel­li­gen­ter und viel­sei­ti­ger Text ge­lun­gen, des­sen Herz in der Hei­mat schlägt und der weit dar­über hin­aus fliegt, durch ver­schie­de­ne Zeit­ebe­nen und über Lan­des­gren­zen hin­weg. Er zeigt das Al­tern, das Ster­ben, das Le­ben und das Lie­ben auf, ist er­zähl­tech­nisch span­nend kom­po­niert und trotz sei­ner Kür­ze an kei­ner Stel­le zu we­nig. Ei­ne ab­so­lu­te Emp­feh­lung!

Ur­su­la Trunz: Das klei­ne Lied der Frei­heit. edi­ti­on 8, Zü­rich 2025. Ver­nis­sa­ge: 22. Ok­to­ber, 19 Uhr, Raum für Li­te­ra­tur, Haupt­post, St.Gal­len (mo­de­riert von Ri­chard Butz).
edi­ti­on8.ch
 

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